Wettlauf um Digitalisierung

Versicherungen versus Insurtechs

16.04.2019 von Stephen Voss  IDG ExpertenNetzwerk
Das Wort Altlasten ist für Fintechs ein Fremdwort. Dagegen kämpfen sich Versicherungen mit Legacy-Systemen, Datenmigration und Papierarchiven in Richtung Digitalisierung. Dieser Artikel bietet einige Tipps, zur Umstellung.

Es braucht keine Digitalisierungsoffensive der Bundesregierung, um die Brisanz des Themas für die Versicherungsbranche zu verdeutlichen. Die Notwendigkeit, Geschäftsmodelle und die dahinterstehenden Prozesse digitaler aufzustellen, ist längst erkannt – und die Umsetzung ist in vollem Gange.

Doch betrachtet man die deutsche Versicherungslandschaft und die etablierten Player, könnten die Ansätze nicht unterschiedlicher sein. So beginnt für einige Versicherer die Digitalisierung mit einer schönen App. An anderer Stelle werden wiederum zuerst die nachgelagerten Prozesse in Angriff genommen. Am Ende der Skala finden sich die holistischen Transformationsprojekte, die eine ganze Organisation auf links drehen wollen. Zu einem nicht geringen Teil werden Prioritäten falsch gesetzt oder der Aufwand unterschätzt.

Ein großes Versicherungsunternehmen hat nicht die Flexibilität, die junge Fintechs an den Tag legen können.
Foto: TrideRR - shutterstock.com

Zudem haben sich die Kundenbedürfnisse fundamental verändert: Heute werden hohe Geschwindigkeit und größtenteils digitale Kommunikation erwartet. Kommunikation in Echtzeit und Transparenz in den Angeboten wird erwartet. Das heißt nicht, dass persönliche und papiergebundene Kommunikation ein Auslaufmodell ist. Aber ihr Anteil verringert sich und sie wird – wo notwendig – sinnvoll durch Technologie ergänzt werden.

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Die Versicherungsgesellschaften und die großen Versicherungskonzerne haben es hierbei mit besonderen Herausforderungen zu tun. Sie verfügen zum einen über gepflegte und weiterentwickelte IT-Systeme, oft mit heterogener Struktur aus verschiedenen Unternehmenszusammenschlüssen. Zum anderen betreiben sie auch Druckzentralen und Frankierstraßen. Diese Anlagen können nicht sofort abgeschaltet werden. Mit den vorhandenen technischen Strukturen sind aber auch die Organisationen und Unternehmenskulturen verknüpft, die mit auf den digitalen Weg genommen werden müssen.

Die Krux mit dem Erbe der IT-Landschaft

Auch im Finanzsegment taucht immer wieder der Begriff "Legacy Systeme" auf. Legacy Systeme sind IT-Systeme, die ein Unternehmen etabliert hat und die über Jahre oder Jahrzehnte gewachsen sind. Exemplarisch kann man die seit den 1980er Jahren populären AS400 Systeme von IBM nennen, die bei einem Großteil der Unternehmen immer noch eingesetzt werden. Da diese Systeme bis heute genutzt werden, sind oft eigene Interfaces beziehungsweise Dateninterpreter nötig, um den Anforderungen gerecht zu werden. Der Aufwand ist enorm, stammt doch das Betriebssystem ebenfalls aus den 1980ern, auch wenn es natürlich weiterentwickelt wurde.

Erschwerend kommt hinzu, dass man Entwickler, die diese Betriebssysteme noch beherrschen, nicht mehr überall findet. Und spätestens der Risikomanager macht dann der IT einen Strich durch die Rechnung mit den Altsystemen. Mit einem Legacy System, welches nicht einfach zu spiegeln ist, kann man modernen Risikoanforderungen nicht gerecht werden.

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Und da kommt ein zweiter Aspekt ins Spiel: Daten-Migration. Wenn aus den Altsystemen Informationen übernommen werden sollen, werden sie durch eine Anwendung in ein für neue Systeme lesbares Format übertragen. Der Prozess ist ausgesprochen aufwändig, denn nicht alle Daten sind sauber gepflegt. Es kommt vor, dass Daten zusätzlich über Arbeitsanweisungen mit Informationen verknüpft sind, die noch in Handakten aufbewahrt werden.

