Einzelhandel

IT macht Druck

02.05.2003 von Lars Reppesgaard
Mit Preisschlachten und Billigoffensiven versuchen Deutschlands Handelshäuser auch in Krisenzeiten gute Umsätze zu machen - und sind dabei mehr denn je auf scharf eingestellte Warenwirtschaftssysteme und auf ein reibungsloses Supply Chain Management angewiesen.

König Kunde kauft nur noch das Nötigste. Laut einer Untersuchung des Allensbach-Instituts stellt derzeit jeder dritte Bundesbürger größere Anschaffungen zurück. Und wenn man einkauft, dann so billig wie möglich, frei nach den Mottos: "Wir sind doch nicht blöd" und "Geiz ist geil" - allerdings nur für die Verbraucher. Ruinöse Preiskämpfe bescheren dem Einzelhandel laut Mercer Management Consulting eine fundamentale Krise. Deutsche Handelsunternehmen haben es schwerer denn je zu überleben. Sie arbeiten - anders als die US-amerikanische und britische Konkurrenz - seit Jahren ineffizient und wachsen langsamer als die Gesamtwirtschaft. Die mageren Margen in der Branche, die schon vor der Ramschwelle nur zwischen einem halben und anderthalb Prozent lagen, sind auf einen historischen Tiefststand gefallen; der Gesamthandelsumsatz sank 2002 um drei Prozent.

Doch es gibt auch Handelskonzerne, die trotz Krise zulegen. Klare Umsatzgewinner des vergangenen Jahres seien die Discounter, so das Frankfurter Beratungshaus M+M Eurodata: Lidl, Netto und Norma haben Kunden dazugewonnen, und Aldi als Klassenbester steigerte den Umsatz um satte 11,9 Prozent auf 21,6 Milliarden Euro. Auch der Umsatz der Elektronikmärkte Media-Markt und Saturn Hansa, beides Tochterunternehmen der Metro AG, wuchs zweistellig.

Erfolgskritische IT im Einzelhandel

Nach Meinung von Handelsexperten haben die CIOs der Retail-Riesen an diesen Erfolgen großen Anteil. Denn mithilfe kluger IT-Lösungen lassen sich die Preise drücken und gleichzeitig die entscheidenden Margenprozente herauskitzeln, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Gerade der Einsatz leistungsstarker Warenwirtschaftssysteme und ein smartes Supply Chain Management machen die genannten Unternehmen stark.

Die anglo-amerikanische Konkurrenz dient hier als Vorbild. Wal-Mart-Gründer Sam Walton fuhr früher von Supermarkt zu Supermarkt, um akribisch alle Einzelheiten über jedes Produkt, jeden Preis und jeden Konkurrenten seiner Märkte in Erfahrung zu bringen. Aus dem Impuls, das eigene Geschäft so gut wie möglich zu kennen, entstand bei Wal-Mart das vier Milliarden Dollar teure Warenwirtschaftssystem Retail Link. Die Datenbank der Zentrale in Bentonville im US-Bundesstaat Arkansas wird Nacht für Nacht mit den Verkaufszahlen aller Produkte sämtlicher Filialen gefüttert. Mehr als 200 Terabyte Einkaufsdaten lassen sich so nach geografischen oder demografischen Kriterien, Farben oder Packungsgrößen auswerten. Filialmanager nutzen die Datenbank, um zu sehen, ob sich etwa ein T-Shirt in Grün oder in Weiß besser verkauft, bestücken ihr Sortiment entsprechend und initialisieren automatisch Frachtorders. So stimmen die Angebote - und die Preise, denn hohe Prozesskosten fallen mit der digitalen Sortimentsteuerung, ganz ohne aufwendige telefonische Disposition, nicht an. Als ebenso vorbildlich gilt die Fähigkeit der britischen Supermarktkette Tesco, mit IT-Unterstützung die Preise schlank zu halten. Tesco operiert mit einem Kundenkartensystem, das eine gezielte Käuferansprache ermöglicht.

Zwar ist in Deutschland die bipolare Anbindung von Handelspartnern via EDI - statt über eine zentrale Handelsplattformen - weit verbreitet. In Sachen Supply Chain herrscht aber vielfach Nachholbedarf. "Die historisch gewachsene Systemlandschaft ist heterogen, arbeitet nicht vernetzt und blockiert an vielen Stellen wichtige Automations- und Effizienzsteigerungspotenziale", heißt es in einer Accenture-Studie. Und: "Wer sein Unternehmen nicht umfassend und zielgerichtet restrukturiert, wird über kurz oder lang von Innovationsführern aus dem In- und Ausland verdrängt."

