Was ist Entgrenzung?

26.01.2022 von Thomas Kölblin-Herzig  IDG ExpertenNetzwerk
Aktuell wird häufig von Entgrenzung der Arbeit gesprochen. Wie Menschen die Arbeits- und Lebensform miteinander verbinden können, erklärt dieser Artikel.
Die Multitasking-Fähigkeit ist für viele Eltern seit der Corona-Pandemie ein Muss geworden. Klare Grenzen zwischen Arbeit und Familie sollten ebenfalls ein Muss sein.
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In aktuell herausfordernden Zeiten avanciert Entgrenzung zum stillen Chart Breaker. Die scheinbar logische Konsequenz Arbeit und Leben noch effizienter zu machen. Momentan sind wohl die spürbarsten Formate, Home-Office und Home-Schooling. Mittlerweile geht dieses mobile oder flexible Arbeiten jedoch mit mentalen und psychischen Themen einher. Aus der anfänglichen Entlastung mit dieser Arbeitskooperation, wird mehr und mehr Belastung und Stress sogar Überlastung. Eine Abgrenzung ist schwer möglich. So wundert es nicht, dass in den letzten Wochen und Monaten uns immer wieder der Begriff Entgrenzung begegnet.

Entgrenzung - Definition

Entgrenzung bedeutet, dass sich Grenzen in strukturellen, alteingesessenen Themenfeldern aufweichen, die Grenzen und Lebensbereiche verschmelzen. Der Beruf im Home-Office und Privates verschwimmen - die Grenzen werden fließend. Der Feierabend kennt keine feste Zeit mehr. Das ist Entgrenzung der Arbeit, die Entgrenzung unserer Zeit, die Entgrenzung unserer Psyche und Gesundheit.

Ein Ursprung liegt im demographischen Wandel. Neben den Arbeitsbedingungen und Arbeitsangeboten, geriet auch schnell der verankerte Arbeitsort in den Fokus. Getrieben durch die modern organisierte Industrie und die neuen Dienstleistungen. Die Globalisierung forderte nicht nur die neue Organisation der Güterproduktion, auch Dienstleistungen mussten für den Kunden effizient und zugleich flexibel sein. Diese Sichtweise und Entwicklung war ein Wendepunkt der Zeit- und Ortunabhängigkeit. Der Beginn der Entgrenzung der Arbeit.

24 Stunden erreichbar - zwischen Büroarbeit und Hausarbeit.
Foto: Thomas Kölblin-Herzig/HarryderZeichner

Im Spannungsfeld der Entgrenzung

Rollenverständnis und Lebenskonzepte haben sich längst aus der klassischen Ecke heraus weiterentwickelt. Deshalb stehen wir alle mehr oder weniger in diesem organisatorischen Spannungsfeld der Entgrenzung:Eltern, zuhause einen 8-Stundentag organisierend. Videokonferenzen, Telefon und das tägliche To Do. Die Kinder sind nebenan im Home-Schooling. Mit einem Schmunzeln wird vom neuen Berufsbild: kochender Berater mit Schwerpunkt Zirkusdirektor gesprochen. Mit einer gesteigerten Erwartungshaltung der sofortigen Erledigung, gerät unser Privatleben weiter unter Druck - Das Menschsein wird zum Funktionieren reduziert und die Grenzen von Privat und Arbeitsort bestehen nicht mehr. Die äußerlichen Strukturen von Leben und Arbeit brechen.Doch was machen wir nun daraus? Ein Scheideweg eröffnet sich. Für Jeden persönlich.

24 Stunden arbeiten, belastetet die gesamte Familie.
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Wo ist mein persönlicher Status Quo?

In den letzten Monaten haben wir viele Kniffe und Tricks kennengelernt und erfahren, wie die Balance im Home-Office besser funktionieren kann. Aber wir brauchen nicht nur Rahmenbedingungen und Tools, um nachhaltig unsere Gesundheit, unser Leben, auch die Entgrenzung der Arbeit zu gestalten. Wir benötigen die Offenheit und den Mut zum Verständnis unserer Stressoren, unserer Grenzen. Die Entgrenzung von Arbeit fordert uns heraus, unsere Fähigkeiten, Motive und Emotionen zu verstehen und zu sortieren.

