Digitale Transformation

10 kontroverse Thesen zur IT-Organisation der Zukunft

22.09.2016 von Frederik Ahlemann und Nils Urbach
Die digitale Transformation führt zu grundlegenden Veränderungen in organisatorischer, prozessualer, personeller und kultureller Hinsicht. Oft ist noch unklar, in welche Richtung sich die Unternehmens-IT entwickeln wird. Wir haben dazu zehn Thesen formuliert.

1. IT wird als zentraler Treiber für unternehmerische Wertschöpfung erkannt und akzeptiert

Schon heute ist die IT in den meisten Unternehmen ein wichtiger Produktionsfaktor. Als strategischer Wettbewerbsfaktor wird sie aber meist nicht gesehen. Wir gehen davon aus, dass sich dies ändern wird. IT-Know-how wird überall im Unternehmen notwendig werden. Der Einsatz von IT bezieht sich nicht mehr nur auf die Geschäftsprozesse, sondern zunehmend auch auf die angebotenen Produkte und Dienstleistungen. Daher wird IT zur überlebenswichtigen Ressource. Der (in der Regel theoretische) Zeitraum vom Ausfall zentraler IT-Systeme bis zur Insolvenz eines Unternehmen wird sich radikal verkürzen.

Frederik Ahlemann, Professor am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Strategisches IT-Management an der Universität ­Duisburg-Essen
Foto: Universität ­Duisburg-Essen

IT wird umfassender, vernetzter, autonomer und vor allem kreativer eingesetzt werden. Die heutigen Geschäftsmodelle sind für erfolgreiche Unternehmen oft nur noch der Ausgangspunkt für die künftige Geschäftsentwicklung. Entsprechend werden IT-Lösungen immer schneller benötigt. Je früher sie spezifiziert, umgesetzt und in Betrieb genommen werden, desto besser gelingt es den Firmen, Märkte zu erobern und Wettbewerbspositionen zu sichern. Als Konsequenz dieser Entwicklung wird sich das heutige Business-IT-Alignment zu einer Verschmelzung von Business und IT weiterentwickeln.

2. Die Maxime Innovate - Design - Transform ersetzt Plan - Build - Run

Die klassische Unternehmens-IT ist durch das eher statische Paradigma Plan - Build - Run geprägt, das die Abläufe und Prozesse innerhalb der IT-Organisation strukturiert und als primäres Ziel die Effizienzsteigerung verfolgt. Feste Strukturen in der IT erlauben effiziente Arbeitsabläufe und fördern die Automatisierung, stoßen aber bei forcierten Innovationsanstrengungen an ihre Grenzen. Genau diese Innovationstätigkeit, die zu neuen oder veränderten IT-basierten Geschäfts- und Wertschöpfungsmodellen führt, ist aber die Kernaufgabe der digitalen Transformation.

Nils Urbach, Professor für Wirtschaftsinformatik und Strategisches IT-Management an der Universität Bayreuth
Foto: EBS Business School

Wir schlagen daher das neue Paradigma Innovate - Design - Transform vor, mit dem IT-Organisationen zum Innovationstreiber in ihren Unternehmen werden können. Im Kern steht eine Fokussierung auf die Innovationsfähigkeit durch hohe Agilität und Flexibilität, kunden­orientierte Gestaltungsfähigkeit von IT-Lösungen für spezifische Einsatzzwecke sowie Transformationsfähigkeit zum Treiben und Umsetzen der aus der Digitalisierung resultierenden Veränderungen. Durch den vorgeschlagenen Paradigmenwechsel geraten klassische IT-Aufgaben wie die Entwicklung und der Betrieb von Anwendungssystemen weiter in den Hintergrund und werden durch neue Fähigkeiten ergänzt.

