Hochhäuser der Zukunft

Obsternte im Wolkenkratzer

25.03.2014 von Thomas Kuhn und Dieter Dürand
Architekten entwickeln radikal neue Konzepte für die Hochhäuser der Zukunft. Sie testen neue Materialien, bringen Job und Wohnen zusammen und integrieren Ackerflächen, Algenfarmen und üppige Parks.

Sich morgens mit dem Auto durch dichten Verkehr zur Arbeitsstelle quälen, vorher hastig die Tochter in der Kindertagesstätte abgeben, auf dem Heimweg rasch im Supermarkt einkaufen - der belgische Stararchitekt Vincent Callebaut will Großstadtbewohnern diese tägliche Tortour ersparen. Sie sollen alles, was sie zum Leben brauchen, in ihrem Wohnumfeld vorfinden: Job, Vergnügen, Kultur, Sport, Arzt - alles zu Fuß erreichbar.

Und nicht nur das. Callebauts jüngster Entwurf eines Ensembles aus Hochhäusern, das er im chinesischen Shenzhen am Perlfluss-Delta gegenüber Hongkong realisieren will, sieht noch weit mehr vor.

In die Gebäude integrierte Ackerflächen und Gewächshäuser sollen die Bewohner mit Gemüse, Salat und Obst versorgen. Üppige Parks laden die Menschen in luftiger Höhe zum Flanieren ein, Windräder und Solarflächen versorgen sie mit Energie. Es ist, als würde der Baumeister mit seinen "Asian Cairns", die man mit "asiatische Steinpyramiden" übersetzen kann, dörfliche Idylle mitten in die Großstadt holen.

Farmscraper - grüne Dörfer in der Stadt

Ein wenig führt diese Wortschöpfung indes in die Irre. Tatsächlich plant Callebaut nämlich eine Ansammlung von sechs Türmen, die von unten bis oben umschlungen sind von transparenten Anbauten, die sich wie überdimensionierte flache Kieselsteine um den Kern schmiegen.

Callebauts Absicht ist klar. "Ich will die Natur und ihre Ökosysteme in die Stadt holen." Das neue Wort für diesen Ansatz heißt: Farmscraper, zu Deutsch - landwirtschaftlich genutzte Wolkenkratzer.

Mit seinem Ziel, Metropolen und Natur zu versöhnen, ist Callebaut in bester Gesellschaft. Architekten in aller Welt haben verstanden, dass sie Städte in Zukunft ganz neu denken müssen, damit sie sparsamer, lebenswerter und größer werden können.

Die lange dominante Idee, urbane Zentren nach Funktionen zu gliedern - hier das Gewerbe-, dort das Wohngebiet, in einem anderen Teil das Vergnügungsviertel, wieder anderswo die Einkaufsmeile -, hat ausgedient. Das alte Prinzip zwingt zu weiten Wegen und verschwendet enorme Mengen Rohstoffe und Energie.

Die Auswirkungen sind dramatisch. Obwohl die Metropolen heute nur knapp drei Prozent der Erdoberfläche einnehmen, verbrauchen sie laut Berechnungen der Vereinten Nationen (UN) schon jetzt drei Viertel aller Ressourcen.

Renommierte Baumeister wie Sir Norman Foster in London oder Albert Speer in Frankfurt wollen diesen Trend mit einer neuen Generation von Hochhäusern brechen. Das neue Ideal sind Multifunktionshäuser, in denen Bewohner alles vorfinden, was sie zum Leben brauchen.

Eine besonders spektakuläre Idee entsteht in der Schweiz: Der Züricher Architekturprofessor Matthias Kohler will das Wuchern der Städte zu Molochen verhindern, indem er mithilfe von Flugrobotern komplette Viertel in die Höhe aufschichtet.

Waghalsig, utopisch? Sicher. Noch hat keiner der Pioniere sauber ausgerechnet, was solche Architektur am Ende kosten würde, wie Kritiker anmerken. Viele der notwendigen Technologien stehen zwar schon bereit, aber ihr komplexes Zusammenspiel ist bislang kaum erprobt.

Dramatischer Zeitenwechsel

Dennoch ist klar, dass etwas passieren muss, sollen die Megacitys unter dem Ansturm der Menschen nicht kollabieren. Es ist ein dramatischer Zeitenwechsel. Jahrtausende lebte die Menschheit mehrheitlich auf dem Land. Doch schon im Jahr 2050 werden UN-Schätzungen zufolge knapp sechseinhalb Milliarden Menschen in Städten wohnen - rund zwei Drittel aller Männer, Frauen und Kinder. Besonders in Asien und Afrika ziehen sie in Scharen in die Städte.

