Agile Methoden als Vorbild

Lean Change Management und dynamische Gleichgewichte

31.05.2019 von Dana Nitzsche und Dustin Huptas
Der digitale Wandel sorgt für eine steigende Veränderungsdynamik, mit der Unternehmen Schritt halten müssen. Die Zukunft gehört dem Lean Change Management, den dynamischen Gleichgewichten und einer Kultur der kontinuierlichen Veränderung.
In der digitalen Transformation gilt es, die Prinzipien von agiler Softwareentwicklung und Lean Startup auf unternehmensweite Veränderungsprozesse zu übertragen.
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Die Zeiten, in denen neue Produkte und Geschäftsideen noch langwierig und kostspielig entwickelt beziehungsweise umgesetzt werden konnten, sind vorbei. Schon das 2001 veröffentlichte Manifest für Agile Softwareentwicklung hat das angedeutet. Heute sind vier Eckpfeiler der agilen Methode auch für das Change Management relevant: das iterative Vorgehen, das Arbeiten an Inkrementen, die Partizipation der Entwickler an der fachlichen Ausgestaltung und die Retrospektive nach jedem Sprint.

Vier zentrale Elemente der agilen Entwicklung

Lean Startup

Das Agile Manifest hat viel mit dem etwas später eingeführten Lean-Startup-Ansatz gemeinsam. Der von Eric Ries geprägte Begriff Lean Startup kombiniert ausgewählte Prinzipien der agilen Vorgehensweise mit Lean-Manufacturing-Ideen aus den 90er-Jahren und inzwischen auch mit neueren Methoden wie Design Thinking.

Schlanke Prozesse und ein iteratives, kundenzentriertes Testen gestatten es, schnell und bei überschaubaren Kosten herauszufinden, ob ein Produkt oder Service markttauglich ist. Zu den Kernaspekten von Lean Startup, die für ein modernes Change Management bedeutsam sind, zählen Validated Learning, das Minimum Viable Product und der Build-Measure-Learn-Zyklus:

Herausfinden, was funktioniert - schneller als der Wettbewerb

Die Ansätze der agilen Softwareentwicklung und des Lean Startup legen den Fokus darauf, durch kurze Entwicklungszyklen schnell zu lernen und Feedback aus dem Markt frühzeitig einzuarbeiten. Dieses iterative Vorgehen minimiert Risiken und Unsicherheiten, und es eröffnet die Möglichkeit, kontinuierlich auf neue Erkenntnisse und äußere Einflüsse zu reagieren - im Idealfall schneller als der Wettbewerb.

Aber nicht nur Produkte und Services, auch Unternehmensveränderungen lassen sich in kleinen Schritten ausrollen und erproben, immer wieder anpassen und weiterentwickeln. Zu diesem Zweck können das agile Vorgehen und die Lean Startup-Methodik im Sinne eines Feedback-gesteuerten Ansatzes auf das organisatorische Change Management adaptiert werden. Jason Little hat 2014 dafür den Begriff des Lean Change Management geprägt.

Der Lean Change-Zyklus: Insights-Options-Experiment

Das Lean Change Management geht davon aus, dass ein Veränderungsprozess zyklisch verläuft. Weder ist er linear, noch muss er immer an derselben Stelle beginnen. Unternehmensspezifisches internes Wissen in Form von Einsichten (Insights) dient dazu, Handlungsoptionen zu definieren. Aus diesen Optionen wird dann eine erste konkrete Veränderungsmaßnahme selektiert, um in einem Experiment im Unternehmen eingeführt zu werden. Das Ergebnis des Experiments bestimmt die weitere Richtung.

Dem Resultat entsprechend wird die Veränderungsmaßnahme dann entweder fortgesetzt, variierr beendet. Anders als Little es tut, ist es aber sinnvoll, nicht nur einen einzelnen zyklischen Veränderungsprozess zu betrachten, sondern von immer wieder neuen dynamischen Gleichgewichten auszugehen, die es zu erreichen gilt. Ein wirklich zukunftsweisendes Lean Change Management hat kein festes Ziel und keinen definierten Abschluss. Es begreift Veränderung und Anpassung vielmehr als einen kontinuierlichen Prozess, als eine Kette aus dynamischen Gleichgewichten.

Einsichten sammeln

In einem ersten Schritt empfiehlt es sich, Einsichten zu sammeln, um auf dieser Grundlage den Veränderungsplan gestalten und den Veränderungsprozess steuern zu können. Solch eine Suche nach Einsichten sollte im Lean Change Management fortwährend erfolgen. Dies kann beispielsweise durch Interviews, agile Retrospektiven oder in Lean-Coffee-Meetings geschehen, deren Agenda die Teilnehmer ad hoc definieren.

Nachdem die so gesammelten Daten ausgewertet und analysiert sind, werden Handlungsoptionen generiert - unter Einbeziehung der Mitarbeiter, die von der Veränderung betroffen sind. Es ist sinnvoll, die Veränderungsdynamik dem Unternehmen entsprechend anzupassen und zu steuern. Grundsätzlich lassen sich verschiedenste Ideen und Methoden miteinander verbinden.

Welche konkreten Veränderungsframeworks, Problemlösungsprozesse oder Kreativitätstechniken letztlich zum Einsatz kommen, ist eine Frage, die in jedem Unternehmen individuell beantwortet werden sollte. Unverzichtbar ist allerdings, dass die Betroffenen die Veränderung aktiv mitgestalten. Dadurch lässt sich im Lean Change Management ein Veränderungsplan auch sehr viel schneller erstellen, validieren und anpassen als im herkömmlichen Veränderungsmanagement.

