Mitarbeiter gut vorbereitet

Industrie 4.0 verändert nicht viel

09.06.2016 von Christoph Lixenfeld
Chefs sollten ihre Leute in punkto Industrie 4.0 nicht unterschätzen: Wie eine Untersuchung zeigt, sind deutsche Arbeitnehmer dem Thema mehr als gewachsen.
  • Professorin Sabine Pfeiffer von der Uni Hohenheim hält "siebzig Prozent der Aufregung um den Begriff Industrie 4.0 für reinen Hype"
  • Viele Arbeitnehmer müssen bereits heute täglich mit Elementen des 4.0-Wandels umgehen
  • Das Gros der Automatisierungen in den Fabriken liegt nicht vor, sondern bereits hinter uns

Immer wenn Marketingstrategen ihrer Zielgruppe klarmachen wollen, dass bei einem Thema nichts mehr wie vorher ist, dass ein epochaler Wandel kurz bevorsteht oder bereits stattgefunden hat, dann kommt die Allzweckwaffe Punkt-Null ins Spiel.

Angefangen hatte es mit "Web 2.0". Die Steigerung war notwendig geworden, nachdem die Vorgängerversion - also quasi das "Web 1.0" - durch den Crash der New Economy einen massiven Imageschaden erlitten hatte.

Die Soziologie-Professorin Sabine Pfeiffer von der Uni Hohenheim rät Chefs dazu, ihrem Team beim Thema Industrie 4.0 mehr zuzutrauen.
Foto: Andreas Amann

Für die nächste Stufe - die 3.0 - gab und gibt es inflationär viele Beispiele. Angefangen von Deutsch 3.0 des Goetheinstituts, dem Kongress Leben 3.0 oder dem technischen Standard USB 3.0. Und nicht zu vergessen: Im April verkündete die ARD, ab Sommer 2015 gebe es die Tagesschau 3.0. Gemeint ist damit die Verwendung von digitalen Avataren, die statt realen Menschen die Nachrichten vorlesen.

Vier Punkt Null will folglich noch einen draufsetzen, und "Industrie 4.0" suggeriert, man könne nicht nur das Internet, sondern auch die Warenproduktion komplett neu erfinden. Und zwar indem man sie intelligent mit IT-Lösungen und softwaregestützten Steuerelementen verknüpft. Sabine Pfeiffer von der Universität Hohenheim glaubt nicht, dass Herstellungsprozesse im Rahmen der aktuellen Diskussion gänzlich neu erfinden lassen. "Ökonomen und IT-ler unterschätzen die stoffliche Seite von Produktion."

Fast alles ist bereits automatisiert

Pfeiffer kennt diese Seite. Die gelernte Werkzeugmacherin und Professorin für Arbeits- und Industriesoziologie forscht seit Mitte der neunziger Jahre zum Wandel von Arbeit und zur Frage, was das Internet und neue Formen der Digitalisierung für Qualifikation und Beschäftigung bedeuten.

Im Rahmen der aktuellen Untersuchung "Der AV-Index. Lebendiges Arbeitsvermögen und Erfahrung als Ressourcen auf dem Weg zu Industrie 4.0" hat sich Pfeiffer gemeinsam mit ihrer Kollegin Anne Suphan der Frage gewidmet, wie gut Belegschaften auf Veränderungen in der Warenproduktion vorbereitet sind.

IT-Skills für die Digitalisierung
8 neue Mitarbeiter-Rollen
Laut Forrester brauchen IT-Abteilungen Beratungsfähigkeiten und übergreifende Zusammenarbeit. Das erfordert politisches Fingerspitzengefühl und Methodenkompetenz.
1. Beziehungsmanager
Die IT stellt Partnerschaft und Austausch zwischen Informationstechnologie und Business sicher. Sie übersetzt zwischen den beiden Seiten und bildet die Unternehmensziele technologisch ab. Im Zeitalter des Kunden bedeutet das vor allem mehr Beschäftigung mit Daten über die Verbraucher.
2. Architekt
In der Rolle des Architekten geht es konkret um das Entwickeln von Standards für Daten, Anwendungen und mobile Endgeräte. Das beinhaltet die Beobachtung der Konkurrenz und das Aufdecken neuer Kundengruppen.
3. Projekt- und Programm-Manager
Immer mehr Projekte starten von vornherein als abteilungsübergreifende Vorhaben. Hier ist nicht selten politisches Gespür gefragt.
6. Daten-Experte
Daten sind über das ganze Unternehmen verstreut. Der Daten-Experte wahrt dennoch die Kontrolle und erklärt jeder einzelnen Anwender-Gruppe, was sie mit welchen Daten tun darf und was nicht. Das beinhaltet Expertise in Daten-Tools, Methoden, dem Status jeder einzelnen Datenquelle und Einblick in die Geschäftsprozesse.
7. Geschäftsprozess-Designer
Unternehmen kaufen Anwendungen und setzen sie an allen Standorten ein. Geschäftsprozess-Designer sorgen für die Balance zwischen der Anpassung der Systeme und der Anpassung der Prozesse.
8. Sicherheitsexperte
Sicherheit ist nicht nur ein Thema von Regeln und Überwachung, sondern auch von Soft Skills. Security-Experten verdeutlichen der Belegschaft, warum sie nicht an der IT vorbeiarbeiten dürfen.
4. Vendor Manager
Der Vendor Manager entwickelt sich zunehmend zum Berater. Fachabteilungen interessieren sich üblicherweise nur für Funktionalitäten und kaum für Sicherheit. Der Vendor Manager schon.
5. Experte für Nutzer-Erfahrung
Die IT muss durch die Brille des Endverbrauchers beziehungsweise Unternehmenskunden sehen können. Das erfordert enge Zusammenarbeit mit den Kollegen im direkten Kundenkontakt.

