Innovation

Freiraum für glückliche Zufälle

08.10.2013 von Andreas Zeuch
W. L. Gore ließ einen Mitarbeiter haltbare Bowdenzüge entwickeln - und erlangte dadurch die Marktführerschaft für Gitarrensaiten. Andreas Zeuch über Möglichkeitsräume.
Andreas Zeuch ist freiberuflicher Berater, Trainer, Coach und Speaker.
Foto: Dr. Andreas Zeuch

Ich weiß nicht, ob Sie das durch und durch innovative Unternehmen W. L. Gore kennen. Aber sicherlich kennen Sie Gore-Tex, eines seiner weltweit erfolgreichsten Produkte. Das Gewebe wird in Jacken und Schuhen verbaut, so dass wasserdichte aber dampfdurchlässige Produkte entstehen, die wir alle mittlerweile schätzen.

W. L. Gore stellt aber noch weitaus mehr her, auch in völlig anderen Marktsegmenten. Die Erfolgsgeschichte eines Produktes illustriert das, was ich in dieser Kolumne als "Möglichkeitsräume" vorstelle und kurz erläutere.

Bei W. L. Gore gibt es die "Steckenpferdzeit": Die Mitarbeiter dürfen bis zu 20 Prozent ihrer Arbeitszeit, also bei einer 5-Tage-Woche bis zu einem Arbeitstag, in die Vorbereitung und Durchführung eigener, selbstgewählter Projekte investieren. In diesem Möglichkeitsraum dürfen die Mitarbeiter ihren Leidenschaften nachgehen und kreativ sein. Sie müssen nicht wie sonst ihre täglichen Aufgaben abarbeiten.

Auf diese Weise entstand unter anderem ein äußerst erfolgreiches Produkt: Ein Mitarbeiter wollte als leidenschaftlicher Fahrradfahrer eigentlich teflonbeschichtete Bowdenzüge entwickeln, die einerseits nicht so schnell rosten und andererseits besser über Kanten gleiten, an denen sie umgelenkt werden. Die Idee klang gut, konnte aber nicht realisiert werden. Stattdessen wurde die Idee geboren, Gitarrensaiten mit Teflon zu ummanteln. Der Sinn bestand darin, dass sie dann länger brillant klingen als die marktüblichen, aus Metall gewickelten Saiten. Denn in den kleinen Rillen der bis dahin gängigen Seiten sammelte sich schnell eine Mischung aus Staub, Schweiß und Hautpartikeln, die dazu führt, dass die Saiten bald die Brillanz Ihres Klanges einbüßen und häufig gewechselt werden müssen.

Durch die Teflonbeschichtung gelang es, diese Verschmutzung zu verhindern, so dass die Saiten wesentlich länger gut klangen als unbeschichtete Saiten. Das Ergebnis war die Gitarrensaite Elixier, die sich lange zum Marktführer in der Musikinstrumentenbranche entwickelte - ein Gebiet, auf dem W. L. Gore bis dahin nie tätig war und auch niemals laut Planung hätte tätig werden wollen.

"Seien Sie doch mal realistisch!"

Um dauerhaft innovativ sein zu können, um schnell und flexibel auf Veränderungen des Marktes reagieren zu können, brauchen Mitarbeiter Freiräume, in denen sie sich nicht nur mit dem "Wirklichen" beschäftigen, dem was ist, sondern auch frei darüber sinnieren können, was möglich sein könnte. Das klingt im ersten Moment vielleicht sonderbar, ist aber vielmehr eine ganz banale Rechnung: Produkte, die wir heute als selbstverständliche Wirklichkeit ansehen, waren früher nur Ideen, Möglichkeiten, teils als etwas Verrücktes, Spinnertes verlacht. Die Wirklichkeit von heute gründet auf der Möglichkeit von gestern. Nur wer sich frei machen kann und darf von der Fixierung auf das Wirkliche ("Herr Müller, seien Sie doch mal realistisch!") hat die Chance, etwas Neues, Innovatives hervorzubringen. Wir brauchen also einen Möglichkeitssinn.