Veränderung als Experiment

Für den Lean Change-Ansatz ist es zentral, eine Veränderung stets als Experiment einzuführen. Hintergrund ist die wachsende Notwendigkeit, mit hoher Komplexität und großer Unsicherheit umzugehen. Weil das Team zunächst Hypothesen zu einer geplanten Veränderung entwickelt, muss es darüber nachdenken, was sie für die Betroffenen bedeutet: Was könnte das Experiment sein; wer wäre von der Veränderung betroffen; was ist der Nutzen; und wie überprüfen wir, ob das Experiment erfolgreich war?

Das Experiment versachlicht die Auseinandersetzung mit den Veränderungen und schafft eine informierte und fundierte Entscheidungsgrundlage. Die Vorbereitung der Experimente setzt auch mehr Kreativität bei der Festlegung von Maßnahmen frei. Zudem trägt der experimentelle Charakter der Einsicht Rechnung, dass die Reaktion von Menschen auf eine konkrete Veränderung nicht vorhersehbar ist. Eine Veränderung in der Organisation kann auch völlig unerwartete Auswirkungen haben.

Deutlicher Widerstand gegen eine neu eingeführte einzelne Maßnahme ist ein Signal, dass die falsche Veränderung zur falschen Zeit erfolgte und es besser ist, diese experimentelle Veränderung wieder zurückzunehmen. Die übergreifende Veränderungsstrategie bleibt davon unberührt. Sie basiert bewusst auf diesem experimentellen Vorgehen und auf den Lerneffekten, die sich daraus ergeben.

Validiertes Lernen

Das Experiment führt zu Validated Learning, zu wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen über Fragen wie: Sind die Betroffenen infolge des Experiments zufriedener? Hat sich die Situation verbessert? Wurde das Ergebnis erreicht, das die Betroffenen erwartet hatten? Dieses Systemfeedback ist wiederum wertvoller Input für den Veränderungsplan. Der Experimentfortschritt lässt sich durch unterschiedliche qualitative und quantitative Methoden messen.

Auch für diesen Bewertungsprozess ist Partizipation wieder essenziell: Mitarbeiter legen ihre eigenen Früh- oder Spätindikatoren und Messpunkte fest. Es ist wichtig, dass die betroffenen Teams selbst Belege dafür liefern dürfen, dass sie die allgemeine Veränderungsstrategie umsetzen. Denn einen eigenen Beitrag leisten zu können, motiviert zusätzlich. Auch die Einsichten darüber, wie sich die Veränderung in der Realität entwickelt, gewinnen durch involvierte Mitarbeiter an Relevanz.

Die permanente Veränderung

Im Lean Change-Ansatz spielt der zyklische Charakter der Veränderungsmethodik eine zentrale Rolle. Das Ziel kann darum auch nicht in einem festen Endzustand bestehen, sondern nur in einem permanenten Veränderungsprozess. Klassisches Veränderungsmanagement will sich dagegen mittels Veränderung nur von einem bisherigen zu einem neuen Status quo bewegen.

Ein umfassendes Lean Change Management gibt diese Idee des Status quo auf. Jetzt gilt das Primat einer kontinuierlichen Bewegung. Nur so sind Unternehmen in der Lage, auf eine sich ständig wandelnde Umwelt, neue Kundenansprüche und veränderte Märkte angemessen zu reagieren. Herkömmliche Methoden wie der kontinuierliche Verbesserungsprozess (KVP) oder Kaizen zielen darauf, Bestehendes immer weiter zu verbessern. Ein wirklich zukunftsweisendes Lean Change Management ist hier radikaler: Ihm geht es um das Neue, um die Abkehr von Altbewährtem.

Im dynamischen Gleichgewicht

Die Lean-Change-Methodik, wie sie bereits Little skizziert hat, ist nicht plangesteuert und nicht linear. Es handelt sich eher um ein Feedback-gesteuertes Vorgehen, bei dem es entscheidend ist, Unsicherheiten als Teil der Unternehmensrealität zu akzeptieren. Aber es ist erforderlich, über den Ansatz von Little noch einen Schritt hinaus zu tun: hin zu einem Lean Change Management, das Veränderung in Permanenz erlauben will.

Nur wenn ein Unternehmen dauerhaft bereit ist, Unsicherheit zu ertragen und sich zu verändern, wird es in der Lage sein, in einer neuen disruptiven Welt fortzubestehen - durch eine Kette neuer Veränderungsziele und dynamischer Gleichgewichte. Fakt ist, dass klassisches Change Management nicht zu den gewünschten Ergebnissen führt. Die Unternehmensführung ist im Rahmen von Vision und Strategie zwar in der Lage, einen gewünschten Zielzustand zu beschreiben, kann aber nicht wissen, wie der Weg dorthin aussieht. Diesen Weg zu gestalten, ist Aufgabe der Mitarbeiter.

Letztlich geht es darum, das Unternehmen in seinem jeweils eigenen Tempo und gemeinsam mit den Mitarbeitern auf die Zukunft auszurichten. Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit müssen Teil der Unternehmens-DNA werden. Ein Lean Change Management, das in immer neuen, dynamischen Gleichgewichten denkt, wird genau dies ermöglichen.