Tipps fürs Arbeiten im Homeoffice
So profitieren Arbeitnehmer und Arbeitgeber
Die Arbeit im Home-Office ist aufgrund der COVID-19-Pandemie für viele Arbeitnehmer und Arbeitgeber zur Arbeitsnorm geworden - gewollt und ungewollt. Die Bedingungen der Pandemie stellen Heimarbeiter vor besondere Herausforderungen, aber auch ohne die Corona-Einschränkungen gilt es, im Home-Office auf die mentale Stärke und Gesundheit zu achten. Folgende Tipps sollten Unternehmen und Angestellte beachten, um motiviert und produktiv arbeiten zu können.
Arbeitspensum im Blick behalten
Arbeitgeber sollten besonders die Wahrnehmung ihrer Mitarbeiter in Bezug auf ihr Arbeitspensum im Blick behalten. Nicht alle haben den Mut zu sagen, überfordert zu sein. Regelmäßige Einzelgespräche, in denen sich auf vertrauter Ebene nach dem Wohlbefinden und der Auslastung erkundigt werden kann, sind jetzt entscheidend. Das ist entweder im persönlichen Videogespräch oder über digitale Werkzeuge möglich. Hier können vor allem Feedback-Tools helfen, womit Angestellte idealerweise einmal in der Woche anonym Feedback geben können.
Zusätzliche Benefits für Angestellte anbieten
Gerade jetzt sollten Unternehmen darauf achten, dass die Benefits stimmen. Eine Möglichkeit wäre, die Urlaubstage zu erhöhen, sofern sich das einrichten lässt. So haben Angestellte als Ausgleich mehr Zeit für sich oder ihre Familie. Angefallene Überstunden eignen sich zudem, um nun für die Freizeit genutzt zu werden. Zusätzlich sollten Betriebe das Homeoffice ihrer Angestellten mit entsprechenden Büromöbeln und IT ausstatten, damit die Arbeit von zu Hause produktiv bleibt.
Home-Office vom Privatleben trennen
Beschäftigte sollten darauf achten, dass der Arbeitsbereich vom häuslichen Alltag abgegrenzt wird und der Arbeitsplatz nicht dort ist, wo auch der Feierabend verbracht wird. Der Computer sollte also, wenn möglich, in einen separaten Raum platziert werden, um zur Ruhe zu kommen. Dadurch gelingt es leichter in den Feierabendmodus zu wechseln. Und auch das Mittagessen sollte nicht vor dem Laptop eingenommen, sondern bewusst vom Arbeitsplatz abgegrenzt werden.
Bewusste Pausen einlegen
Die Mittagspause oder den Feierabend sollten Angestellte für einen Gang an die frischen Luft nutzen, um gedanklich von der Arbeit abzuschalten. Dafür können sie ihren Kollegen über die Statusanzeige in Chat-Programmen signalisieren, dass sie gerade zu Tisch oder in einer Pause sind. Es wäre auch möglich, mit Emojis kleine Codes vereinbaren: Ein Pizza-Emoji hinter dem eigenen Account-Namen steht für die Mittagspause, ein Computer-Emoji für die Arbeitsphase.
Feierabend ist Feierabend
Direkt nach Arbeitsende sollte der Computer ausgeschaltet werden, auch das Smartphone kann nach der Arbeit für eine gewisse Zeit auf Flugmodus gestellt werden, um einen bewussten Übergang von Arbeit und Feierabend sicherzustellen. Beschäftigte können auch hier ihren Kollegen über die Statusanzeige oder mit Emojis signalisieren, dass sie im wohlverdienten Feierabend sind. Manchmal kann es auch schon helfen, von den Arbeitsklamotten in eine Jogginghose zu wechseln, um geistig mit dem Arbeitstag abzuschließen.
Erwartungen anpassen
Sowohl als Chef als auch als Angestellter heißt es, Erwartungen an die neuen Umstände anzugleichen, Verständnis und Empathie zu zeigen, eigene Grenzen kennenzulernen und zu setzen - "business as usual" ist derzeit kaum möglich. Arbeitgeber, aber auch Angestellte sollten klare und faire Ziele vereinbaren. Hierfür hilft eine strukturierte Liste zu allen Arbeitsaufträgen, die priorisiert werden. Wenn es leichter ist, die Arbeit zu erledigen, nachdem die Kinder ins Bett gegangen sind, dann sollten Angestellte die Möglichkeit haben, die Arbeitszeiten an ihre Bedürfnisse und Lebensumstände anzupassen.
Kein schlechtes Gewissen, wenn nicht alles geschafft wurde
An manchen Tagen ist man produktiver als an anderen. Daher sollten sich Angestellte auf die wichtigen Projekte konzentrieren, wenn sie einen Tag mit wenigen Unterbrechungen haben. Kleinere Aufgaben sollten auf Tage mit weniger Konzentrationslast aufgeschoben werden, sofern möglich. Mitarbeiter sollten auch immer die Möglichkeit haben, ihre Kollegen anzusprechen und um Rat oder Unterstützung bitten zu können - denn jeder kennt solche Tage oder Aufgaben, in denen einfach der Wurm drin ist und nichts zu laufen scheint. Empathie und Verständnis ist also gerade jetzt das Gebot der Stunde - das sollte sich auch in der Unternehmenskultur niederschlagen, damit sich die gesamte Belegschaft gehört und inkludiert fühlt.

Um den Stress zu mildern und die Gefahr des Burnouts auszusortieren, sollten wir Antworten zu den eigenen Prioritäten und Motiven finden. Mit diesem Schritt treten Sie aus dem Scheideweg heraus. Ist es unsere persönliche To-Do-Liste oder sind es äußere Faktoren, die uns antreiben. Folgende zwei Fragen können helfen eigene Grenzen zu setzen.