3. Schatten-IT wird gelebte Praxis - IT-Innovationen werden in interdisziplinären Teams in den Fachabteilungen erarbeitet

Viele IT-Projekte werden heute durch Fachbereiche initiiert und reaktiv von den IT-Organisationen umgesetzt. Aufgrund verhältnismäßig langsamer Abstimmungs- und Umsetzungsprozesse sowie langer Entwicklungszyklen sind die resultierenden IT-Lösungen oft wenig innovativ und haben selten disruptiven Charakter. Die Unternehmens-IT wird so eher als träger Dienstleister denn als kreativer Innovator wahrgenommen. Durch den gestiegenen Veränderungsdruck sowie die immer komfortableren Sourcing-Möglichkeiten in der Cloud werden die Fachbereiche in Sachen IT selbständiger. Sie brauchen die Unternehmens-IT oft nicht.

Resultat ist die "individuelle Datenverarbeitung" oder auch "Schatten-IT" - was hinsichtlich Compliance-, Security- und Architekturanforderungen als problematisch gilt. Unserer Ansicht nach ist die organisatorische Trennung von IT und Business vor dem Hintergrund der Digitalisierung nicht mehr zeitgemäß. IT-­Inno­vationen entstehen idealerweise dort, wo sie später auch zum Einsatz kommen - in den Fachabteilungen. Dadurch wird die "offizielle Schatten-IT" zur gelebten Praxis.

Nils Urbach und Frederik Ahlemann sind die Autoren des Buchs "IT-Management im Zeitalter der Digitalisierung", das dieses Jahr im Springer-Verlage erschienen ist.
Foto: Springer Science+Business Media

IT-Management im Zeitalter der Digitalisierung
Auf dem Weg zur IT-Organisation der Zukunft
ISBN 978-3-662-52831-0 mehr erfahren

4. Aus strategischen Lieferanten werden Innovationspartner

Seit mehr als 25 Jahren setzen Unternehmen nun schon auf IT-Outsourcing, in der Regel mit Fokus auf Kostensenkung oder Qualitätssteigerung. Als verhältnismäßig neue Sourcing-Option hat sich in den letzten Jahren zudem das Cloud Sourcing etabliert, das der Vision der "IT aus der Steckdose" nahekommt. Die zentrale Idee des Fremdbezugs von IT-Leistung liegt traditionell darin, nichtstrategische Teile der Unternehmens-IT auszulagern, um sich verstärkt auf wettbewerbsdifferenzierende Aktivitäten fokussieren zu können.

Wir gehen davon aus, dass sich der Trend zur Auslagerung der "Commodity-IT" weiter verstärken wird. Gleichzeitig glauben wir, dass ausgewählte strategische Lieferanten zu Innovationspartnern werden, um die Unternehmen als zentrale Impulsgeber voranzubringen. Nur wenige Unternehmen aus Nicht-IT-Branchen werden mittelfristig über das technische Know-how verfügen, um ihre IT-Innovationen, die für den nachhaltigen Erfolg in der digitalen Welt erforderlich sein werden, allein auf den Weg bringen zu können. Entsprechend sind Technologiepartner auf Augenhöhe erforderlich, die gemeinsam mit den beauftragenden Unternehmen Innovationen entwickeln. Sie werden zunehmend am Geschäftserfolg ihrer Kunden partizipieren.

5. Entwicklungsprozesse sind agil, end­benutzerzentriert und mit dem Betrieb verschmolzen

Softwareentwicklung nach dem Wasserfall­modell, bei der die verschiedenen Entwicklungsphasen sequenziell von der Anforderungsaufnahme über fachliche und technische Konzeption, Implementierung und Test bis zum Go Live erfolgen - meist mit minimalen Rückkopplungsmöglichkeiten zwischen den Phasen -, ist ein Auslaufmodell. Der Fokus der Entwicklungsaktivitäten ist zu technologie-, produkt- und funktionsorientiert. Benutzer­bedürfnisse und -akzeptanz werden nur eingeschränkt berücksichtigt. Für die Anforderungen der digitalen Welt ist dieses Vorgehen nur eingeschränkt geeignet.

