Emotion Tracking

Was der Online-Kunde unbewusst preisgibt

21.09.2018 von Karin Quack
Kaufentscheidungen sind emotionale Entscheidungen, selbst dann, wenn sie sich vordergründig auf Preis- und Qualitätsvergleiche stützen. Zudem sind sie messbar: Über biometrische Daten und mit Hilfe des Emotion Tracking lassen sich unbewusste Bewertungsprozesse sichtbar machen.

Die Kurven auf dem Bildschirm bleiben flach: Hirnaktivität, Herzfrequenz, Atemtiefe und Hautfeuchtigkeit zeigen keine Reaktion; auch der Gesichtsausdruck des Probanden hat sich nicht verändert. Dabei hat die Warenkorbfunktion des Webshops doch gerade angezeigt, dass ein "Free Gift" auf ihn wartet. Eine weibliche Testperson hätte daraufhin wohl alle körperlichen Anzeichen freudiger Erregung gesendet, denn das Testobjekt ist der Webshop des trendigen Kosmetik-Labels "Rituals".

Dem jungen Mann, der vielfach verkabelt vor den beiden Bildschirmen sitzt, ist die kostenlose Dreingabe offenbar ziemlich egal - umso mehr, als er den Kauf vor dem Drücken des "Buy"-Buttons abbrechen soll. Test- und reale Kaufsituation sind also nicht ganz vergleichbar. Doch das Prinzip der Demonstration wird trotzdem deutlich: Es geht um "Emotion Tracking", das Allerneueste auf dem Gebiet des digitalen Marketings. Gegenstand der Untersuchung sind die unwillkürlichen Reaktionen potenzieller Kundinnen und Kunden auf die Präsentation von Produkten im Webshop - mit dem Ziel, das Einkaufserlebnis möglichst angenehm zu gestalten und so die Loyalität gegenüber dem Anbieter zu stärken.

Elektroden an der Handfläche und dem Zeigefinger messen die emotionale Aktivität und das Interesse des Probanden.
Foto: Karin Quack

Begrenzte Möglichkeiten der Online-Shops

Ein Ladengeschäft in der realen Welt hat hierfür viele Möglichkeiten: angefangen von der auf die Zielgruppe abgestimmten Musikuntermalung über angenehme oder aufregende Düfte bis zur persönlichen Ansprache durch die Verkäuferin oder den Verkäufer. Die Optionen eines Online-Shops sind dagegen beschränkt: Duft aus dem Computer gibt es noch nicht; Musik ist problematisch, beispielsweise wenn die Seite unterwegs oder gar am Arbeitsplatz besucht wird; und der persönlichen Ansprache durch einenChatbot sind eben doch Grenzen gesetzt.

Trotzdem möchten die Online-Shop-Betreiber ihren Kunden ein emotional ansprechendes Einkaufserlebnis verschaffen. Und das möglichst auf allen Stationen der "Customer Journey", damit sie oder er erst gar nicht auf die Idee kommt, zwischendurch auszusteigen.

Über biometrische Daten und mit Hilfe des Emotion Tracking lassen sich unbewusste Bewertungsprozesse von Online-Kunden sichtbar machen.
Foto: metamorworks - shutterstock.com

Manchen Anbietern reicht es, das Klick-Verhalten der Besucher zu analysieren, andere ziehen es vor, die Kunden nach dem Einkauf zu befragen. Wer es genauer wissen will, lädt Kontrollgruppen zum Tiefeninterview ein. Die Ergebnisse sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, weil die so gewonnenen Antworten schon durch das Bewusstsein der Befragten gefiltert sind. Die unbewussten Bewertungen werden dabei überlagert.

Viel aussagestärker sind direkte Reaktionen, die nicht den Umweg über das Großhirn nehmen. Diese unmittelbaren Signale manifestieren sich auf der körperlichen Ebene, beispielsweise durch beschleunigten Herzschlag, vertiefte Atmung oder stärkere Schweißabsonderung. Nach heutigem Stand der Technik - und den gültigen Privacy-Regeln - lassen sich solche Phänomene nicht individuell abfragen. Doch in Tests wie dem beschriebenen werden sie bereits untersucht, mit repräsentativen Probandengruppen und selbstverständlich anonymisiert.

Fünf Werte für eine umfassende Einsicht

Ralf Stürmer ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der FOM Hochschule für Ökonomie und Management in Wuppertal sowie Geschäftsführer der Psyrecon Research & Consulting, einer privaten Forschungseinrichtung. Seit etwa zwei Jahrzehnten beschäftig er sich intensiv mit dem Thema Psychophysiologie, also der Wechselbeziehung zwischen Geist und Körper. Stürmer nimmt Tests zum Thema Emotion Tracking vor - unter anderem im Auftrag der Digitalagentur Namics.

