Exklusiv-Interview mit dem CTO

Warum Siemens-Vorstand Russwurm sich für den Raspberry Pi interessiert

22.03.2016 von Heinrich Vaske
Siemens mutiert im Industrie-4.0-Zeitalter mehr und mehr zu einem Softwarekonzern. Vorstandsmitglied und Chief Technology Officer (CTO) Siegfried Russwurm erläutert im Gespräch mit CIO.de die Strategie.
  • Technische Einschränkungen waren Russwurm zufolge bislang stets ein Hindernis. Jetzt nicht mehr.
  • Software-Entwicklung funktioniert bei Siemens nach dem "Zwiebelschalen-Modell"
  • Industriestandards müssen sich laut Russwurm bottom-up entwickeln

Sprechen wir zuerst über die Digitalisierung im Siemens-Konzern selbst. Während Jeffrey Immelt, CEO von General Electric, immer wieder mit dem digitalen Umbau seines Konzerns prahlt, ist es um Siemens ungewöhnlich ruhig. Wo stehen Sie beim digitalen Umbau?

Siegfried Russwurm:Für einen Konzern wie Siemens, der in ganz vielen unterschiedlichen Arbeitsfeldern aktiv ist, prägt sich die Digitalisierung vielfältig aus. Deshalb macht es wenig Sinn, sich hier mit einer Kampagne groß in Szene zu setzen. Wir würden alles über einen Kamm scheren, was wir nicht wollen.

Heißt Digitalisierung für das Geschäftsmodell von Siemens, dass künftig mehr Geld mit Softwarelizenzen verdient wird?

Siegfried Russwurm: Unser Geschäft im Bereich der Digitalisierung steht heute auf drei Säulen. Erstens sind wir ein Softwarehersteller, der Lizenzen verkauft - zunehmend auch in Form von SaaS-Diensten aus der Cloud. Damit machen wir heute schon mehr als drei Milliarden Euro Umsatz pro Jahr. Er wächst stetig, den größten Anteil davon macht heute noch unser konventionelles On-Premise-Lizenzgeschäft aus. Wir haben aber das Thema SaaS inzwischen gut verstanden, kennen und "können" die Mechanismen.

Prof. Dr. Siegfried Russwurm, Mitglied des Vorstands der Siemens AG, konnte auf den Hamburger Strategietagen die CIOs begeistern.
Foto: Foto Vogt

Ein zweites, mit rund 600 Millionen Euro Umsatz noch relativ kleines Pflänzchen, das aber rasant wächst, sind unsere digitalen Services. Hier bieten wir echte digitale Mehrwertdienste aus der Cloud. Zum Beispiel die optimierte Steuerung einer Windfarm. Wenn Sie 50 Windturbinen ins Meer stellen und nicht aufpassen, wie Sie in diesem Feld die erste und zweite Reihe ansteuern, dann stehen die dritte und die vierte Reihe in deren Windschatten, und die Auslastung ist suboptimal. Zu entscheiden, wie viel Energie wir in den ersten Reihen herausnehmen, damit in den hinteren noch genug ankommt, ist eine komplexe Aufgabe. Wir gehen sie mit Machine Learning an.

Die dritte und größte Säule ist, dass wir unsere bestehenden Produkte und Dienstleistungen durch Digitalisierung leistungsfähiger, besser und kundenfreundlicher machen. Digitalisierung ist also keine Revolution für den Siemens-Konzern, sondern eine Evolution.

Es gibt keine technischen Einschränkungen mehr

Trotzdem hebt das Thema in der öffentlichen Wahrnehmung gerade erst so richtig ab. Woran liegt das?

Siegfried Russwurm: Das Timing wird maßgeblich durch das exponentielle Wachstum von ein paar Basistechnologien bestimmt. Mein persönlicher Benchmark ist der Raspberry Pi. Wenn ich sehe, dass ich so einen kompletten Rechner, der die Größe eines Mobiltelefons hat, für rund 35 Euro beim Versandhändler bekomme, dann weiß ich, dass es in der Herstellung wahrscheinlich keine zehn Euro kostet. Und es hat schon eine ganz erhebliche Rechenleistung.

