Führungspersönlichkeiten

Nicht jeder Stellvertreter eignet sich zum Thronfolger

12.09.2022 von Hans Königes
Kaum eine Position eignet sich besser, um sich ein komfortables Nest zu bauen, als die eines Stellvertreters. Doch irgendwann stellt sich die Frage: Bin ich bereit, meine Wohlfühlzone in der zweiten Reihe zu verlassen?
Nicht jeder Mitarbeiter hat das Zeug zur Führungskraft - und sollte gegebenenfalls lieber Stellvertreter bleiben.
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Nicht jeder Mensch ist eine geborene Führungspersönlichkeit", weiß die Münchner Diplompsychologin Madeleine Leitner. "Es gibt auch den geborenen Stellvertreter. Für ihn wie für sein Unternehmen kann der Wechsel an die Spitze auch nach hinten losgehen - mit verheerenden Folgen." Bereits Ende der 1960er Jahre formulierten die US-Autoren Laurence Peter und Raymond Hull das Phänomen der "Spitzenunfähigkeit", heute auch bekannt als Peter-Prinzip. Es besagt, dass Beschäftigte in jeder Hierarchie so lange befördert werden, bis sie auf einen Posten gelangen, auf dem sie - weil überfordert - inkompetent sind.

Insbesondere beim Karrieresprung vom Stellvertreter in die Führungsrolle ist dieses Prinzip immer wieder zu beobachten. Wie es geborene Führungspersönlichkeiten gibt, gibt es auch typische Stellvertreter. Geraten diese nichtsahnend oder aus falschem Ehrgeiz in eine Führungsposition, sind sie zum Scheitern verurteilt. Der Weg zurück gilt als klassischer Karriereknick und ist, wenn überhaupt, nur unter großen Schwierigkeiten zu realisieren.

Madeleine Leitner, die seit über zwei Jahrzehnten Fach-und Führungskräfte in Fragen der Karriereplanung berät, kennt das Problem nur zu gut. Immer wieder wird sie von Klienten gefragt, ob sie den Sprung in die erste Reihe wagen sollen. Meistens werden sie dazu durch äußere Umstände genötigt. Chefs, mit denen sie über Jahre harmonisch zusammengearbeitet haben, rücken auf verantwortungsvollere Positionen vor und hinterlassen ein Vakuum.

Erben, die in die Rolle des Familienunternehmers hineingeboren werden, droht durch das fortschreitende Alter der Patriarchen die Übernahme von Rollen, die sie womöglich nie ausfüllen können. Startups wachsen, so dass von Gründern, die mit großen Ideen angetreten sind, immer mehr Führungskompetenz oder Entscheidungsfreude gefordert wird.