Metro spart 150 Millionen Euro

Logistikzentrale auf eigene Beine gestellt

Das mit dem Deutschen Logistikpreis ausgezeichnete Supply-Chain-Konzept von Metro markiert einen Paradigmenwechsel im Lieferkettenmanagement. Wie viele Mitbewerber verfügte auch der Handelsriese lange über kein System für die Steuerung der Warenströme. Die gut 8000 Metro-Lieferanten arbeiteten mit mehr als 1000 verschiedenen Logistikern zusammen. 50 Millionen Aufträge und Lieferungen fielen jährlich an. Das Chaos an den Rampen der Logistikzentren und der rund 1700 Einkaufsmärkte war vorprogrammiert.

Statt die Hoheit über Lieferwege und -termine weiter externen Dienstleistern zu überlassen, holt Metro heute sämtliche Waren selbst ab. Als Zentrale fungiert dabei die ausgegründete Metro MGL Logistik GmbH. Sie fasst die Warenströme informationstechnisch zusammen und verteilt alle anfallenden Touren auf eine Hand voll ausgewählter Spediteure. Dazu ist neben neu entwickelten Managementprozessen ein starkes IT-System erforderlich.

Make or Buy? - diese Frage stellten sich vor zwei Jahren auch die Metro-Verantwortlichen. Gegen eine Standardsoftware sprach, dass keine verfügbare Lösung das zentralisierte Lieferantenmodell abbilden konnte. Heute arbeiten die Metro-Mitarbeiter mit einem Front-end, das aus eigenentwickelten Dialog-systemen der MGL besteht. Die Anwendung Logis beispielsweise fasst die Wareneingangsdaten zusammen. Sie erlaubt es, die Abrechnungen mit den Lieferanten abzuwickeln, aber auch Liefertreue und Pünktlichkeit zu prüfen.

Über die Dialogsysteme tätigen die einzelnen Filialmanager Bestellungen. Dabei greifen sie auf die Daten der Metro-Warenwirtschaft zu. Stammdaten und Informationen aus den Sendungs-, Rechnungs- und EDI-Systemen werden zentral vorgehalten. Die MGL ist eine Art Drehscheibe für die Informationsverarbeitung in der gesamten Lieferkette, inklusive der beteiligten Zulieferer. SAP-Werkzeuge durchleuchten beim Controlling die Datensätze.

Mit dem neuen Logistikkonzept steigerte der Handelsriese nach eigenen Angaben die durchschnittliche Anliefermenge von nur einer Palette auf derzeit etwa 30 Paletten je Lkw-Stopp. Bei Textilien sind pro Fracht aus 40 Einzelteilen 400 Hängeteile geworden. Fahrerlöhne und Energiekosten sinken, weil die Lkw besser gepackt sind und schneller entladen werden. Eine Termintreue von 98 Prozent ermöglicht es Metro heute, zu jeder Zeit genau das anzubieten, was bei den Kunden gefragt ist. Das hat dem Konzern geholfen, den Umsatz 2002 um vier Prozent auf 51,5 Milliarden Euro zu steigern. Dieses Jahr will Metro um fünf weitere Prozent wachsen.

Patriarchat bremst Innovation

"Im deutschen Einzelhandel gibt es einen großen informationstechnischen Nachholbedarf", konstatiert Volker Koch, Berater bei M+M Eurodata. Eine geringere Technologieaffinität der Unternehmen als in den USA und Großbritannien, zu der auch die familiäre Eignerstruktur vieler Handelshäuser beitrage, ist nach seiner Einschätzung einer der Gründe für diesen Rückstand. Das ist zwar menschlich, macht das Manko für das Geschäft aber nicht weniger gravierend. Der frühere CIO einer deutschen Lebensmittelkette scheiterte just an diesem Punkt: Er konnte seine Modernisierungsvorhaben gegenüber den Inhabern nicht durchsetzen - und musste gehen. Einen Nachfolger gibt es bis heute nicht.

