Volkswagen

IT schiebt den neuen Golf an

03.11.2003 von Heinrich Seeger
Seit Mitte Oktober ist die fünfte Golf-Generation im Handel. Entwicklung und Produktion des Volumenmodells, mit dessen Erfolg die künftigen Geschicke des VW-Konzerns eng verknüpft sind, stellen für die IT unter CIO Dieter Schacher eine große Herausforderung dar.

Das wichtigste Projekt des Volkswagen-Konzerns nach dem Golf I vor 29 Jahren im Umriss: Verkaufsstart war am 17. Oktober, 135000 Autos sollen noch in diesem, 600 000 im kommenden Jahr gebaut werden. Die Fertigungsprozesse im Wolfsburger Stammwerk, in Mosel bei Zwickau und in Brüssel müssen standardisiert ablaufen, damit der Golf in Fahrt kommt - aber auch, um möglichst viele Komponenten und Prozesselemente für die anderen Modelle von New Beetle bis Touran verwenden zu können, die auf derselben Plattform basieren wie der "A5" - unter diesem Code rangiert der Golf V intern.

In Wolfsburg schaut gegenwärtig alles gebannt auf den neuen Kompaktwagen. An einen Flop mag man am Mittellandkanal nicht denken, denn Euro-Stärke, Konjunkturschwäche und hohe Produktentwicklungskosten haben den Ertrag von Europas größtem Autokonzern gedrückt, seit Vorstandschef Bernd Pischetsrieder im April letzten Jahres an Bord kam. Der Golf soll es richten, und nicht nur das Werk, die ganze Stadt fiebert mit: Für die Markteinführung hat sich Wolfsburg ganz ernsthaft in "Golfsburg" umbenannt - mit breiter Zustimmung der Einwohner, dem Segen von Bürgermeister Rolf ("Golf") Schnellecke und mit überklebten Ortsschildern.

60 Prozent IT-Aktivitäten für die Marke VW

Volkswagen beschäftigt aber nicht nur eine kreative Marketingabteilung, sondern auch mehr als 7000 IT-Fachkräfte - einschließlich derer, die bei der IT-Tochter Gedas konzerninterne Aufgaben erfüllen. Volkswagens Konzern-CIO Dieter Schacher verdeutlicht die Prioritäten: "60 Prozent der IT-Aktivitäten bindet die Marke VW."Der verbleibende Block entfällt auf Konzerntöchter und -aktivitäten, die nicht unmittelbar etwas mit der Entwicklung und Herstellung der Fahrzeuge zu tun haben: die Marken Audi, VW und Seat etwa oder die Volkswagen-eigene Kreditbank.

Fünf Leute verantworten die Informationsverarbeitung, die auf Vorstandsseite bei Jens Neumann im Ressort Konzernstrategie, Treasury, Recht und Organisation aufgehängt ist: Schacher als Leiter Führungsorganisation und Systeme, Audi-CIO Klaus-Hardy Mühleck, der neue Gedas-Vorstandschef Axel Knobe, Werner Carstengerdes mit Verantwortung für Technik und Betrieb und Sven-Torsten Huster, der IT-Chef der Volkswagen-Bank.

Schachers Regime umfasst die Informationssysteme für die Produktentstehung (Entwicklung) unter Trac Tang und die Produktherstellung (Fertigung) unter Uwe Schulte, ferner für Vermarktung, administrative Prozesse sowie für Technik und Betrieb. Dazu kommen die horizontalen Einheiten Geschäftsprozessorganisation, Strukturorganisation, Informatikzentrum einschließlich der Sicherheitssysteme und Controlling. "Die VW-IT ist an Prozessen, nicht an Funktionen orientiert", umreißt Schacher das Organisationsprinzip.

Die Virtualisierung hat freilich ihre Grenzen, räumt Schacher ein: "Ein Auto muss von echten Menschen 'er-fahren' werden, um seine inneren Werte preiszugeben. Das 'Popometer' kann man nicht ersetzen."