Die Urbanisierung ist nicht aufzuhalten. Umso wichtiger wird es, sie in Bahnen zu lenken, die die Funktion der Städte als Wirtschaftsmotor und Wiege der Zivilisation nicht bedroht. Ihnen fällt, so sieht es Architekturlegende Speer, eine Schlüsselrolle beim schonenden Umgang mit Umwelt, Naturschätzen und Klima zu. Daher mahnt er: "Die Welt hat nur Bestand, wenn die Städte nachhaltig werden."

Niemand setzt das so kompromisslos um wie der Belgier Callebaut. Fischbecken, Gemüsebeete und Kuhwiesen sind in seinen Entwürfen nicht grünes Feigenblatt. Ebenso wenig wie die Windräder oder Solarpanele. Sie sind Kern seiner Philosophie, Energie und Lebensmittel wieder dort zu produzieren, wo sie verbraucht werden. "Ich will die Landwirtschaft in das Herz der Städte bringen", sagt er.

Callebaut verweist auf Schätzungen von Wissenschaftlern, wonach in 35 Jahren bereits doppelt so viel Reis, Mais und Weizen geerntet werden müsse, um die wachsenden Weltbevölkerung ernähren zu können. In New York will er mit seinem Projekt Dragonfly zeigen, welchen Beitrag die Städte dazu leisten können. Auf 132 Stockwerken sollen genügend Äpfel und Pilze angebaut und Hühner gezüchtet werden, um jährlich 150.000 New Yorker satt zu bekommen.

Auch in Deutschland sollen demnächst ähnliche Projekte entstehen. Mit ihrem visionären 16-stöckigen Multifunktionshaus stehen der Frankfurter Architekt Bernd Schenk und die Rechenzentrenspezialisten von Prior1 in St. Augustin bei Bonn Callebaut in Sachen Kühnheit kaum nach.

Wärmequelle Rechenzentrum

Ihr Ausgangspunkt: Sie wollen die großen Wärmemengen, die beim Betrieb von Rechenzentren entstehen, künftig für die Energieversorgung von Städten nutzen. Dazu integrieren sie die Serverstationen in ihr neu konzipiertes Allzweck-Hochhaus. Das Wärmepotenzial, das sich anzapfen lässt, ist beträchtlich, erläutert Oliver Fronk, der für Prior1 das Projekt leitet. Von jeder Kilowattstunde, die die Geräte verbrauchen, erläutert er, werde nur ein Prozent in Rechenleistung umgesetzt - 99 Prozent verpufften bisher als Wärme.

Das wollen Fronk und Schenk ändern. Und dabei das Kunststück schaffen, dass ihr Hochhaus mehr Energie aus regenerativen Quellen gewinnt, als die Computer im Rechenzentrum verbrauchen. Die beiden haben das Gebäude als Stadt im Kleinen konzipiert: mit Platz für Läden, Wohnungen, Büros, Schwimmbad, kleinen Parks und landwirtschaftliche Flächen - drei Fußballfelder groß. Sogar ein Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr ist geplant, ebenso Stromtankstellen für E-Bikes und Elektroautos. Bis zu 600 Menschen könnten in dem Gebäude wohnen und arbeiten.

Geradezu revolutionär

Geradezu revolutionär ist das Energiekonzept. Zwei Blockheizkraftwerke (BHKW) versorgen das Allzweckgebäude mit Strom und Wärme. Die Maschinen verbrennen Methangas, das spezielle Algen auf dem Wege der Fotosynthese und unter Zugabe von CO2 aus den BHKW-Abgasen produzieren. Die Kleinstlebewesen wachsen in großen Tanks im Untergeschoss und in Panelen an der Außenfassade heran.

Auch an die Wirtschaftlichkeit haben die Entwickler gedacht. Überschüssige Wärme aus den BHKWs und dem Rechenzentrum könnten die Immobilienbesitzer an Wärmenetzbetreiber verkaufen oder mit ihr die Gewächshäuser beheizen. Die Biomasse der Algenabfälle wiederum soll später zu einem Grundstoff für Kosmetika und Kunststoffe werden.

Noch existiert das Multifunktionshaus von Fronk und Schenk erst auf dem Papier. Doch die beiden Zukunftsplaner sind zuversichtlich, dass die Technik der Biogasgewinnung aus Algen in spätestens zehn Jahren so weit ist, dass sie mit dem Bau der ersten Gebäude beginnen können.

Da sind der österreichische Bauunternehmer Hubert Rhomberg und der kanadische Architekt Michael Green schon weiter. Die Holzbau-Pioniere haben bewiesen, dass sich auch Hochhäuser aus dem nachwachsenden Rohstoff bauen lassen - und die Befürchtung widerlegt, sie könnten schneller in Brand geraten als solche aus Stahl und Beton.

Ein wichtiger Schritt. Denn neben einer ressourcenschonenden Architektur zählt der Umstieg auf ökologische Baustoffe zu den wichtigsten Maßnahmen einer nachhaltigen Stadtentwicklung.

