Neue Chancen für IT-Experten

Scrum krempelt Karrierewege um

21.03.2012 von Nicolas Zeitler
Rollen statt Positionen: Agile Methoden stellen klassische IT-Laufbahnen infrage. Die Digital-Sparte der Werbeagentur Publicis musste neue Strukturen schaffen.

Soll ein Projektleiter zum Product Owner werden, ist nicht jeder gleich begeistert. Diese Erfahrung machte Joel Flammann. Als Managing Director leitet er Publicis Modem Deutschland, den digitalen Bereich der Werbeagentur Publicis. Publicis Modem entwickelt unter anderem für Kunden Webseiten, bedient sie aber auch als Application Service Provider - oft auf Grundlage selbst entwickelter Anwendungen. Als Flammann vor zwei Jahren Scrum einführte, verbesserte er damit nach eigener Aussage die Qualität der Arbeit - verunsicherte aber zunächst einige Mitarbeiter.

André Häusling von der Unternehmens- und Personalberatung Scrumjobs beobachtet, dass die Einführung agiler Methoden das klassische Positionen-Gefüge in IT-Abteilungen infrage stellt.
Foto: Scrumjobs

Kein Wunder, stellt das Arbeiten nach agilen Methoden wie Scrum doch klassische Positionen infrage. Das beobachten André Häusling und Boris Gloger, die gemeinsam Scrumjobs gegründet haben, eine auf das Personalmanagement von agilen Unternehmen spezialisierte Unternehmens- und Personalberatung. "Aus Menschen, die in Firmen Positionen innehaben, werden Menschen, die Rollen - und damit Verantwortung übernehmen", schreiben die beiden Scrum-Experten in ihrem Buch "Erfolgreich mit Scrum - Einflussfaktor Personalmanagement" (Hanser, 2011).

Umstieg auf Scrum in vier Tagen

Ein Aspekt, den Flammann nicht von Anfang an bedachte. Im Herbst 2009 hatte er einen Vortrag des Scrum-Trainers Gloger gehört und fand, die agile Methode passe gut zu Publicis Modem: Das Unternehmen wuchs zu der Zeit, die Auftragslage war gut, gleichzeitig herrschte eine gewisse Unzufriedenheit mit der Arbeitsweise. "Wir lieferten zum Kunden hohe Qualität ab, hatten aber unsere Mühe mit einer sauberen internen Dokumentation", sagt Flammann. Außerdem waren bei Mitarbeitern mit speziellen Kenntnissen "Know-how-Inseln" entstanden, ihr Fachwissen stand nicht allen zur Verfügung - typische Gründe für die Einführung von Scrum, wie Gloger und Häusling sie auch bei vielen anderen Unternehmen beobachten.

Den Umstieg bewerkstelligte Flammann dann "äußerst zügig", wie ihm Häusling attestiert. An einem Montag im Oktober 2009 hielt Publicis mit Boris Gloger ein Scrum-Training für alle von der Scrum-Einführung Betroffenen ab - von den Kreativen bis zu Projektmanagern. Am Dienstag wurden die zuvor als Product Owners und Scrum Masters Auserkorenen nochmals geschult, "um sie in ihren Rollen zu schärfen", wie Flammann sagt. Am Mittwoch fand eine erste Sprint-Planung mit vier Teams in einem Raum statt. Tags darauf startete Publicis Modem mit Scrum.

Joel Flammann von Publicis sagt, er habe nicht vorausgesehen, wie sehr die Einführung von Scrum das Personal-Management berührt.
Foto: Publicis

Flammann spricht von "bemerkenswerten Erfolgen" schon Ende des Jahres. "Wir haben das vorher oft herrschende interne Chaos reduziert und sind plötzlich noch sicherer, was die Einhaltung von Deadlines angeht", sagt er. Wie sehr die Scrum-Einführung auch das Personal-Management berührt, das habe er allerdings nicht vorausgesehen. Die Reaktionen der Mitarbeiter seien anfangs "von skeptisch über begeistert bis in Einzelfällen ablehnend" ausgefallen, sagt Flammann.

Alte Job-Profile mit neuen Scrum-Strukturen abgleichen

"Die Rolle eines Product Owners und die Funktion eines Projektmanagers unterscheiden sich leicht - auf einmal gibt es die neue Rolle, und der Mitarbeiter hängt erst einmal so dazwischen", sagt Flammann. Dem Management bei Publicis Modem wurde klar, dass die bisherigen Job-Profile mit den durch Scrum neu entstandenen Strukturen erst einmal abgeglichen werden müssen.

Viele Fragen waren zu beantworten, viel Kommunikation nötig. "Letztlich haben wir dadurch alle Unsicherheiten aus der Welt schaffen können, einige Mitarbeiter wurden auch wieder aus ihrer zunächst zugedachten Rolle herausgenommen und bekamen eine andere", sagt Flammann. Beratend begleitet hat das Projekt Häusling. Für ihn sind solche Unsicherheiten ganz typisch. "Bisherige Projektleiter fragen sich, ob sie zum Beispiel als Scrum Master oder Product Owner in eine Sackgasse laufen, ob andere Arbeitgeber mit dieser Bezeichnung im Lebenslauf überhaupt etwas anfangen können", sagt er. Weiterer Unsicherheitsfaktor für viele sei, dass mit der Einführung von Scrum auch bisherige Experten sich zusätzlich in Richtung eines Generalisten entwickeln müssen.