Für Uwe Schulte sind permanente Verbesserungen im Fertigungsprozess nicht zu ersetzen. Sein Königsprojekt heißt FIS, die Integration von Auftragsmanagement und -durchführung. Der Chef der Fertigungs-IT: "Das Ziel sind einheitliche Prozesse und Systeme in den fahrzeugbauenden Werken." 28 davon betreibt Volkswagen, in 23 sei FIS bereits Realität. "So konsequent wie beim Golf ist FIS bisher nicht umgesetzt worden", betont Schulte.

99,9 Prozent Verfügbarkeit reichen nicht

FIS soll die Fertigungsabläufe stabilisieren; wie sonst nirgends können im Geschäft mit dem teuren Massengut Auto Ausfälle die Bilanz verhageln. Schulte: "99,9 Prozent Verfügbarkeit reichen nicht; das würde immer noch einen Verlust in zweistelliger Millionen-Euro-Höhe pro Jahr bedeuten." Für die Golf-Fertigung hat Schultes‘ Mannschaft darum ein neues Notfallkonzept entwickelt, um Verzögerungen zu minimieren, wenn die Bänder wirklich mal stehen. Das Wiederaufsetzkonzept ist als Blaupause für den Konzern angelegt, so Schulte, "es wird sukzessive für alle Fahrzeugmodelle eingeführt".

Fast noch gefährlicher als stillstehende sind Produktionsbänder, die Ausschuss produzieren. VW hat deshalb beim Touran ein neues Qualitätssicherungskonzept eingeführt, das nun in der Golf-Fertigung seine Feuertaufe bestehen muss. Die Qualität eines Fahrzeugs wird, über den gesamten Fertigungsprozess vom Rohbau bis zum Roll-out, auf jeder Stufe geprüft, nicht erst bei der Endabnahme. "Das ist noch keine so häufig genutzte Fertigungstechnik", betont Schacher. Schulte erläutert: "An den Montagelinien oder an Arbeitsstationen erfassen Mitarbeiter mit Pocket-PCs Fehler an den Fahrzeugen. Die Informationen werden sofort an die Verursacher zurückgemeldet, so dass die Ursachen abgestellt werden können." Der Effekt laut Schulte: Fehler in der Fertigung fielen früher auf, die "Feedback-Loop" verkürze sich. "Unter dem Strich rechnet sich der Aufwand für die Qualitätssicherung - obwohl dafür eigens Kräfte nach dem Konzerntarif "5000 mal 5000" beschäftigt werden.

Fehlerrisiko mit totaler Kontrolle verringern

Auch im Logistikzentrum des Konzerns seien Prozesse für den Golf V neu gestaltet worden, berichtet Schacher. Kommissioniert werde nach dem Warenkorbprinzip: "Alle Teile für den Wagen von Herrn Meier aus Buxtehude werden in einen Transportbehälter gepackt und ans Band geliefert." Bisher steckte in den komplexen Teilelisten jedoch Fehlerpotenzial. Deshalb verfährt VW heute nach dem Prinzip "Pick to Light": Trifft ein Auftrag ein, blinkt ein Layout von Lämpchen auf, eines an jedem Vorratskasten, aus dem ein Teil benötigt wird. Erst wenn das Teil herausgenommen wurde, erlischt das Licht. Sind alle Lichter aus, kommt der nächste Auftrag rein. Totale Prozesskontrolle, das Fehlerrisiko tendiert gegen Null.

Weiter hinten in der Lieferkette wird ebenfalls konsequent kontrolliert; auf Volumenvereinbarungen mag sich VW bei kritischen Bauteilen auf Dauer nicht verlassen. Für den Golf kommen 200 Bauteile Just in Time; interne Komponentenwerke, etwa das Braunschweiger Achsenwerk, werden direkt aus der Produktion gesteuert.

Am Ende räumt der kühle Planer Schacher ein: "Der Golf überstrahlt durch seine Projektgröße alle anderen Fahrzeuge."