Es gibt kaum noch Bereiche im industriellen Umfeld, in denen Rechenleistung eine Einschränkung wäre. Wir können alles rechnen, was zu rechnen ist. Ähnliches gilt für das Thema Bandbreite. Klar haben wir noch jede Bandbreite gefüllt bekommen. Aber wenn man vergleicht, was wir heute schon übertragen können - auch wieder zu relativ geringen Kosten -, dann ist das unglaublich. Das Gleiche gilt für Speicher, und so haben wir allmählich alle Basistechnologien beisammen. Was jetzt neu hinzukommt und die digitale mit der realen Welt viel stärker verbindet, ist, dass auch Leistungshalbleiter durch neue Technologien wie Galliumnitrid in ganz andere Dimensionen vorstoßen.

Eine der Basistechnologien für Digitalisierungsprojekte ist die Cloud. Wie stellt sich Siemens hier auf?

Siegfried Russwurm: Wir passen uns den Anforderungen unserer Kunden an. Manche fühlen sich gut, wenn sie den Server auf ihrem eigenen Gelände haben. Das können wir installieren und auch die Wartung übernehmen. Dann gibt es andere, die sagen, ich fühle mich in einer "Managed Private Cloud" wohler: Dann stehen eben Rechner im Data Center, die nur für diese Kunden arbeiten. Und dann gibt es wieder andere, die vertrauen ganz auf die Public Cloud, weil sie dort alle Sicherheitsvorkehrungen mitbekommen, ohne dafür dediziert und einzeln zahlen zu müssen. Wir können unsere Applikationen in allen Varianten bereitstellen, ganz nach Kundenwunsch.

Intelligente Analytics-Systeme kann man nicht kaufen

Zu den Schlüsselanwendungen im Bereich Digitalisierung gehören Analytics- und Big-Data-Tools. Entwickeln Sie hier selbst, oder holen Sie sich die Produkte, die sie brauchen, am Markt?

Siegfried Russwurm: Wir nutzen das, was es an generischen Algorithmen am Markt gibt. Spannend wird Data Analytics aber erst dann, wenn ich diese Algorithmen für ganz spezifische Anwendungsfälle nutze. Wenn Ihnen der Wetterbericht sagt: In München gibt es Schneegriesel, dann werden Sie sagen, schön, aber das sehe ich, wenn ich aus dem Fenster schau. Sagt der Wetterbericht: Bis morgen früh wird es weiter Schneegriesel geben, ist das schon besser - "Predictive Analytics". Die Königsdisziplin ist aber, diese Vorhersage mit einer konkreten, verbindlichen Empfehlung zu verbinden, etwa "Morgen früh wird es weiter Schneegriesel geben, deshalb ist auf den Straßen mit Behinderungen rechnen - öffentlicher Nahverkehr wird empfohlen".

Laut Russwurm beginnt intelligente Analytics dort, wo Systeme datenbasiert konkrete Handlungsempfehlungen geben können.
Foto: Foto Vogt

Nehmen wir den Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes: Erhält er auf hoher See die Information, dass er die nächsten vier Tage nur noch mit maximal 80 Prozent Leistung fahren kann, wenn er seine Fahrt trotz Lagerschadens im Antrieb noch zu Ende bringen will, ohne unterwegs Teile austauschen zu müssen, dann ist das für ihn eine entscheidende Information. Solche Systeme können Sie nicht kaufen. Da müssen Sie beispielsweise genau das Zielsystem und die Versagensmechanismen kennen. Aber was darunter liegt, die Algorithmen per se, muss man nicht neu erfinden - diese kann man wiederverwenden.

Wie viele Softwareentwickler hat Siemens?

Siegfried Russwurm: Von den rund 32.100 Menschen, die bei uns in der Forschung und Entwicklung arbeiten, sind mehr als 17.500 Softwareentwickler. Die bauen sowohl reine Softwareanwendungen als auch Embedded Systems. Aber die Grenze zwischen Information Technology und Operational Technology verschwimmt ohnehin immer mehr, es ist eigentlich nicht mehr sinnvoll, hier allzu präszise zu differenzieren.

Software entwickeln nach dem Zwiebelschalen-Modell

Wie ist die Entwicklungsmannschaft organisiert?

