200 Millionen Euro

Riesenprojekt: Talanx führt SAP ein

07.05.2012 von Christiane Pütter
Zum ersten Mal etabliert eine große Versicherung eine Standardlösung. Was bisher als unmöglich galt, hat Talanx ins Rollen gebracht - gemeinsam mit SAP.
Thomas Noth, IT-Vorstand bei Talanx: "Re-Use before buy before make. Wir wollten so viel wie möglich aus einem Haus nutzen."
Foto: Talanx

Thomas Noth kurbelt gern. Servolenkung? Nichts für ihn. Elektrische Fensterheber ebenso wenig. Noth mag alte Autos. Viel Zeit für sein Hobby hat er allerdings nicht. Der IT-Vorstand des Hannoveraner Versicherungskonzerns Talanx hat 2009 ein Riesenprojekt angekurbelt: die Ablösung alter Systeme und die Einführung von Standardsoftware. Als Co-Piloten holte er sich SAP aus Walldorf und Accenture, Kronberg/Taunus, dazu. Und im Kofferraum lagen noch die - inzwischen umgesetzten - Pläne zur Gründung einer IT-Tochter, Talanx Systeme.

Der Reihe nach: Unter dem Dach einer Holding versammelt der Talanx-Konzern mehrere Marken, darunter HDI-Gerling, Targo Versicherungen, PB Versicherungen und Neue Leben. Die Talanx ist nach eigener Darstellung mit Prämieneinnahmen von knapp 23 Milliarden Euro (für 2010) die drittgrößte deutsche Versicherungsgruppe. Europaweit sieht sie sich auf Platz elf. Auslöser von IT-Chef Noths Mega-Projekt war ein massiver Investitionsstau in der IT. Der Gerling-Zukauf 2006 hatte die Situation weiter verschärft.

Die Talanx hat ihre beiden Gesellschaften HDI und Gerling miteinander verschmolzen. Allerdings existierten 2008 noch zwei verschiedene Systemwelten. Noth sah sich also die bisherigen Systeme an. Seine Strategie: "Re-Use before buy before make. Wir wollten so viel wie möglich aus einem Haus nutzen", sagt der IT-Entscheider. Das gestaltete sich schwierig: Beide Systemwelten waren technologisch veraltet, insbesondere im Retailgeschäft. Außerdem hatten die beiden Firmen vor dem Merger unterschiedliche Geschäftsmodelle verfolgt - mit unterschiedlichen Prozessen. Noth war schnell klar, dass er auf das bevorzugte Wiederverwenden größtenteils verzichten musste.

Blieb die zweite Möglichkeit: Kaufen. Und zwar Standardsoftware. Doch der Markt gibt für Versicherungen nicht viel her. Etwa 15 Anbieter zählte die Longlist der Talanx - übrig blieben zwei: SAP und ein mittelständischer Spezialist. "Mit den beiden vielversprechendsten Anbietern haben wir detaillierte, qualifizierte Proof-of-Concepts anhand konkreter Geschäftsvorfälle durchgeführt", berichtet Noth. "Der relativ hohe fachliche und technische Aufwand hat sich mit Blick auf die gewonnene Realisierungssicherheit definitiv gelohnt - insbesondere, da dieser zumindest mit dem präferierten Partner im Projekt ohnehin angefallen wäre."

Der Riese aus Walldorf hatte seine Branchenlösung zwar noch nicht oft verkauft, konnte aber mehr "Read-only" bieten, wie Noth sagt: "Bei SAP war einfach schon mehr in Standards gegossen." Das war dem IT-Vorstand wichtig, auch weil das Unternehmen in der Post-Merger-Situation noch nicht "ausreichend aus einem Guss Konzepte formulieren konnte". Für die vielen unterschiedlichen Anforderungen, die an die IT herangetragen wurden und werden, sieht er sich mit einer solchen Standardsoftware am besten gerüstet.

Ängste vor Ungewohntem

2009 startete das Projekt mit dem Namen "Zielbebauung" und nahm im Sachversicherungsgeschäft Fahrt auf. Die Sparte Haftpflicht wollte Fach- und IT-Seite als Erste migrieren - samt mehr als 500.000 bestehenden Verträgen. Noth findet, Haftpflicht biete "eine schöne Mischung aus Komplexität und Volumen". Parallel dazu führte die Talanx ein neues SAP-In/Exkasso-System ein; drittes Vorhaben war gleichzeitig die Weiterentwicklung der Systeme für Arbeits-Management, Scannen und Indizieren sowie Partnerdatenverwaltung und Schaden-Management. Bei solchen Aussichten tritt Noth nicht auf die Bremse, ganz im Gegenteil: "Ich möchte frühzeitig wissen, ob ich mein Fahrzeug erfolgreich ins Ziel bringen werde."

