Internet-Adressen

Wie Sand am Meer

08.07.2002 von Patrick Goltzsch
Die EU-Kommission macht Druck: Da bis 2005 das Reservoir der klassischen Web-Adressen erschöpft sein dürfte, soll der Übergang zum "Internet der nächsten Generation" beschleunigt werden.

Die EU möchte dem Internet-Protokoll Version 6 (IPv6) zum Durchbruch verhelfen, weil es die "technische Voraussetzung für das Zusammenwachsen von Internet und Mobilkommunikation" darstelle. Durch die zunehmende Verknappung der Adressen - künftig noch verstärkt durch ständig mit dem Netz verbundene Geräte - stehe die Wettbewerbsfähigkeit Europas auf dem Spiel, argumentiert man in Brüssel.

Die Angst vor einem Mangel an Adressen ist nicht unbegründet. Denn der Adressraum des jetzigen Internet-Protokolls (IPv4) - weltweit sind 1,9 Milliarden Adressen vergeben - ist höchst unterschiedlich verteilt. Da Ursprung, Entwicklung und Verwaltung des Internet-Protokolls weitgehend in US-amerikanischer Hand lagen, ist ein erhebliches geografisches Ungleichgewicht entstanden. Während die USA fast unbegrenzt über IP-Adressen verfügen, sind diese in anderen Regionen knapp bemessen. So besitzt etwa das Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge ein Netz, in dem sich mit rund 16 Millionen Rechnern mehr Adressen ansprechen lassen als in ganz China. Doch im Web sind gerade 90000 vom MIT verwendete Adressen zu identifizieren. Bei linearer Fortschreibung der Vergabepraxis für die restlichen IP-Adressen sind Engpässe in wenigen Jahren vorgezeichnet.

Das Szenario fehlender IP-Adressen wird seit mehr als zehn Jahren diskutiert. Der in den 70er-Jahren entworfene und jetzt gültige Standard erlaubt etwas mehr als 4,2 Milliarden Adressen. Davon können bis zu 3,5 Milliarden für Endgeräte verwendet werden, da die Netze für die interne Verwaltung auch selbst Adressen brauchen. Nach Lösungen für das Problem sucht das Standardisierungsgremium des Internets, die Internet Engineering Task Force (IETF), seit 1993. Fünf Jahre später wurde die Spezifikation festgelegt, und im Jahr 2000 sprach die IETF Empfehlungen für den Übergang aus. Die Adressknappheit findet dank des neuen Standards ein unmittelbares Ende. Mit IPv6 wird der Adressraum auf eine 39-stellige Zahl erhöht - Adressen wie Sand am Meer. Rund 667 Billiarden davon entfallen rein rechnerisch auf jeden Quadratmillimeter Erde. Ein Teil des Vorrats wird wiederum für die Netzverwaltung benötigt. Trotzdem stehen pro Quadratmeter Erde mehr Adressen zur Verfügung, als Endgeräte darauf Platz hätten.

Noch Skepsis trotz der Vorteile

Und IPv6 bringt noch weitere Vorteile: Neben der Er-weiterung des Adressraums enthält es Sicherheitsmechanismen wie Verschlüsselungen bereits auf der Protokollebene. Zusätzlich sind Mechanismen zur automatischen Konfiguration geplant, die die Administration von Netzwerken vereinfachen sollen. Auch sollen IPv6-fähige Geräte parallel IPv4 handhaben können.

Entsprechende Fähigkeiten bringen Betriebssysteme wie Linux oder Windows XP schon mit. Auch Anwendungen wie der weltweit am häufigsten eingesetzte Web-Server, Apache, können bereits mit IPv6 umgehen. Trotzdem herrscht Zurückhaltung. Kaum ein Provider bietet bisher IPv6. "Wir beobachten den Markt genau", sagt Herbert Götsch, Produktmanager für IP-Services bei Level 3 Communications; doch der Bedarf sei noch nicht erkennbar. "IPv6 ist kein Mainstream-Produkt", so Gert Döring, Netzwerkspezialist bei Spacenet, einem der wenigen Provider in Deutschland, die IPv6 bereits eingerichtet haben. "Genutzt wird unser Angebot vorwiegend von Kunden, die für IPv6 entwickeln."

Ein weiterer Bremsklotz ist die fehlende Technik. Zwar bietet Marktführer Cisco bei seinen Routern seit einiger Zeit auch die Unterstützung für IPv6 an, doch die Software gilt als noch nicht ausgereift. Für den Einsatz von IPv6 in Unternehmen fehlen indes geeignete Schutzmechanismen.
Der Mangel an Adressen wird außerdem vielfach durch die Übersetzung privater Netzadressen in öffentliche aufgefangen (Network Address Translation, NAT). Dabei erhalten nur jene Firmenrechner eine offizielle IP-Nummer, die über das Internet erreichbar sein sollen. Die internen Adressen bleiben außerhalb des Unternehmensnetzes unsichtbar und können deshalb mehrfach verwendet werden. Bei der Kommunikation aus dem eigenen Netz heraus benötigt dann nur der Gateway-Rechner, der die Antworten externer Server in das private Netz vermittelt, eine international gültige IP-Adresse.

"Wenn IPv6 kommt, wird es sich von außen durchsetzen", so Peter Bieringer, Berater beim Münchener Sicherheits- und Netzwerkspezialisten Aerasec; er verweist dafür auf den Mobilfunk. Branchenkenner gehen davon aus, dass das neue Protokoll bei UMTS zum Einsatz kommt, da sich so Multimediadienste auch von Telefon zu Telefon einsetzen lassen. Doch auf Nachfrage hält man sich etwa bei Vodafone, das im Herbst in mehreren deutschen Städten UMTS anbieten will, noch bedeckt: "IPv6 ist für uns interessant, aber wir prüfen verschiedene Optionen; die Tests sind noch nicht abgeschlossen", so Sprecher Heiko Witzke.

Datenschutzdebatte droht

Ein zweiter Punkt, so Berater Bieringer, sei das verstärkte Engagement in Japan. Dort fördert die Regierung seit vergangenem Jahr den Umstieg auf IPv6 mit umgerechnet etwa 100 Millionen Euro, damit der Übergang bis 2005 gelingt. Wenn japanische Surfer bis dahin tatsächlich vorwiegend IPv6 verwenden, würde das den Druck auch auf nicht japanische Anbieter erhöhen, ihre Server für die fernöstliche Kundschaft umzurüsten.

In Europa könnte mit der Einführung von IPv6 eine Debatte um den Datenschutz entstehen. Jeder Aufruf einer Website ließe sich dann nämlich einer Person zuordnen, weil die Kommunikationsgeräte mit einer weltweit eindeutigen Kennung versehen sind. Verbraucher dürften eher skeptisch reagieren. Selbst wenn sie sich für die Vorstellung begeistern, ihren Videorekorder über das Mobiltelefon zu programmieren, könnte sie die Aussicht schrecken, bei jeder Aktion im Internet ihre Visitenkarte zu hinterlassen.


Weiterführende Informationen:

Allgemeine Informationen zu IPv6
Die EU-Kommission fordert IPv6
IPv6 Task Force der EU-Kommission
Berechnungen von ICANN zur Adressenknappheit
Grober Überblick über die Verteilung der Adressen bei IANA