Siegfried Russwurm: Wir haben eine Art Zwiebelschalenmodell. Es gibt eine Kerngruppe in der zentralen Forschung und Entwicklung, die sich um Themen kümmert, die alle verwenden können, etwa Analytics-Engine, Kommunikationswege oder IT Security. Sie erstellen sozusagen die Plattformen. Wir haben aber nicht alle Softwareentwickler zusammengezogen, weder organisatorisch noch räumlich. Für uns ist es wichtig, dass auf Basis dieser zentralen Plattform Spezialisten für die jeweiligen Arbeitsgebiete von Siemens aktiv werden können, die dann die jeweiligen Lösungen für ihre Kunden erstellen - für die produzierende Industrie, für die Energiewirtschaft, für Mobilitätsunternehmen und für viele mehr.

Das Thema Industrie 4.0 bildet so zum Beispiel die zweite Schicht der Zwiebel, Lösungen für die produzierende Industrie, und die dritte umfasst branchenspezifische Softwarelösungen, etwa für die Nahrungs- und Genussmittelindustrie. In der vierten Schicht adressieren wir dann beispielsweise das Brauereiwesen. Verantwortlich dafür sind unsere Leute, die die Sprache der Nahrungs- und Genussmittelindustrie sprechen und darin auch, um im Sprachbild zu bleiben, den Dialekt Brauerei verstehen. In der Großmolkerei etwa wird ein anderer Dialekt gesprochen, deshalb sind unsere Lösungen dort anders - und doch aufbauend auf den gleichen "inneren Zwiebelschalen".

DZ Bank über Industrie 4.0 und die Folgen für die deutsche Volkswirtschaft
Industrie 4.0 in Deutschland
Die Studie „Industrie 4.0 – Folgen für die deutsche Volkswirtschaft“ von der DZ Bank beleuchtet Themen wie Wertschöpfung, Arbeitsmarkt und Produktivität. Sie basiert auf Daten, die die DZ Bank selbst erhoben hat, ebenso wie auf Analysen vom Fraunhofer IAO, dem Statistischen Bundesamt und weiteren Quellen.
Bevorzugte Branchen
Die Auswirkungen von Industrie 4.0 werden die gesamte Wirtschaft betreffen, doch einzelne Branchen werden stärker profitieren können. Das sind namentlich Chemie, Maschinen, Elektrische Ausrüstungen, Automotive und IT/Kommunikation. Laut Prognosen des Fraunhofer IAO wird die Bruttowertschöpfung in diesen Bereichen weit überdurchschnittlich wachsen.
Arbeitsproduktivität
Mit Blick auf die Steigerung der Bruttowertschöpfung durch die Einführung von Industrie 4.0 und die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt lässt sich die Entwicklung der Produktivität abschätzen. Nach Zahlen von Statistischem Bundesamt, Fraunhofer IAO, IAB und der DZ Bank AG wird die Produktivität bis zum Jahr 2025 allein aufgrund der zusätzlichen Wertschöpfung insgesamt um fast zwölf Prozent steigen.
Bevölkerungsentwicklung
Wie die Daten vom Statistischen Bundesamt zeigen, nimmt die Zahl der Deutschen im erwerbsfähigen Alter bis 2060 ab.
Verbraucherpreise
Zahlen vom Statistischen Bundesamt, Statistischem Reichsamt und der DZ Bank AG zeigen den Zusammenhang zwischen technischem Fortschritt und Verbraucherpreisen auf.

Unsere Kunden bekommen also nach außen hin maßgeschneiderte Lösungen, aber nach innen, im Kern, sind sie gleich. So nutzen wir alle Skaleneffekte, die sich ergeben. Der Kunde sieht verschiedene Lösungen - immerhin inzwischen für rund 300.000 vernetzte Systeme in den unterschiedlichsten Anwendungsfällen, aber im Kern sind sie verwandt, und das macht es uns leichter, Systeme beispielsweise im Sicherheitsbereich vernünftig abzuschirmen.

Wir sitzen Operations- und IT-Verantwortlichen gemeinsam gegenüber

Wie erleben Sie die Rolle des CIOs bei Ihren Kunden? Nimmt er dort das Heft in Sachen Digitalisierung und Industrie 4.0 in die Hand?