Würden die klassischen Methoden auf die Entwicklung einer modernen App im Konsumentenkontext angewendet, gäbe es nur alle paar Monate oder gar Jahre ein Update. Entsprechend wäre die App nicht erfolgreich, da die Nutzer heute kontinuierliche, im Hintergrund ablaufende Updates gewohnt sind. Agile Vorgehensweisen werden sich somit weiterverbreiten, insbesondere für die Entwicklung der "Lightweight-IT", also der Frontend-dominierten und endkundenorientierten Systeme. Eine Hauptidee der agilen Ansätze besteht darin, dass ein erstes Deployment von zunächst rudimentären Lösungen frühzeitig erfolgt und diese dann iterativ unter Einbezug des User-Feedbacks weiterentwickelt werden. Generell wird der Benutzer viel stärker in den Vordergrund der Entwicklungsaktivitäten gestellt werden. Nicht zuletzt werden Softwareentwicklung und -betrieb immer weiter verschmelzen.

6. IT-Infrastrukturleistungen werden auf Märkten gehandelt und nach Bedarf eingekauft

Trotz der Outsourcing-Möglichkeiten findet der IT-Betrieb in vielen Unternehmen immer noch zu großen Teilen mit eigener Hardware im internen Rechenzentrum statt - oft unterstützt von Dritten. Unternehmen, die bereits Cloud Computing nutzen, vertrauen meist nur auf die interne "Private Cloud". Die Zurückhaltung beim Fremdbezug von IT-Leistungen beruht auf historischen Annahmen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit von Weitverkehrsnetzen, der Notwendigkeit von unternehmensindividuellen Lösungen sowie der Anforderungen an Datenschutz, Datensicherheit und Stabilität. Diese Annahmen gelten nicht mehr oder nur noch eingeschränkt.

Wir erwarten für die Zukunft einen nahezu vollständigen Fremdbezug von IT-Infrastrukturleistungen. Die Beschaffung könnte über börsenähnliche Märkte erfolgen, auf denen sich abhängig von Angebot und Nachfrage ­tagesaktuelle Kurse für standardisierte Infrastrukturleistungen bilden. Dazu sind diese ­sowohl technisch als auch fachlich zu standardisieren und von den spezifischen Applikationen zu entkoppeln. So könnten IT-Infrastrukturleistungen zukünftig einfach und dynamisch eingekauft und konsumiert werden.

7. Security und Business-Continuity-Management werden besonders wichtig

Digitalisierte Unternehmen sind abhängig von der Verfügbarkeit ihrer IT-Systeme. Gleichzeitig führt die leichte Zugänglichkeit von Systemen über das Internet zu einer besonderen Verwundbarkeit. Je nach Branche und Geschäftsmodell (etwa Banken oder Börsen) kann ein vollständig ausgefallenes System bereits heute das Aus für das betroffene Unternehmen bedeuten. Des Weiteren wird IT mit dem Einzug in digitale Produkte und Dienstleistungen auch in zunehmendem Maße das körperliche Wohlergehen von Individuen beeinflussen - man denke etwa an das selbstfahrende Automobil, Roboter im Pflegebereich oder autonome Steuerungssysteme von Kraftwerken.

Beim Blick in die Unternehmen haben wir jedoch das Gefühl, dass IT-Risiken gegenwärtig noch unterschätzt und nicht vollständig beherrscht werden. Ein Grund dafür mag sein, dass IT-Sicherheitsprobleme meist noch eine relativ geringe Tragweite haben. Mit zunehmender Kritikalität sehen wir aber ein effektives IT-Sicherheits- und Business-Continuity-Management als zentrale Kompetenz für die nachhaltige Geschäftstätigkeit. Sie könnten als Querschnittsfunktionen eines Unternehmens organisiert werden.

8. IT-Architekturen sind standardisiert, modular, flexibel, ubiquitär, elastisch und sicher

Seit Jahren sind historisch gewachsene IT-In­frastruktur- und -Anwendungslandschaften eine Herausforderung für das IT-Management. Der in vielen Unternehmen vorherrschende Wildwuchs führt nicht selten zu einem Verlust an Transparenz, erhöhten Risiken und Kosten, zur Ablenkung von Problemen des Kerngeschäfts sowie zur Unfähigkeit, neue Geschäftsstrategien flexibel zu implementieren. Durch Standardisierungsbemühungen, fortgeschrittene Architekturkonzepte (wie Service-orientierte Architekturen und Virtualisierung) sowie das Enterprise-Architecture-Management (EAM) steuern einige Unternehmen diesen Herausforderungen schon entgegen.