Der Wirtschaftspsychologe Ralf Stürmer verwendet viel Zeit und Sorgfalt auf die korrekte Verkabelung.
Foto: Karin Quack

"Wir nutzen fünf unterschiedliche Methoden plus Eye-Tracking, denn ein einzelner Faktor kann verschleiernd wirken", erläutert Stürmer, während er der Testperson, einem Namics-Mitarbeiter, die Elektroden anlegt. Eine Klammer auf dem linken Zeigefinger misst die Atemtiefe ("Pulse-Volumen-Amplitude") und damit das Interesse der Testperson an dem, was sie wahrnimmt. Zwei Elektroden auf der linken Innenhandfläche nehmen Schweißabsonderungen der Haut ("elektrodermale Aktivität") wahr und zeigen so die emotionale Aktivität des Probanden an - sowohl positive Erregung als auch negativen Stress.

Eine Elektrodengruppe auf der linken Brustseite beobachtet den Herzschlag, also die mentale Belastung oder den Grad der Entspannung. In eine Haube über dem Schädel eingelassen sind die Elektroden zur Messung der Hirnströme als Indikatoren für Konzentration und Denkleistung ("kognitiven Aufwand").

Weil einige dieser Werte durchaus ambivalent sind, wird auch die Mimik der Testperson herangezogen. Elektroden verzeichnen die Muskelbewegungen um den Mund und die Nase sowie auf der Stirn, denn Lächeln, Naserümpfen und Stirnrunzeln sind nahezu eindeutige Anzeichen für bestimmte emotionale Bewertungen.

Ist der Proband sorgfältig verkabelt, werden seine Ausgangswerte ermittelt. Auf dem Bildschirm zeigen sich jetzt fünf Messkurven. Während die Testperson durch denWebshop navigiert, sollen die in kurzen Abständen aktualisierten Werte ihre - oder in diesem Fall: seine - unbewussten Einordnungen und Bewertungen widerspiegeln. Am Ende des Versuchs steht eine kurze Befragung des Probanden.

Aus Tendenzen erwachsen Handlungsempfehlungen

Im Ernstfall würde der Test von mindestens zwölf Probanden absolviert. "Am Anfang steht immer die Definition der Fragestellung", berichtet die Diplompsychologin und Neurowissenschaftlerin Vera Pichardo, die als Consultant bei Namics arbeitet: "Dann entwickeln wir das Studiendesign - mit der Definition der Stichprobe und der Testaufgabe sowie dem Studienablauf." Die eigentliche Messung übergibt Namics dann an den Psychophysiologen Stürmer.

Die Neurowissenschaftlerin Vera Pichardo leitet die Tests auf Seiten der Online-Agentur Namics.
Foto: Namics

Nicht immer sind alle fünf Parameter mitsamt dem Eye-Tracking nötig, aber je mehr Stimuli zum Einsatz kommen, desto größer sollte die Anzahl der Testpersonen sein. Nach der Messung werden die Daten mit Hilfe mathematischer und statistischer Verfahren aufbereitet und ausgewertet. Am Ende stehen die "Insights", das Erkennen von Tendenzen und Schwachstellen. Die wiederum münzt Namics in Handlungsempfehlungen um.

Die vorgeschlagenen Änderungen drehen sich häufig um die zielgruppengerechte Tonalität von Sprache und Bild sowie das Design des Webshops, vielfach aber auch um die Usability. Ein falscher Farbton oder eine zu schnoddrige Ansprache wird im Allgemeinen eher verziehen als eine umständliche Handhabung oder nervende Popups.

Namics bietet seinen Kunden an, deren Website im Einklang mit den Erkenntnissen weiterzuentwickeln. Das erste Unternehmen, das dieses Angebot nutzt, ist der Autoverleiher Sixt. Neben der Interaktion der Nutzer mit der Website lässt sich auf diese Weise beispielsweise auch die Wirkung von Kommunikationsmaßnahmen austesten.

Übereinstimmung von 90 Prozent

"Emotionen steuern zwar das Verhalten des Individuums", stellt Pichardo klar, "sie lassen sich aber vom Individuum nicht steuern." Es handle sich ja um automatische Bewertungsprozesse, die auf einer unbewussten psychischen Ebene stattfänden. Damit unterschieden sie sich von den Gefühlen, welche die Emotionen bereits "interpretierten". Wer die tatsächliche Wirkung eines Produkts oder eines Service auf den Kunden herausfinden will, muss also zur Quelle zurückgehen und die körperlichen Reaktionen beobachten.

In einer Offline-Studie haben Stürmer und seine Co-Autorin Jennifer Schmidt herausgefunden, dass die verbalen Aussagen nur zu 18 Prozent mit den beobachteten Kaufentscheidungen übereinstimmten. Die Kongruenz zwischen dem, was die Elektroden meldeten, und dem Verhalten der Probanden lag hingegen bei 90 Prozent. "Die objektive Erforschung der Emotionalität erlaubt es, die wirklichen Ursachen des Verhaltens zu verstehen", fasst Pichardo zusammen: "So können die wahren Bedürfnisse der Kunden verstanden und erfüllt werden."