Siegfried Russwurm: Der CIO ist auf jeden Fall viel mehr Wertschöpfungspartner als früher. Wir erleben immer öfter, dass wir Operations- und IT-Verantwortlichen gemeinsam gegenübersitzen. Wir bringen sie auf unserer Seite mit Branchenexperten zusammen, die genau wissen, wie die Prozesse in der neuen Welt laufen. Manchmal hat man aber auch mit Kunden zu tun, die noch in der alten Welt zu Hause sind. Diese adressieren wir dann eher konventionell. Das Schöne ist: Man kann sehr genau sehen, welche Fortschritte dort gemacht werden, wo IT und Operations zusammenarbeiten. Dort entstehen die richtig spannenden Projekte, bei denen auch für uns die Grenze dessen, was geht, erweitert wird.

Übrigens sitzen immer öfter auch Vertreter unserer eigenen IT-Organisation mit am Tisch. Sie stellt einem Kunden bei Bedarf beispielsweise eine sichere Private Cloud aus unserem Rechenzentrum zur Verfügung. Unsere interne IT steuert also einen Teil zum Leistungsangebot für unsere Kunden bei. Und so, wie sich das bei uns verändert, verändert es sich auch bei vielen Kunden. Das ist die neue Welt: Der CIO sitzt mit am Tisch.

Siemens hat bewusst keinen Chief Digital Officer berufen

Hat Siemens eigentlich einen Chief Digital Officer?

Die Digitalisierung ist bei Siemens allgegenwärtig. Gesteuert werden muss sie laut CTO Russwurm von jedem Mitarbeiter und nicht von einem einzelnen Chief Digital Officer.
Foto: Siemens

Siegfried Russwurm: Nein. Unser Glaubensgrundsatz ist, dass an der Digitalisierung niemand vorbeikommt. Es ist gefährlich, eine Digitalisierungsorganisation zu schaffen, denn man signalisiert dem Rest der Organisation: Dafür haben wir jetzt einen Chief Digital Officer, der kümmert sich schon darum. Ihr müsst es nicht tun. Nehmen wir einmal unsere Großgetriebesparte, in der wir Getriebe für Windturbinen oder für Zementmühlen entwickeln: Heute wird kein Großgetriebe mehr gebaut, das nicht mit Sensorik für "Condition Monitoring" ausgestattet ist. Vor fünf oder sechs Jahren war die Frage, ob dieses Geschäft irgendetwas mit Digitalisierung oder Software zu tun hat, noch ein kontroverses Thema.

Der Fortschritt bei Industrie 4.0, so heißt es immer wieder, leide unter fehlenden Standards. Können Sie dem zustimmen?

Siegfried Russwurm: Die intellektuelle Vorarbeit, wie sie hier zum Beispiel von einer Organisation wie Acatech geleistet wurde, ist exzellent und wichtig. Was wir aber aus der Industriesicht im Jahre 2014 festgestellt haben, ist, dass wir jetzt die PS auf die Straße bringen müssen - für echte industrietaugliche Anwendungen. Dazu müssen Wertschöpfungsnetzwerke übergreifend entstehen, in denen die Anwender einen Mehrwert für ihr Geschäft sehen. Deshalb haben wir zur Hannover Messe im Frühjahr 2015 angekündigt, dass wir jetzt die Arbeitsweise ändern. Weg vom intellektuellen, forschungsgetriebenen Ansatz, hin zu: "Welche Anwendungsszenarien sind Beispiele in den Unternehmen dafür, wie die Plattform Industrie 4.0 mit ihren Möglichkeiten das Geschäft unterstützt?"

Wir bringen so die Dinge auf den Punkt und erzeugen Relevanz in der deutschen Industrie. Da gehört natürlich die Standardisierung dazu. Man muss allerdings die Erwartungshaltung ein bisschen kalibrieren. Wer glaubt, man könne Digitalisierung in der Industrie so vereinfachen, dass es einen Stecker gibt, und dann spricht jeder mit jedem, der verkennt die Situation.

"Kein Lock-in, keine Geiselhaft"

Sind Standards zu Industrie 4.0 demnach eine Illusion?