Dieser Möglichkeitssinn ist das intuitive Gespür für das Mögliche. Damit sich dieser Sinn entfalten kann, brauchen wir in Unternehmen Möglichkeitsräume. Sie sind das unbedingte Gegenstück zum Möglichkeitssinn. Diese Räume öffnen sich auf drei unterschiedlichen Ebenen:

  1. Individuum

  2. Kultur

  3. Struktur

Die erste Ebene betrifft uns Menschen, jeden einzelnen von uns. Wir müssen uns zunächst selbst den Möglichkeitsraum zugestehen, ihn aufbauen und pflegen. Konkret heißt das, uns selbst zu erlauben, nicht nur "Wirklichkeiten" wahrzunehmen, in ihnen zu denken und zu handeln, sondern auch die potentiellen Möglichkeiten gleichberechtigt daneben zu stellen. Wir sollten eigenverantwortlich damit anfangen, uns selbst den Raum zu geben, unseren natürlichen Möglichkeitssinn zu leben. Fast jedes Kind ist da kraftvoller als so manch ein Manager, der eigentlich viel mehr bewegen könnte. Das, was bei fast allen von uns verschütt gegangen ist, müssen wir wieder zurückholen in unser Leben und unsere Arbeit. Wir müssen uns, wenn wir Fortschritt wollen, Räume in uns selbst geben.

Zweitens brauchen wir Möglichkeitsräume als kulturelles Merkmal zwischen den Akteuren in unseren Unternehmen. Es muss selbstverständlich sein, gedanklich aus der „harten“ Wirklichkeit auszubrechen, um wenigstens für eine gewisse Zeit die individuellen Möglichkeitsräume zu betreten. Dort können wir dann die innovative Kraft träumerischer Leidenschaft freisetzen. Und es bedarf einer entsprechenden Einsicht, dass Zufälle und Fehler einen nicht planbaren Mehrwert für das Unternehmen bedeuten können. Nur wenn wir diese Haltung den Zufällen und Fehlern gegenüber einnehmen, können wir sie mit entsprechender Achtsamkeit auch für uns nutzen. Wir müssen uns Räume zwischen uns geben.

Letztlich müssen wir auf der strukturellen Ebene konsequent sein. Das heißt Zeit und Ressourcen in angemessenem Umfang zur Verfügung zu stellen. Wenn Sie das Konzept der Möglichkeitsräume ernst meinen, brauchen Ihre Mitarbeiter Freiraum in ihrer Arbeitszeit, in dem Sie Ihren Interessen und Leidenschaften nachgehen können. Eine Zeit, in der Ihre Mitarbeiter eigene Ideen entwickeln und Testprojekte auf- und umsetzen können. Logischerweise müssen Ihre Mitarbeiter ab einem gewissen Punkt auch Mitstreiter für Ihre Ideen gewinnen dürfen, die wiederum Ihre Möglichkeitsräume zur Verfügung stellen. Und es muss möglich sein, unbürokratisch an ein bestimmtes Maß an finanziellen Mitteln heranzukommen, um kleine Experimente und erste Entwicklungsversuche durchführen zu können ohne vorherige Rechtfertigungsorgien über ein halbes Dutzend Hierarchieebenen.

Glückliche Zufälle und Fehler erkennen

Wir brauchen die individuellen, kulturellen und strukturellen Möglichkeitsräume, um Fortschritt erst zu träumen, dann zu denken und schließlich experimentierend umsetzen zu können. Dieser Fortschritt ist eine Art unternehmerischer Evolution. In diesem Sinne brauchen wir ebenso Räume, um glückliche Zufälle sowie Fehler zu erkennen und nutzen zu können, so wie das bei der Gitarrensaite Elixier möglich war, oder bei den bekannten Post-It, die ihren gescheiterten Anfang als "Superkleber" nahmen und bis heute zu den erfolgreichsten fünf Büroprodukten in Amerika gehören. Die finanzielle Investition in Möglichkeitsräume macht sich bezahlt.

Andreas Zeuch promovierte in Erwachsenenbildung über das Training professioneller Intuition. Er arbeitet seit dem Jahr 2003 als freiberuflicher Berater, Trainer, Coach und Speaker mit dem Schwerpunkt unternehmerischer Entscheidungen und Managementinnovation.