Wichtig ist ihr zunächst die Feststellung, dass keine Industrie in nächster Zukunft gänzlich ohne Menschen auskommen wird. "Anzunehmen, das Gros der aktuellen Tätigkeiten in einer Fabrik seien Stumpfe Routinejobs und deshalb wegrationalisierbar, ist ein Irrtum."

Denn fast alle Abläufe, die sich in einer Fabrik automatisieren lassen, seien bereits automatisiert, so die Soziologin. "Und geschehen ist das lange bevor es den Begriff Industrie 4.0 gab. In der aktuellen Diskussion wird dagegen oft so getan, als hätte es bisher keinen Wandel gegeben, als ständen wir jetzt plötzlich vor dieser sagenhaften Herausforderung."

Mit mehr Industrie besser durch die Krise

Davon kann in der Tat keine Rede sein: Gegen den Rationalisierungs- und Verlagerungssturm, den die deutsche Industrie in den 1960er und 1970er Jahren erlebte, sind die aktuellen Umwälzungen - jedenfalls was ihre quantitativen und gesellschaftlichen Effekte angeht -eher ein laues Lüftchen.

Folglich hält Sabine Pfeiffer "siebzig Prozent der Aufregung um den Begriff Industrie 4.0 für reinen Hype".

Roboter spielen in der Industrie eine immer größere Rolle. Trotzdem wird auch in Zukunft keine Fabrik ganz ohne Menschen auskommen.
Foto: Oliver Sved/Shutterstock.com

Neu allerdings sei das weltweit wiedererwachte Interesse an der Industrie. Jahrzehntelang galt das Mantra, dass wir uns unaufhaltsam in eine Dienstleistungsgesellschaft verwandeln und die Industrie als Phänomen vergangener Epochen bald gänzlich hinter uns lassen werden.

Doch die Finanzkrise ab 2007 sorgte für einen nachhaltigen Stimmungswandel, weil sich dabei herausstellte, dass Länder mit starker industrieller Basis - allen voran Deutschland - die Turbulenzen deutlich besser überstanden als andere.

Hype um Industrie 4.0 nützt vor allem Marketing-Interessen

Entscheidender Teil der viel diskutierten Wortkombination ist also "Industrie" und nicht etwa der Fortsatz "4.0."

Der nützt vor allem Beratern und Lösungsanbietern, die ein Interesse daran haben, anstehende Veränderungen und ihre Notwendigkeit zu überhöhen. Viele Chefs glauben ihnen - und unterschätzen zugleich die Vier-Punkt-Null-Fitness ihrer Belegschaft.

Sabine Pfeiffer ärgert dabei vor allem die gängige Defizitdiskussion: "Firmenchefs sagen: Mein Enkel kann mit dem Tablet umgehen, aber ob mein Facharbeiter das kann, da habe ich meine Zweifel. Das ist der völlig falsche Ansatz. Weil Computersteuerung und Digitalisierung in der Produktion schrittweise Einzug halten, machen die Mitarbeiter mit ihrem Erfahrungswissen vieles Neue automatisch richtig."

Industrie 4.0 bedeutet in der Praxis vor allem, dass sich viele Abläufe selbst steuern. Bosch ist auf diesem Gebiet einer der Vorreiter in Deutschland.
Foto: Bosch

Im Rahmen der bereits angesprochenen Untersuchung hat Sabine Pfeiffer erforscht, wie viele Arbeitnehmer bereits heute täglich mit Elementen des 4.0-Wandels umgehen müssen.

Ergebnis: Über alle Branchen hinweg sind es 71, im Maschinenbau sogar 81 Prozent. Hinzu kommt: 67 Prozent der Beschäftigten verfügen mindestens über eine duale Ausbildung, haben also eine Lehre absolviert oder sogar ein Studium. Auch dadurch sieht Sabine Pfeiffer deutsche Arbeitnehmer besonders gut aufgestellt.