Siegfried Russwurm: Es muss und wird immer unterschiedliche Implementierungen und Lösungen geben, die im Wettbewerb stehen. Was uns aber mit unserer vorwettbewerblichen Plattform ganz gut gelingt, ist, einen Rahmen zu schaffen, sodass für einen Nutzer der Wechsel zwischen verschiedenen Anbietern keine Katastrophe ist. Kein Lock-in, keine Geiselhaft. Es gibt einen etwas sperrig klingenden Namen für diesen Rahmen, der heißt Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0, kurz RAMI 4.0. Das ist keine einheitliche Architektur, auf eine solche hätten wir uns im Wettbewerb niemals einigen können und dürfen. Aber es ist ein Architekturrahmen, innerhalb dessen sich Kunden und Anbieter bewegen können.

Wo ganze Geschäftsmodelle auf Daten basieren, werden Themen wie Softwareentwicklung, Daten-Management und IT-Security zur Überlebensfrage.
Foto: Siemens

Mit diesem Rahmen sind wir auf die Normungsgremien zugegangen, haben aber die Plattformen selbst nicht standardisiert. Wir warnen auch davor zu glauben, dass das funktionieren könnte. Wir brauchen weltweite Normen und eine weltweit vernetzte Industrie. Das hat dann dazu geführt, dass wir unter anderem mit dem Industrial Internet Consortium (IIC) zusammenarbeiten.

Wir haben verstanden, wo die Unterschiede sind und wo die Überlappungen. Jetzt gehen wir in die Normungsgremien und sagen, was sinnvolle Normen sind. So bewegen sich die Dinge bei den großen Anbietern in eine Richtung mit gemeinsamen Strukturen, aber auch ausreichenden Differenzierungsmöglichkeiten.

"Testbeds" gemeinsam zu nutzen ist sinnvoll

Wäre es nicht vernünftig, die weltweiten Standardisierungsgremien an einen Tisch zu holen und einheitliche Standards und Zertifizierungen herauszugeben?

Siegfried Russwurm: So etwas passiert eher bottom-up als top-down. Das entscheidet der Markt. Wenn Sie Standards top-down festlegen, dann hören Sie in kürzester Zeit 1.000 Gründe, warum das nicht funktionieren kann. Wichtig ist ja, dass es für den Nutzer einfach und fehlerfrei läuft - je kleiner der Betrieb, desto wichtiger. Wir halten es für einen guten Ansatz, wissenschaftliche Testumgebungen, sogenannte Testbeds, gemeinsam zu nutzen und so Konformität praxisnah darzustellen.

Wir haben in Deutschland mit "Labs Network Industrie 4.0" einen Verein gegründet, mit dem wir solche Testbeds organisieren; gleichzeitig reden wir mit vielen Partnerorganisationen oder internationalen Pendants, ob wir die Versuchsreihen und potenziellen Standards, die wir testen, synchronisieren können. So kann der Mittelständler, der in Karlsruhe in das Testbed geht, prüfen, ob seine Lösung auch mit den Standards anderer Länder kompatibel ist.

Von autonomem Fahren ist überall die Rede, doch in den Werkshallen der Autobauer geht es erst einmal um autonomes Produzieren.
Foto: Siemens

Lassen Sie uns über die gesellschaftlichen Folgen der Vierten Industriellen Revolution sprechen. Viele Marktforscher glauben, dass im großen Stil Arbeitsplätze wegfallen werden.

Siegfried Russwurm: Ich bin kein Fan des Begriffs Vierte Industrielle Revolution. Erstens: Als gelernter Produktioner weiß ich: Es geht immer um evolutionäre Veränderungen. Zweitens: Es steht wohl erst unseren Enkeln zu, irgendwann zu sagen: Damals, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wurde etwas wirklich Revolutionäres gemacht.

Ich vergleiche das, was heute stattfindet, immer mit der Dritten Industriellen Revolution in den 1980er-Jahren. Damals, auf dem Gipfel der Automatisierung, haben wir ähnlich diskutiert. Es hieß, dass es Heerscharen von Arbeitslosen geben würde. Das ist nicht eingetroffen. Ich bin Optimist in dieser Frage. Wir werden sehen, dass die Digitalisierung viel weniger Einfluss auf die Kollegen in den Fabriken haben wird, weil Automatisierung und Digitalisierung am Shop Floor schon längst stattgefunden haben.

Wenn Sie heute mit einem unserer Mechatroniker reden, der eine komplexe, hochgradig vernetzte Werkzeugmaschine bedient, dann ist der auch am Browser fit. Er hat einen Thin-Client, über den er die Anlage steuert, und nicht mehr diverse Knöpfe an der Maschine. Auf seinem Handheld kann er im Prinzip alles tun.