Alttarife und Migrationsprozesse als Herausforderung

Wenn der Kundenstamm eines Unternehmens noch Alttarife nutzt, die nie umgestellt wurden, kann es passieren, dass ein Kunde beispielsweise eine Hausrat-Police mit Bedingungen aus dem Jahr 1992 hat. Ältere Verträge können auch die VHB 84 oder sogar die VHB 74 enthalten. Diese Bedingungen konnten damals nicht digital erfasst werden.

Solche Bedingungswerke liegen in einem feuerfesten Safe im Keller des Versicherers. Zugriff ist nicht per Knopfdruck möglich, die Papierinformationen müssen in einem Migrationsprozess digital mit den Informationen aus der alten Datenbank logisch verknüpft werden. Das ist zeitintensiv und fehleranfällig.
Ob eine Migration noch sinnvoll ist oder man die Daten lieber gleich komplett neu aufsetzt, ist angesichts dessen diskussionswürdig. Es ist zudem möglich, die Kunden automatisiert auf die neueren Bedingungen umzustellen. Auch wenn das zunächst zu Lasten des Versicherers geht, kann es ökonomisch vorteilhaft sein.

Teilweise wurden auch interne Strukturen und Arbeitsabläufe an die technische Umgebung angepasst. Was zum Zeitpunkt der Systemeinrichtung nicht zu automatisieren war, aber vom Vertrieb oder Kunden gewollt wurde, wurde in einem analogen Workaround manuell ermöglicht. Das sind echte Altlasten und die notwendigen Veränderungen wollen sehr behutsam angegangen sein.
Deswegen ist die Belegschaft selbst mit den Veränderungen im IT-System aufs Engste verbunden. Sie muss sich mit den geänderten Abläufen, teil- oder vollautomatisierten Prozessen und der neuen Art und Geschwindigkeit der Kommunikation mit den Vertrieben und den Kunden vertraut machen.

Insurtechs können durchstarten

Insurtechs verstehen Digitalisierung anders als Versicherungskonzerne und können auch anders vorgehen. Für sie spielt das Thema Legacy-Systeme keine Rolle. Sie können neue Ideen direkt umsetzen und müssen sich um Integration und Eingliederung anderer Unternehmensteile keine Sorgen machen. Zum Teil, je nach Geschäftsform und Ausrichtung, haben sie ganz bewusst nicht die gesamte Wertschöpfungskette eines Versicherers im Auge. Die wenigsten besitzen eine eigene Lizenz als Risikoträger.