Foto: Talanx

Thomas Noth IT-Vorstand, Talanx: "Wir wollten jeden Anschein vermeiden, dass die IT den Fachabteilungen etwas aufdrückt."

Anfang 2010 wurde das Vorhaben gemeinsam mit SAP und Accenture aufgesetzt. Dabei hat die Talanx von Beginn an Wert auf die enge Zusammenarbeit von Fachabteilung und IT gelegt: Tandems aus je einem ITler und einem Fachvertreter sollten sicherstellen, dass der Change im ganzen Unternehmen ankommt. Das sei für viele eine neue Herangehensweise gewesen, berichtet Noth. Die Informatiker waren eigentlich - für Versicherungen typisch - die Arbeit mit Eigenentwicklungen gewohnt. Es gab also durchaus Ängste vor dem Verlust gewohnter Verfahren. Die Sachbearbeiter kannten ihre "Koexistenz"-Welt, also das Nebeneinander der HDI-Systeme einerseits und der Gerling-Lösungen andererseits. Glaubt man Noth, musste er trotzdem nicht viele Stoppschilder überfahren: "Jeder hat gesehen, dass das ineffizient ist, dass es so nicht mehr weitergeht", sagt er.

Talanx - Drittgrößte Versicherung Deutschlands

Die Konzernzentrale der Talanx AG in Hannover.
Foto: Talanx AG

Grünes Licht für den Börsengang. Der Hannoveraner Versicherungskonzern Talanx, die drittgrößte Versicherungsgruppe Deutschland, bereitet derzeit den Gang an die Börse vor. Den Zeitpunkt dafür hält sich das Unternehmen offen und gab bis Redaktionsschluss keinen konkreten Termin an - Branchen-Insider tippen auf Juni.

Hauptsitz

Hannover

Branche

Versicherungen

Einnahmen

22,9 Milliarden Bruttobeitragseinnahmen (2010)

Mitarbeiter

16.874 (2010)

IT-Kennzahlen

IT-Mitarbeiter

circa 1100 (ohne Hannover Rück)

IT-Budget

circa 400 Millionen Euro (ohne Hannover Rück)

CIO

IT-Vorstand Thomas Noth

IT -Tochter

Talanx Systeme (seit Januar 2011)

Fachkräftemangel als Bremsklotz

Der vorläufige Höhepunkt des Mega-Projektes ist für Noth und sein Team der September 2011: Für die große Sparte Haftpflicht und die kleinere Sparte Hausrat - diese wurde gleich mitgenommen - konnte er das neue Bestandssystem SAP Policy Management live schalten.

Im selben Jahr löste er wie geplant auch das alte Inkassosystem ab und führte das neue Arbeits-Management ein. Damit die Endanwender mitmachen, hat Talanx Multiplikatoren geschult und Videoclips ins Intranet gestellt. "Wir wollten jeden Anschein vermeiden, dass die IT den Fachabteilungen etwas aufdrückt", betont Noth. "Das Projekt sollte von Anfang an als etwas gemeinsames Neues positioniert sein." Läuft alles nach Plan, migrieren IT und Fachbereiche die anderen Sachversicherungssparten in den kommenden anderthalb Jahren.

Noth sieht Accenture in erster Linie als Partner für Systemintegration, SAP liefert seine Produkte und das Consulting dazu. Die Kooperation mit den Walldorfern sei durch Vorstandssprecher Jim Hagemann Snabe (in einer Doppelspitze mit Bill McDermott) positiv geprägt, so der Talanx-IT-Vorstand. Snabe habe sich mehrmals persönlich zu dem Projekt bekannt und für Commitment aus der SAP-Spitze gesorgt. Nach wie vor sind die Mitarbeiter von SAP im Haus. Noths Zwischenfazit aus der bisherigen Zusammenarbeit: "In dem Projekt treffen mit Talanx und SAP zwei kulturell unterschiedliche Großkonzerne aufeinander. Schnell haben wir jedoch gemeinsam eine dem Anspruch des Vorhabens angemessene, sehr gute partnerschaftliche Zusammenarbeit etabliert - und zwar auf allen Ebenen: von den Projektmitarbeitern bis zu den beteiligten Vorständen."

Ein Bremsklotz bei dem Großprojekt war der Mangel an Mitfahrern - von der IT-Seite her. Im Rückblick sagt Noth, man habe 2008 schlicht und einfach nicht genug passendes Personal gehabt. Es mussten also zunächst einmal einige Schlüsselpositionen neu besetzt werden. Hier kam dem IT-Vorstand sein persönliches Netzwerk zugute: vor seinem Einstieg bei der Hannoveraner Versicherung Anfang 2008 war der promovierte 51-jährige Betriebswirt unter anderem sechs Jahre lang für die Finanz-IT (heute: Finanz Informatik) verantwortlich, einen IT-Dienstleister der Sparkassengruppe. Nach seinem Weggang folgten ihm einige Manager zu Talanx nach.