Dienstleistung verändert sich nachhaltiger

Dass sich für viele Beschäftigte durch Industrie 4.0 kurzfristig nicht so viel ändert, bedeutet allerdings nicht, dass Robotik und Digitalisierung keine Veränderungen bewirken. Nur wirken die sich eben weniger auf die tägliche Arbeit eines deutschen Fabrikarbeiters aus und mehr auf globale Unternehmensstrategien, so Sabine Pfeiffer. "Heute sind ganze Industrieparks zentral steuerbar, weil die Technik dazu preiswert ist und überall gleich funktioniert."

Deshalb ist es leichter denn je, eine ganze Fabrik in kurzer Zeit in ein anderes Land zu verlagern. Darüber hinaus wird Automatisierung dort nachhaltige Wirkung entfalten, wo sie noch nicht weit fortgeschritten ist, nämlich in der Dienstleistungsbranche. Man denke nur an den globalen Mitfahr- und Transportdienstleister Uber. Oder an Airbnb, den Vermittler von Privatunterkünften.

Durch die Kombination von Internet und Smartphone lässt sich eben so ziemlich alles auf der Welt skalieren, also ein standardisiertes Massengeschäft verwandeln. Und das wird die Welt vermutlich deutlich mehr verändern, als es Industrie 4.0 je vermag.

Industrie 4.0 - Leitfaden für CIOs
Industrie 4.0 - Leitfaden für CIOs
Stephen Prentice (Gartner) legt den IT-Verantwortlichen zwölf Dinge ans Herz, die sie für den IT-Beitrag zu Industrie 4.0 beachten beziehungsweise tun sollten:
1. Nur keine Panik!
Industrie 4.0 ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Die gute Nachricht: Wenn man nicht so genau sieht, wo es hingeht, kann man bislang auch nicht wirklich eine Gelegenheit verpasst haben.
2. Integrieren Sie Informationstechnik und operationale Technik!
Unter operationaler Technik (OT) versteht Gartner Ingenieurtechnik mit einer Langzeitperspektive. Sie liefert Information über das, was im Inneren der Produktionssysteme vor sich geht. Dabei ist sie digital, aber nicht integriert.
3. Steigern Sie den Reifegrad Ihres Fertigungsprozesses!
Lernen Sie Ihre Mitspieler auf der Produktionsseite kennen. Verstehen Sie deren Sorgen und Hoffnungen und planen Sie den gemeinsamen Fortschritt auf einem fünfstufigen Weg.
4. Integrieren Sie Ihre Informations-Assets!
Reißen Sie Ihre Silos nieder und öffnen Sie Ihre Unternehmenssysteme auch für externe Informationsquellen: Wetterdaten, Social Media etc. "Ihre wertvollsten Daten könnten von außerhalb Ihres Unternehmens stammen", konstatierte Gartner-Analyst Prentice.
5. Verinnerlichen Sie das Internet der Dinge!
Das Internet of Things (IoT) ist der international gebräuchliche Begriff für das, was die Grundlage der Industrie 4.0 - und des digitalen Business - bildet.
6. Experimentieren Sie mit Smart Machines!
Virtuelle Assistenten für die Entscheidungsunterstützung, neuronale Netze, cyber-physikalische Systeme, Roboter und 3D-Druck mögen aus der heutigen Perspektive noch als Spielerei erscheinen. Aber es lohnt sich, ihre Möglichkeiten auszuloten.
8. Scheuen Sie sich nicht, den Maschinen ein paar Entscheidungen anzuvertrauen!
Der Fachbegriff dafür ist Advance Automated Decision Making. Es gibt schon einige Bereiche, wo Maschinen statt des Menschen entscheiden, beispielsweise bei der Einparkhilfe für Kraftfahrzeuge.
9. Denken Sie wirklich alles neu!
Jedes Produkt, jeder Service, jeder Prozess und jedes Device wird früher oder später digital sein. Denken Sie sich einfach mal Sensoren und Connectivity zu allem hinzu.
10. Führen Sie bimodale IT ein!
Die Koexistenz zweier kohärenter IT-Modi (einer auf Zuverlässigkeit, einer auf Agilität getrimmt) gehört zu den Lieblingsideen der Gartner-Analysten. Stabilität und Schnelligkeit lassen sich so in der jeweils angemessenen "Geschwindigkeit" vorantreiben.
11. Kollaborieren Sie!
Werden Sie ein Anwalt für Industrie 4.0. Schließen Sie sich Peer Groups, Konsortien und Standardisierungsgremien an. Denn die besten Ideen müssen nicht zwangsläufig aus dem eigenen Unternehmen kommen.
12. Halten Sie die Augen offen!
Die Dinge verändern sich - ständig. Erfolgreiche Unternehmen wie Google und Amazon wissen das. Sie sind immer auf der Suche nach neuen Entwicklungen und Möglichkeiten.
7. Werden Sie ein Digital Business Leader!
Der CIO sollte sich für das digitale Business engagieren. Dazu muss er aber seinen Elfenbeinturm verlassen. Denken Sie von innen nach außen, rief Prentice die IT-Chefs auf, und verbringen Sie etwa 30 Prozent Ihrer Arbeitszeit mit Menschen von außerhalb Ihrer Organisation.