Kennzahlen statt Intuition

Eine transparente Warenwirtschaft ist zudem die Voraussetzung, um den Erfolg von Kundenbindungsprogrammen wie Coupon-Aktionen, Rabattangeboten oder Kundenkarten zu messen. Vielerorts ist der Mercer-Untersuchung zufolge die Gestaltung der Preise und des Sortiments mangels detaillierter Kenntnisse über die Kunden und ihr Kaufverhalten ineffizient. Preisentscheidungen würden "auf Basis von Erfahrung und Intuition" gefällt. Erfolg versprechender wäre es sicher, sie auf Grundlage konkreter Kennzahlen zu treffen. Die Unternehmensberater von McKinsey gehen davon aus, dass "der Beitrag des Supply-Chain-Programms zur Ertragssteigerung bis zu ein Prozent" betragen kann. Horst Wildemann, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der TU München und Inhaber der Beratungsgesellschaft für Logistik und Technologiemanagement TWC, hält es sogar für realistisch, die Umsatzrendite durch eine gut geschmierte Lieferkette um bis zu zwei Prozent zu steigern. Das würde vielen Handelsgrößen angesichts der schmalen Margen aus der Bredouille helfen. "Wer heute IT-Systeme unter dem Aspekt der Rationalisierung einführt, ist von gestern", betont Logistikexperte Wildemann. "Es geht darum, Kostenzuwächse zu vermeiden und konkurrenzfähig zu sein. Die IT-Systeme haben sich zu Wettbewerbsinstrumenten gewandelt."

Welchen Nachteil das Fehlen solcher Werkzeuge darstellt, ist bei der genossenschaftlich organisierten Supermarktkette Edeka erkennbar. Derzeit gibt es kein einheitliches Warenwirtschaftssystem und kein gruppenübergreifendes Logistikkonzept für die rund 10000 Geschäfte. Obwohl der Lebensmittelhändler mit fast 33 Milliarden Euro Umsatz zu den Marktführern hierzulande zählt, kann er diese Größe nur selten ausspielen. Zwar gibt es eine zentrale Einkaufsorganisation in der Genossenschaftszentrale in Hamburg. Doch die Regionalgesellschaften sind unabhängig, kaufen oft dezentral und nicht IT-gestützt ein und lassen sich nicht gemeinsam beliefern. Handelsexperten schätzen, dass der Kette so jedes Jahr weit mehr als 100 Millionen Euro verloren gehen.

Edeka kämpft um den Anschluss

Mächtige Regionalfürsten verhinderten bislang, dass die IT bundesweit vereinheitlicht wird. Stattdessen sind lokale IT-Verbünde wie in der Edeka-Regionalorganisation Minden-Hannover entstanden. Die Warenwirtschaft dort wird gerade auf SAP umgestellt. Bis Mitte 2004 soll der Rollout des Lagerverwaltungsystems Wamas aus dem österreichischen Softwarehaus Salomon Automation abgeschlossen sein. Die Edeka Minden-Hannover IT-/Logistic-Service GmbH hat zudem ein eigenes Logistiksystem aufgebaut. "Rund ein halbes Dutzend wild gewachsener Systeme mussten im Sinne des Supply-Chain-Gedankens integriert werden", sagt Geschäftsführer Josef Schulte.

Die Software haben die Genossen nach ergebnislosen Gesprächen mit Anbietern wie SAP und I2 Technologies selbst programmiert. Wenn es nach Schulte geht, wird das lokale SCM-System Vorbildcharakter für die gesamte Genossenschaft haben. "Ich will aus unserer Entwicklung einen nationalen Standard für Edeka machen."

Angesichts der Krise hat sich mittlerweile auch bei Edeka die Erkenntnis durchgesetzt, dass man nachbessern muss. Eine nationale IT-Gesellschaft befindet sich im Aufbau. Die Zentrale in Hamburg bemüht sich darüber hinaus um eine konzernweite IT-Lösung unter einem SAP-Dach. Noch dieses Jahr soll die Entscheidung über den Technikpartner fallen; bis Ende 2005 will Edeka dann ein bundesweit einheitliches Lieferkettenmanagement nutzen.

Die Umstellung kommt spät, aber sie kommt. Eine Alternative gebe es ohnehin nicht, versichern Experten. "Mache ich nichts und wurschtele weiter, werde ich mich gegenüber den Wettbewerbern weiter verschlechtern", resümiert M+M-Berater Koch. Die nächste Geizwelle würde Edeka dann wohl noch teurer zu stehen kommen.

Anwendungsbeispiel: Die Karstadt-Quelle-Töchter Wehmeyer und Sinn-Leffers:Geschwindigkeit in der Mode