Der Umwelt käme es massiv zugute, würden Hochhäuser künftig im großen Umfang aus Holz errichtet. Das haben Experten der Internationalen Energieagentur errechnet. Demnach werden bei der Herstellung von zehn Kilogramm Zement bis zu neun Kilogramm CO2 freigesetzt. Holz dagegen entzieht der Atmosphäre Kohlendioxid und speichert es als Kohlenstoff.

Das ist nicht der einzige Vorteil. Rhomberg hat mit seinem Unternehmen Cree, einer Tochter der Rhomberg Holding, deren rund 2.000 Beschäftigte er ebenfalls führt, ein Stecksystem für die Rohbauteile entwickelt. Fünf Monteure schaffen bis zu zwei Etagen am Tag. Stahlbetonbauer brauchen dafür bis zu zwei Wochen.

Ähnlich baut Architekt Green. Die Pläne für zwei 30-geschossige Holzbauten im kanadischen Vancouver und auf der ehemaligen New Yorker Gefängnisinsel Roosevelt Island hat er fertig in der Schublade. Für ihn gibt es keinen ökologischeren Baustoff. Heute gingen auf das Konto der Bauwirtschaft rund 40 Prozent des globalen Energie- und Ressourcenverbrauchs. "Mit Holz können wir die Bilanz drastisch verbessern", glaubt Green.

Doch so einfach geben sich die Bautraditionalisten nicht geschlagen und kontern ihrerseits mit einem Feuerwerk an Innovationen. Sie sollen Bauten ebenfalls wirtschaftlicher, ökologischer und überdies sicherer machen. Alles zusammen treibt laut einer Studie der Londoner Marktanalysten von Navigant Research massiv die Nachfrage nach grünen Baumaterialien. Bis 2020 werden die Umsätze mit Dämmstoffen, Isoliergläsern und Dachbegrünungen weltweit von heute gut 100 Milliarden Dollar auf etwas mehr als 250 Milliarden Dollar zulegen - am stärksten in Europa.

Kein zu unterschätzender Aspekt

Ein wichtiger Fortschritt im traditionellen Bausektor, der viele Hochhausbauten der kommenden Dekade erst ermöglicht, sind neuartige Material-Cocktails, die in der Branche UHPC genannt werden: Ultra High Performance Concrete, ultrahochfester Beton. Angereichert mit speziellen Fließmitteln, Mikrosilica, Nano-Kunststofffasern oder feinsten Metallspänen, erreichen die neuen Baustoffe technische Eigenschaften, die mit herkömmlichem Beton gar nicht möglich wären.

So ist Hochleitungsbeton viel fester und dichter als bisherige Mischungen. Er enthält viel weniger Wasser und widersteht weit höheren Drücken. Zudem ist das Material wegen der extremen Dichte weitgehend undurchlässig gegen Flüssigkeiten und Gase und damit weit widerstandsfähiger als die heute vielfach schon massiv geschädigten Betonkonstruktionen von Autobahnbrücken oder Hochhausbauten aus den vergangenen Jahrzehnten.

Je nach Mischung sind Bauteile aus dem Hochleistungswerkstoff bei gleicher Tragkraft bis zur Hälfte leichter als solche aus Normalbeton. Das ermögliche den Konstrukteuren, viel leichter und platzsparender zu bauen, sagt Ingo Müllers, Spezialist für Tragwerksplanung beim Ingenieurunternehmen Schüßler Plan in Düsseldorf. "Es bleibt also mehr nutz- und vermietbare Fläche für den Investor, was die Mehrkosten für den Baustoff kompensieren kann."

Umgekehrt kann, wer Wände oder Stützen unverändert lässt, um ein Vielfaches höher bauen als mit herkömmlichen Betonmischungen. Wolkenkratzer im Bereich bis etwa 700 Meter jedenfalls sind nach Ansicht von Experten ohne Einsatz von UHPC gar nicht mehr realisierbar - oder nur mithilfe unwirtschaftlicher Stützkonstruktionen in den unteren Stockwerken.

Und noch eine Eigenschaft prädestiniert den Superbeton für den Hochhausbau der Zukunft: Entsprechend ausgelegt würde er sogar dem Einschlag eines Airbus A380 widerstehen. Das haben Fraunhofer-Forscher herausgefunden. Auch einem Feuer, das letztlich die Stahlkonstruktion des New Yorker World Trade Center zerstörte, nachdem Terroristen zwei Flugzeuge in die Türme gesteuert hatten, hielte der Superbeton um ein Vielfaches besser stand.

Kein zu unterschätzender Aspekt in Zeiten, in denen die Architekten Gebäude immer höher bauen und mit komplexen Funktionen versehen wollen.

(Quelle: Wirtschaftswoche)