Die pfiffigen Geschäftsideen der Insurtechs
Element Insurance
Als rein digitale Versicherungsplattform - inzwischen mit BaFin-Lizenz ausgestattet - ist Element im März 2017 angetreten, um sich im Segment der Sach-, Unfall- und Haftpflichversicherungen auszubreiten. Das Unternehmen, das vom Berliner Fintech-Company-Builder Fin Leap gegründet wurde, will Unternehmen verschiedener Branchen - vom E-Commerce bis zur klassischen Versicherung - unterstützen, individuelle und passgenaue Versicherungsprodukte für ihre Kunden zu schaffen.
Optisure
Eine Haftpflichtversicherung ausschließlich für IT-Freelancer bietet der Versicherungsmakler Optisure ab 29 Euro monatlich an. Das Unternehmen argumentiert damit, dass Freiberufler ihre hohen Risiken im Zusammenhang mit Rahmen- und Projektverträgen gesondert absichern sollten.
SmartInsurtech
SmartInsurtech schiebt sich als Plattform zwischen Versicherungskonzerne und deren Vertriebsorganisationen. Letzteren will die Hypoport-Tochter mit Web-basierten zentralen Standardlösungen helfen, ihre Hardware- und Lizenzkosten zu senken. Auch Provisionsabrechnungen und die Geschäftspost übernimmt SmartInsurtech.
Ottonova
Als erste vollständig digitale private Krankenversicherung ist Ottonova im Juli 2017 angetreten, Marktanteile zu erwerben. Das Unternehmen, das sich an dem US-Startup Oscar Health orientiert, hat eine Zulassung bei der Bafin bekommen und kann damit Verträge mit Kunden abschließen. Ins Beuteschema passen jüngere Akademiker, die keine Berührungsängste mit digitalen Technologien haben und gut verdienen.
PicSure
PicSure offeriert Versicherungskonzernen KI-Lösungen, mit denen diese einfach Sachverhalte verifizieren können. Mit einem Smartphone-Photo können beispielsweise Gegenstände wie ein Fahrrad aufgenommen und binnen Sekunden bewertet werden. Ebenso werden Bilder von Schadensfällen automatisiert beurteilt.
Wefox
Wefox bezeichnet sich als unabhängige Serviceplattform, auf der Versicherte ihre Verträge verwalten, Tarife vergleichen und sich beraten lassen können. Das Startup agiert anbieterneutral und bietet kostenfreie Services an, darunter Vertragsimport und Serviceleistungen. Es finanziert sich, indem es den Versicherungsgesellschaften Teile der Services abnimmt und dafür von ihnen kassiert. Auch hier geben Kunden eine Vertretungsvollmacht, die Wefox ermöglicht, die Vertragsdaten bei den Versicherungen abzufragen und in der App anzuzeigen.
ControlExpert
Das Unternehmen überprüft mithilfe intelligenter Algorithmen Schadensgutachten und Werkstattrechnungen auf Fehler. Damit hilft es Versicherern, Kosten zu senken. ControlExpert greift dabei auf eine Datenbank zurück, die jeden Tag um Tausende von Aufträgen aufgefüllt wird. Mit EasyClaim hat ControlExpert eine App herausgebracht, mit der Autofahrer einen Schaden direkt am Unfallort melden können.Anhand hochgeladener Fotos bekommen die Fahrer nach rund zwei Stunden eine Info, wie teuer die Reparatur wird und wo sich die nächste Werkstatt befindet
Kasko
Als digitale Versicherungsplattform für On-demand-Versicherungsprodukte bezeichnet sich Kasko. Das Unternehmen wendet sich als Vermittler mit den Angeboten großer Versicherer an digitale Marktplätze oder Reiseportale, wo entsprechende Angebote via Plugin oder API eingebunden werden können. Die Kunden haben den Vorteil kurzer Wege, außerdem müssen sie sich nicht um regulatorische Details oder technische Integration kümmern.
AppSichern
Kurzzeit-Versicherungen für besondere Situationen bietet AppSichern. Der Reiz liegt im schnellen und unkomplizierten Abschluss, der auf der Website oder über eine App getätigt werden kann. Das Startup bietet beispielsweise einen „24-Stunden-Drittfahrschutz“ für den Fall, dass ein Kunde sein Auto an einen Freund verleihen möchte. Kündigung ist nicht nötig, soll sie verlängert werden, wird der Vertrag nochmal unterzeichnet. Einen ähnlichen Dienst bietet Cuvva an.
Virado
Auf kleinteilige Produktversicherungen etwa für Smartphones, Tablets, Brillen, Gadgets, Fahrräder oder Haushaltswaren hat sich Virado spezialisiert. Das Startup richtet sich an Versicherungsmakler, die solche Produkte an Betreiber entsprechender E-Commerce-Seiten verkaufen. Virado bindet diese Angebote in die Homepages, Apps und Facebook-Seiten der B2B-Kunden aus dem Handel ein.
Wert14
Wert14 von der Rostocker SkenData GmbH ist eine Plattform für die Immobilienbewertung, die sich neuester Big-Data- und Machine-Learning-Technologien bedient, um zu einem schnellen und genauen Urteil zu kommen. Das Unternehmen erhielt 2017 den Insurance IT-Innovation Award der Uni St. Gallen.
Feelix
Ein breites Angebot rund um die digitale Finanzplanung bietet Feelix. Das Unternehmen will das Papierchaos in den Finanz- und Versicherungsordnern der Kunden beseitigen und bietet dafür eine App an. Verbraucher können damit ihre bestehenden Versicherungs-, Geldanlage-, Kredit- und Altersvorsorgeverträge managen. Hinzu kommen Vertrags- und Kreditcheck, mit denen Anwender herausfinden können, ob ihre Verträge noch aktuell und kostengerecht sind.
Fairr
Auf die Nische der Altersvorsorge-Lösungen rund um Riester- und Rürup-Rente hat sich fairr.de spezialisiert. Das Startup hilft Kunden, Zulagen und Steuervorteile in Anspruch zu nehmen. Das Unternehmen verzichtet auf Anschlussprovisionen und hält die Gebühren niedrig. Mit (Fonds-)Sparplänen für Riester- und Rürup-Rente verdient fairr.de Geld.
Friendsurance
Friendsurance ist zum einen ein klassischer Versicherungsmakler, der von den zirka 70 vertretenen Versicherungen bei Erfolg einen marktüblichen Bonus erhält. Zum anderen betreibt das Unternehmen ein Peer-to-Peer-Versicherungsmodell, in dem sich Versicherte zu kleinen Gruppen bis zu zehn Personen zusammenschließen und gegenseitig finanziell unterstützen. Kleinere Schäden werden aus diesem Topf bezahlt, bei größeren springt das Versicherungsunternehmen ein. Tritt bei den Versicherten kein Schaden ein, sinken die Versicherungskosten.
Haftpflicht Helden
Wer in wenigen Minuten online eine private Haftpflichtversicherung für 72 Euro jährlich abschließen will, ist bei den Haftpflicht Helden richtig. Als BaFin-zugelassener Partner im Hintergrund agiert die NV-Versicherungen VVaG. Haftpflicht Helden beschreibt transparent, was mit den Gebühren der Versicherten passiert. Wer Freunde überzeugt, sich ebenfalls dort zu versichern, senkt je nach Anzahl der Mitversicherten seine Kosten und die der Freunde.
Community Life
Als Community rund um Versicherungen präsentiert sich Community Life. Das Unternehmen bietet eine Berufsunfähigkeits- und eine Lebensversicherung und stützt sich dabei auf Angebote der internationalen Versicherungsgruppe iptiQ. Größter Vorteil ist die Anbindung an eine Community, in der über Versicherungen diskutiert wird, die neue Produkte mitentwickelt und die durch den Zusammenschluss Versicherter Lobby-Vorteile schafft.