IDC-Studie "Industrie 4.0 in Deutschland 2015"
Die größten Herausforderungen von Industrieunternehmen in den nächsten zwei Jahren
Die Sicherheit in Fertigungsbetrieben ist eine der Herausforderungen.
Die Entwicklungsgeschichte der vierten industriellen Revolution
Immer mehr Unternehmen setzen sich mit Industrie 4.0 auseinander.
Die Industriebetriebe hätten am liebsten "Out-of-the-Box"-Lösungen.

Jobs werden eher in den klassischen Angestelltenbereichen wegfallen. Den Disponenten, der noch auf die Lagerbestände schaut und, wenn ein bestimmter Level erreicht ist, beim Lieferanten anruft, um nachzubestellen - der könnte es künftig schwerer haben. E-Auctions verändern die Regeln in Einkauf und Vertrieb. Sind die Regeln einmal festgelegt und die Spezifikationen vollständig digital beschrieben, dann muss man sich nur noch im Portal des Kunden qualifizieren, und schon ist man bei der E-Auction mit dabei. In Zukunft reden dabei wahrscheinlich nur noch die Systeme von Kunden und Anbietern miteinander - ohne dass Menschen dabei eingreifen.

Was geschieht mit hoch qualifizierten Entwicklern? Machine Learning, Deep Learning - das sind Trends, die auch solche Menschen betreffen.

Was Entwickler nervt, wird automatisiert

Siegfried Russwurm: All die Dinge, die heute jeden Ingenieur "nerven" und ihm die Zeit nehmen, die er für kreative Aufgaben bräuchte, werden zunehmend automatisiert - zum Beispiel Dokumentationen anfertigen. Die Ingenieure kümmern sich künftig um den innovativen Teil, und alles, was daraus algorithmisch ableitbar ist, macht eine Maschine.

Der Dreh- und Angelpunkt ist das Thema Qualifizierung. Wir müssen es schaffen, unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit in die neue Welt zu nehmen. Dazu braucht man Mitarbeiter, die bereit sind, zu lernen, aber auch Führungskräfte, die Anreize geben.

Automatisierung und Digitalisierung am Shop Floor haben längst stattgefunden.
Foto: Siemens

Der große Showstopper für Industrie 4.0 ist die Security. Wie viele Ihrer 32.100 Entwickler sind Security-Experten, und wie sind diese in die Entwicklungsprozesse eingebunden?

Siegfried Russwurm:Wir haben eine dreistellige Anzahl von Menschen, die nichts anderes tun, als sich um IT-Security zu kümmern. Die Kollegen machen auch Intrusion Tests - innerhalb von Siemens für unsere Systeme, aber auch an Zielsystemen, wo unsere Produkte beim Kunden im Einsatz sind. Sie versuchen, in diesem "Rat Race" zwischen dem Aggressor und dem Defense Play auf der Höhe der Zeit zu bleiben.

Ich sage unseren Kunden aber auch: Keiner kann vollständige Sicherheit garantieren, wir können nur die Hürden ständig höher legen. Auch da gibt es vielfältige Partnerschaften. Wir arbeiten eng mit Forschungsinstituten zusammen, beispielsweise dem Fraunhofer AISEC in Garching. Dort forschen wir daran, wie wir die Authentifizierung von Systemen so gestalten können, dass sie auf der einen Seite nicht prohibitiv, auf der anderen Seite aber genügend sicher ist.

Unsere größte Sorge ist die installierte Basis. Nehmen Sie das in der Szene schon fast sprichwörtlich berühmte Wasserwerk in Illinois, das vor ein paar Jahren gehackt wurde. Es war Ende der 1990er-Jahre automatisiert worden, damals war die Remote-Anbindung State of the Art verschlüsselt. Heute könnten unsere Youngsters diese Form der Verschlüsselung auf dem Weg zur Kantine knacken. Wir müssen den Anwendern daher immer wieder erklären, dass die Update-Zyklen aufgrund der Sicherheitsproblematik ausgesprochen kurz sind und dass sie sich kümmern und gegebenenfalls auch von Experten helfen lassen müssen.