Üblich ist es aus Sicht von Häusling, dass Unternehmen derlei Fragen erst nach der Scrum-Einführung angehen. "Idealerweise sollten sie das schon mit der Einführung tun, aber bei den meisten ist es nachgelagert", sagt er. Oft sei ein schneller Umstieg nötig, um den Betrieb sicherzustellen. Themen wie Personal-Management würden später angegangen. Sich damit zu befassen und Ängste der Mitarbeiter ernst zu nehmen, sei aber unumgänglich. "Man muss sehr schnell klare Orientierung und neue Sicherheit geben", sagt der Scrum-Experte.

Bei Publicis Modem geschah das, indem die Mitarbeiter beim Überführen der bisherigen Stellenprofile in ein neues Modell mitreden durften. Sie hatten somit Einfluss darauf, welche neuen Karrierewege es jetzt in der Agentur gibt.

Der Grundsatz dabei lautete: Aufzusteigen heißt nicht mehr automatisch, Führungsverantwortung zu übernehmen - wie es in den bisherigen Laufbahnen meist der Fall war. Stattdessen gibt es bei Publicis Modem nun auch Expertenlaufbahnen - ein Modell, das auch Gloger und Häusling propagieren.

Expertenlaufbahn als "neue Art der Weiterentwicklung"

Der Gedanke dahinter: Nach dem klassischen Modell steigen stets die besten Fachkräfte auf Führungspositionen auf. "Damit entzieht sich ein Unternehmen aber selbst die Kompetenzen", schreiben die beiden Autoren. Denn eine sehr gute Fachkraft setze als Führungskraft ihr eigentliches Know-how ja gar nicht mehr für das Unternehmen ein. Ein weiterer Grund: Die Zahl der Führungspositionen in jedem Unternehmen ist begrenzt. Wer intern nicht aufsteigt, dem bleibt als Karriereweg nach oben irgendwann nur die Kündigung. Die Expertenlaufbahn biete da eine "neue Art der Weiterentwicklung", sagt Häusling.

Statt Stellenbeschreibungen sind bei Publicis Modem jetzt Rollen das Gerüst des Karrieremodells. Oberste Ebene des Organisationsmodells sind Jobfamilien, etwa die der Entwickler oder Scrum-Master. Definiert sind in jeder Jobfamilie sogenannte Kompetenzradien. Wichtigstes Kriterium für einen Aufstieg in den nächsten Radius ist Kompetenz, wie Gloger und Häusling in ihrem Buch schreiben. In der Jobfamilie der Scrum-Masters zeigt sich die wachsende Kompetenz etwa daran, wie viel Verantwortung einem Scrum-Master zuerkannt wird: zunächst für ein kleines Team, später für ein reiferes, auf der nächsten Ebene für die gesamte Scrum-Master-Community im Unternehmen.

Nach diesem Muster hat Flammann mit Häusling von Scrumjobs bei Publicis Modem eine gänzlich neue Nomenklatur geschaffen. Junior- oder Senior-Entwickler beispielsweise gab es in der Agentur zwar schon vorher. Neu ist, dass die Mitarbeiter jetzt genau sehen, welche Kompetenzen sie sich zusätzlich aneignen müssen, um den Kompetenzradius in ihrer Jobfamilie zu erweitern oder womöglich die Richtung zu korrigieren. Ein Junior-Entwickler etwa kann aus dem Schema ablesen, was er dazulernen muss, um seine Kompetenz zu erweitern und die Rolle eines Senior-Entwicklers einzunehmen. "Für jede Rolle gibt es jetzt eine transparente Übersicht", sagt André Häusling.

Konzeption und Definition der Jobfamilien bei Publicis Modem zogen sich vom ersten Arbeitstreffen bis zum Abschluss über acht Wochen hin. In den anschließenden sechs Wochen fanden Mitarbeitergespräche statt. Deutlich wurde darin nach Flammanns Aussage einerseits, wo die Entwicklungsperspektiven für die Mitarbeiter liegen. Gleichzeitig ließ sich das neue Modell daran überprüfen - und wurde laut Häusling leicht angepasst.

Eingebunden war in die Umstellung auch das Personal-Management der Agentur. Häusling hält diesen Ansatz für richtig: Das Personal-Management müsse man hinzuziehen, "weil dort die Kompetenz zum Thema Entwicklung von Mitarbeitern vorhanden" sei.

Scrum-Einführung klappt nur mit Management-Unterstützung

Mit ins Boot genommen werden muss nach Aussage von Flammann und Häusling auf jeden Fall auch das Management. Im Falle von Publicis Modem war die treibende Kraft hinter der Scrum-Umstellung Joe Flammann, der Chef des Unternehmensbereichs. "Nur deshalb hat diese schnelle Umsetzung geklappt", sagt Häusling.

Joel Flammann beobachtet nach der anfänglichen Skepsis bei seinen Mitarbeitern mittlerweile vielmehr Klarheit, die er auf Scrum und die neuen Personalstrukturen zurückführt. "Wir können neue Mitarbeiter jetzt schneller in Teams integrieren. Jeder hat vom ersten Tag an eine Struktur, in der er sich wiederfindet", sagt der Managing Director. Und dass Publicis Modem mit Scrum arbeitet, habe sich mittlerweile auch unter Bewerbern herumgesprochen. "Viele IT-Fachkräfte finden dieses neue Arbeits- und Karrieremodell interessant", sagt Flammann.