  1. Was versetzt mich aktuell in Stress?
    Für diese Frage hilft das Stress-Dashboard. Eine kleine Methode, die wie ein Radar auf jeden Zettel passt und immer griffbereit ist. So funktionierts: Zeichne "Dich" in die Mitte eines Blattes. Alles was aktuell stresst, schreiben Sie in "rot" auf die linke Seite und Ihre Energie-Geber mit "grün" auf die rechte Seite.
    Das Stress-Dashboard gibt in 3 Minuten schnelle Antworten und macht Stress-Faktoren sichtbar. Der größte Druckpunkt kann angegangen werden. Das Stress-Dashboard zeigt aber auch, was guttut und wo Sie Energie auftanken. So kristallisiert sich der größte Druckpunkt heraus. Zum Beispiel gezielt eine Feierabendzeit definieren und konsequent keine E-Mails mehr ab diesem Zeitpunkt lesen.

  2. In welcher Rolle agiere ich gerade, agiere ich privat oder im Job?
    Die Klarheit, in welcher Rolle und in welchem Rahmen Sie sich gerade befinden, hilft Ihnen, nicht ständig auf vielen Hochzeiten zu tanzen. Eben nicht mit einem Auge auf dem Laptop oder Handy neben der Aufgabenbegleitung der Kinder. Sie agieren bewusst in privater Verantwortung oder im beruflichen Feld. Sie fokussieren Ihre Aufmerksamkeit. Bekanntlich folgt die Energie dem Fokus. Ihrem Fokus. Sie schonen Ihre Energie in Körper und Geist.

Die Belastung im Home-Office führt an ein Straßenkreuz.
Foto: Thomas Kölblin-Herzig/HarryderZeichner

Unser Stresserleben, aber auch unser Wohlbefinden werden an der Wurzel gepackt. Wir führen uns selbst, bleiben im Aktionsmodus und reagieren nicht nur stetig in Stress- und Überlastungssituationen. Damit generieren wir unsere Innere Haltung für entgrenzte Zeiten.

Der Ausweg aus der Entgrenzung der Arbeit

Unsere innere Haltung ist zwar nicht zu messen, sie ist jedoch unglaublich wichtig. Albert Einstein würde es so sagen: "Nicht alles was man zählen kann zählt, aber alles was man nicht zählen kann zählt oft umso mehr."

Die innere Haltung stärkt unsere psychologische Architektur und ist als Soft Skill für Jeden permanent spürbar. Sie verleiht zudem Souveränität im Umgang und im Handeln mit der Entgrenzung der Arbeit, da sie ein wirkungsvoller Helfer in instabilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Zeiten ist.

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Die innere Haltung wirkt in 3 Richtungen:

  1. Sie markiert die persönliche Haltung mit der Einstellung aus eigenen Erfahrungen und Werten. Sie ist die Perspektive auf die Dinge und zeigt, was persönliche Priorität hat.

  2. Diese Haltung wirkt nach außen. Unsere Emotionen und die Motive bekommen eine Richtung und sind Schubkraft. Damit geben sie dem persönlichen Verhalten einen Rahmen.

  3. Die innere Haltung ist im wahrsten Sinne des Wortes das Rückgrat. Sie ist die innere Statik, die uns aufrichtet für den Blick voraus.

Familie und Job. Zufriedenheit ist eine Entscheidung.
Foto: Thomas Kölblin-Herzig/HarryderZeichner

Die innere Haltung macht uns somit gelassen, flexibel und souverän im Handeln. Unser Bewusstsein konzentriert sich auf die eigenen Ressourcen und grenzt das eigene Tun ab. Damit werden Sie situativ, flexibel und sind handlungsbereit.

Sie entscheiden, wo und wann die Entgrenzung der Arbeit erfolgt. Heute, in dieser Woche, in diesem Monat oder in diesem Jahr. Mit Ihrer Gewissheit und der inneren Haltung entscheiden Sie mehr als nur digital detox - offline zu sein. Sie entscheiden über die Qualität der Balance zwischen Arbeit und Leben.

Setzen Sie der Entgrenzung Ihre persönlichen Grenzen

Sie wollen die Entgrenzung beherrschbar machen, gekonnt balancieren? Umdenken hilft! "Nur anderes Denken bringt andere Lösungen", stellte Albert Einstein klar. Starten Sie Ihr anderes Denken mit anderen Entscheidungen. So können erste Schritte gelingen:

Die Auferstehung des Feierabends.
Foto: Thomas Kölblin-Herzig/HarryderZeichner

Nicht die Dinge beunruhigen, sondern der Blick auf die Dinge lässt das Gefühl entstehen. Sie gestalten das Storyboard zu Ihrem Leben. Entgrenzung der Arbeit bedeutet nicht, das Spannungsfeld zu ertragen. Treffen Sie Ihre bewusste Entscheidung. So finden Sie Feierabend und Ihre Chilling-Zone! Sie, Ihr Körper und Ihr Umfeld können aufatmen. (bw)