Oftmals werden die Probleme aber kaum gelöst, so dass die IT-Architekturen vieler Unternehmen aus unserer Sicht für agile Digitalisierungsvorhaben ungeeignet sind. Die neuen Anforderungen der digitalen Transformation erfordern einfach transformierbare IT-Landschaften. Die Standardisierung von IT-Architekturen wird weitergehen und sich - mit Ausnahme von wettbewerbsdifferenzierenden Bereichen - auch auf Applikationen und Geschäftsprozesse ausweiten. Gleichzeitig werden Modularisierungsansätze und flexible Schnittstellentechnologien mehr Verbreitung finden. Insbesondere IT-Infrastrukturen werden durch Rückgriff auf Cloud-Technologien an Elastizität gewinnen. Kosteneffizienz und Sicherheit sind notwendige Vorbedingungen für die wettbewerbsfähige Nutzung von IT.

9. IT-Experten wandern in die Fachbereiche, ein dediziertes Vorstandsressort koordiniert

Geprägt durch die Epoche der IT-Industrialisierung ist die Unternehmens-IT meist als effektiver und effizienter Dienstleister aufgestellt. Sie ist oft weit weg vom Business, gilt als wenig innovativ und nicht mit dem Business auf Augenhöhe. In unseren vorherigen Thesen haben wir bereits vertreten, dass die Demand- und innovationsorientierten Tätigkeiten in interdisziplinären Teams besser direkt in den Fachbereichen aufgehoben sind (These 3), Entwicklung und Betrieb weniger entscheidend werden, weil sie durch spezialisierte Anbieter besser erbracht werden können (These 4) sowie IT-Infrastruktur weitgehend aus der Cloud bezogen wird (These 6). Damit stellt sich die Frage, ob eine klassische IT-Organisation überhaupt noch sinnvoll ist. Aus unserer Sicht lautet die Antwort: Nein.

Die verbleibenden Tätigkeiten der Unternehmens-IT sind vor allem die langfristige Planung der IT-Architektur (Architektur-Management), die Steuerung und Überwachung (Innovations-, Projektportfolio- und Lieferanten-Management, Service-Monitoring) sowie Koordinationsaufgaben hinsichtlich der dezentralen und zentralen IT-bezogenen Aufgaben (IT-Governance, Standardisierung). Wir sind der Meinung, dass diese Aufgabenfelder besser zu einer zentralen Funktion passen, die in Vorstandsnähe verankert sein sollte.

10. Mitarbeiter werden zum strategischen Wettbewerbsfaktor

Ein wesentlicher Faktor für den Erfolg aktueller und zukünftiger Digitalisierungsinitiativen ist der Zugang zu gut ausgebildetem Personal. Aufgrund der gegenwärtigen demografischen Entwicklung und sich ändernder persönlicher Ansprüche, insbesondere jüngerer Arbeitnehmer, wird es für Unternehmen jedoch immer schwieriger, geeignete Mitarbeiter zu finden und zu binden. In Deutschland werden derzeit viel zu wenige junge Menschen in technischen Berufen ausgebildet. Hinzu kommt, dass das Wertesystem nachrückender Mitarbeiter vom Wunsch nach Individualität und Selbstbestimmung geprägt ist. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wird es immer schwieriger, gute IT-Mitarbeiter zu gewinnen und zu halten. Unternehmen müssen darauf mit einem dedizierten HR-Management, einer attraktiven Unternehmenskultur sowie einem zukunftsorientierten Business Development reagieren.

In einem zweiten Teil werden wir in Kürze ein Szenario für die IT-Organisation der Zukunft entwickeln. Wir werden zeigen, wie sie organisatorisch verankert ist, welche Funktion sie einnimmt und welche Rollen von Bedeutung sind.