"Wenn man alle Internen und Externen zusammenrechnet, waren in Spitzenzeiten rund 400 Mitarbeiter am Werk", sagt der IT-Vorstand. Heute ist er zuversichtlich, das gesamte Projekt Zielbebauung erfolgreich abschließen zu können. Terminlich und von den Kosten her liegt er im Plan, so Noth. Mehr als 200 Millionen Euro gibt die Talanx für das Gesamtvorhaben aus. Dabei werden neben der SAP-Einführung auch für sämtliche anderen Systeme des Bereichs Sachversicherungen und für Querschnittsfunktionen Ziellösungen auf Basis bestehender Anwendungen, Kaufsoftware oder neuer Eigenentwicklungen eingeführt.

Quasi nebenbei hatte der Talanx-CIO einen weiteren Change umzusetzen: Der Versicherungskonzern hat einen eigenen IT-Dienstleister gegründet, um die IT hinsichtlich Kosten und Qualität weiter zu optimieren. Im Herbst 2010 wurden die Vorbereitungen konkret, seit Juni 2011 gibt es die Talanx Systeme. Offiziell firmiert sie rückwirkend seit Jahresbeginn 2011. Komplett aber ist der vierköpfige Vorstand der "TaSys" erst seit November 2011. Noth hat den Vorstandsvorsitz übernommen und ist somit in Personalunion Talanx-IT-Vorstand und TaSys-Vorstands-Chef.

Analystensicht: Was SAP jetzt tun muss

Edgar Klein, Partner Consulting bei Deloitte, kommentiert das Engagement von SAP bei Talanx:

Edgar Klein, Partner Consulting bei Deloitte.
Foto: Deloitte

"SAP stößt mit der klassischen ERP-Software seit Langem an Wachstumsgrenzen. Branchenlösungen bieten den Walldorfern daher neue Potenziale. In dem Projekt mit Talanx erhält SAP einen Business-Content, den das Unternehmen in dieser Breite und Aktualität sonst nicht bekommen hätte oder selbst erstellen könnte. Inwieweit SAP diese Skills nun für andere Versicherungen nutzen kann, hängt davon ab, wie gut die Ergebnisse übertragbar sind. Für Mittelständler könnten die Lösungen interessant sein, wenn sie nicht zu teuer werden.

Große Häuser wie Allianz und Munich Re operieren stark mit Eigenentwicklungen. Generali und AXA sind stark von der Konzernzentrale bestimmt. SAP muss hier also überzeugend darstellen, dass die Konfiguration schnell und kostengünstig einsetzbar und auch international nutzbar ist. Die jetzigen SAP-Vorstandssprecher Jim Hagemann Snabe und Bill McDermott haben das auch verstanden und begreifen sich vorrangig als Anbieter von Business-Lösungen. Diese Haltung wird SAP helfen. Vorgänger Léo Apotheker hatte andere Prioritäten."

Change ist immer Eigenarbeit

Es sei schon "eine erhebliche zusätzliche Herausforderung" gewesen, noch parallel die unterschiedlichsten Erstversicherungs-IT-Einheiten des Konzerns in einem zentralen IT-Dienstleister zu bündeln, sagt Noth offen. Er sieht aber klare Vorteile in Sachen IT-Governance. Dass sich sein Team nun mit jeweils circa 400 Mitarbeitern auf die zwei Standorte Hannover und Köln (den alten Gerling-Sitz) verteilt, sei kein Problem. Der Talanx-Konzern habe sich bei seiner 2010 gestarteten Reorganisation bewusst für ein Multi-Standort-Konzept entschieden, das auch die Talanx Systeme AG umsetzt.

"Die Zentralisierung der beiden nahezu gleich großen IT-Standorte Hannover und Köln hätte sicherlich einige weitere Effizienzsteigerungen möglich gemacht", sagt Noth. "In der Güterabwägung mit dem dann entstehenden Risiko des Verlusts zentraler Wissens- und Leistungsträger haben meine Kollegen und ich die zusätzliche Herausforderung der Steuerung über Standortgrenzen hinaus aber gerne angenommen." Informatiker hätten ohnehin eine hohe Affinität zu modernen Kommunikationsmitteln.

Die Hannoveraner sind mittlerweile so Change-erfahren, dass sie jetzt auch einen eigenen Karrierepfad Projekt-Management eingeführt haben. Interessierte Mitarbeiter können im Rahmen dieser Projekt-Management-Laufbahn ein Zertifikat der Deutschen Gesellschaft für Projektmanagement (GPM) aus Nürnberg erlangen. "Denn Change-Kompetenz können Sie nicht delegieren", sagt Noth. "Sie können zu keinem Externen sagen: Verändere mich mal!" Muss er auch nicht. Denn Noth kurbelt gern selbst. Sei es bei alten Autos oder neuen Systemen.