Die häufigsten Fehler neuer Chefs und Führungskräfte
Falle 1: Die Wichtigkeit der Antrittsrede unterschätzen
Es ist hilfreich, die Mannschaft zu einem Come together einzuladen und sich noch einmal offiziell vorzustellen. In einer kurzen Rede sollte man zum einen etwas über sich samt Werdegang erzählen und zum anderen bereits einen Einblick in den Führungsstil sowie Werte und Ziele geben.
Falle 2: Sofort alles auf den Kopf stellen
Neue Führungskräfte verfallen wegen der hohen Erwartungshaltung häufig in blinden Aktionismus. Es ist besser, die ersten Wochen für Mitarbeitergespräche zu nutzen. So bekommen Sie einen Überblick über Erwartungen, Aufgaben, Zusammenarbeit, Prozesse und mögliche Knackpunkte. Erst nach der Bestandsaufnahme sollten Veränderungen unter Einbindung der Mitarbeiter angestoßen werden.
Falle 3: Von Mitarbeitern instrumentalisieren lassen
Kommt eine neue Führungskraft, tendieren Mitarbeiter gerne dazu, sie für ungeklärte und unbefriedigende Belange einzuspannen, damit sie sich für diese Anliegen gegenüber Dritten starkmacht. Aber hier ist Vorsicht geboten, weil oft nur die subjektive Wahrnehmung ans Licht kommt. Man sollte also keine Versprechungen machen und voreiligen Entscheidungen treffen, sondern sich zunächst einen umfassenden Eindruck über den Status quo und über Verantwortlichkeiten verschaffen.
Falle 4: Intensive Freundschaften mit Mitarbeitern eingehen
Entwickeln sich Freundschaften zu einzelnen Kollegen, sollte man hinterfragen, welchen Einfluss die Beziehung auf das Tagesgeschäft im Unternehmen hat und welchen Eindruck Kollegen und Vorgesetzte bekommen, wenn sie von der Freundschaft erfahren. Zum Schutz von Führungskraft und Mitarbeiter ist es daher sinnvoll, ausreichend Distanz zu wahren.
Falle 5: Recht behalten und Fehler nicht eingestehen
Fehler einzugestehen und Kritik von Mitarbeitern anzunehmen wird oft als Führungsschwäche ausgelegt. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Wahre Größe und Kompetenz beweist, wer offen für berechtigte Kritik ist und gegebenenfalls eine Entscheidung rückgängig macht. So gewinnt man als Vorgesetzter Glaubwürdigkeit und Vertrauen.
Falle 6: Konflikten aus dem Weg gehen
Harmoniebedürftige Führungskräfte sind meist auch konfliktscheu. Sie hoffen insgeheim, dass sich Probleme von selbst lösen, und sprechen Missstände oft viel zu spät an. Ob Fehlverhalten von Mitarbeitern oder Konflikte im Team - Sie sollten Erwartungen frühzeitig nennen, immer konstruktives Feedback geben und rechtzeitig nachsteuern. Klarheit in der Führung ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Und Klarheit und Freundlichkeit schließen sich nicht aus.
Falle 7: Immer eine offene Tür haben
Eine Aussage wie "Sie können jederzeit zu mir kommen" ist fatal. Der Grund: Ungeplante Gespräche bringen den Tagesablauf durcheinander und reißen die Führungskraft bei ihrer jeweiligen Aufgabe aus der Konzentration. Soll heißen: Führen "zwischendurch" ist nicht ratsam. Nehmen Sie sich nach Abstimmung ungeteilte Zeit für Mitarbeitergespräche.
Falle 8: Experten im Fachwissen übertreffen wollen
Es ist ein Trugschluss, als Führungskraft zu glauben, auf jede fachliche Frage eine Antwort haben zu müssen oder jedes Problem lösen zu können. Dafür sind die Fachleute zuständig, nämlich die Mitarbeiter mit ihrem entsprechenden Fachwissen. Der Job des Vorgesetzten ist primär, Führungs- und Steuerungsaufgaben wahrzunehmen. Wer sich als Chef dennoch dafür verantwortlich fühlt, wird schnell zum "Obersachbearbeiter". Tipp: Delegieren Sie, damit Sie Freiräume gewinnen und Ihre Ziele erreichen.

Ob jemand den Sprung vom zweiten auf den ersten Platz wagen sollte, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Neben den Risiken birgt ein solcher Schritt für manche Klienten natürlich auch Chancen. "Nicht selten schlummert in den Kandidaten ein ungeahntes Potenzial", erzählt Madeleine Leitner. "Ein Stellvertreter erinnerte sich, dass er als Kind Gruppen angeführt hatte. Er arbeitete nun als Zweiter, hatte aber das Potenzial für die Nummer-eins-Position. Sein unternehmerisches Talent hatte bisher brachgelegen." Erst äußere Veränderungen brachten ihm den Impuls, sich über seine eigentliche Richtung klar zu werden.

Der Aufstieg sollte gut durchdacht sein

Andere Klienten - die geborenen Stellvertreter - bestärkt Madeleine Leitner dagegen darin, sich besser nicht durch den Erwartungsdruck von außen oder falschen Ehrgeiz zum nächsten Karriereschritt verleiten zu lassen. Häufig sind es Menschen, die sich wie kleine Brüder oder Schwestern nicht trauen, die Verantwortung zu übernehmen. Ihre Talente gehen eher in eine andere Richtung.

Gerade für sie entsteht ein gewisses Risiko, wenn der Platz an der Spitze vakant wird. Schließlich weiß man nie, wer nachkommt. "Dann empfehle ich", so Leitner, "aktiv nach einer Person Ausschau zu halten, mit der man voraussichtlich als Zweiter in Zukunft gut harmoniert." Als Fazit rät sie darum: "Der Schritt zur Übernahme der Rolle des Ersten muss - sowohl aus der Perspektive des Betroffenen als auch aus der des Unternehmens - gut durchdacht sein. Auch darf der Anspruch auf Führung nie mit der Eignung verwechselt werden."