Insurtechs können ihre Organisation, Strukturen, Prozesse und Kommunikationswege auf dem neuesten Stand der Technik ohne Altlasten errichten. Auch der Weg über die komplette Eigenentwicklung steht ihnen offen. Generell gilt aber: Wer Digitalisierung zu Ende denken will, sollte frei von Restriktionen sein.

Mammutaufgabe für CDOs und CIOs

Das sollte jedoch nicht als Kritik an den etablierten Playern verstanden werden. Denn die Probleme eines Chief Digital Officers in einem Versicherungskonzern sind einfach andere. Er muss sowohl Unternehmensstrategie als auch Politik in Einklang mit den digitalen Zielen bringen. Mit diesen Bereichen muss sich ein neu gegründetes Unternehmen nicht auseinandersetzen.

Ein Insurtech muss auch keine Rücksicht auf Bestandskunden nehmen. Das ist aber eines der Kernprobleme, mit denen ein etablierter Versicherer zu kämpfen hat: "Ballast", zu dem nicht nur Bestandssysteme zählen, sondern auch "alte" Bestandskunden. Genau die Bestandskunden, die einem etablierten Versicherer die Mittel zur Verfügung stellen, die künftig in die Digitalisierungsprojekte investiert werden können.

Fazit

Das Rennen zwischen den beiden Gruppen, wenn es denn überhaupt ein solches gibt, ist offen. Noch ist unklar, wer den Kunden auf Dauer durch modernisierte Angebote halten kann oder ihn durch gänzlich neue Ansätze für sich gewinnen wird. Und so verschieden die Ansätze sind: Es steht "alten" und "neuen" Unternehmen immer noch der Weg zur Kooperation offen, um sie zu vereinen.