Wirbel um Gartner-Vortrag

Analysten sehen Windows "vor dem Kollaps"

24.04.2008 von Nicolas Zeitler
Die deutliche Kritik von Gartner-Analysten an Windows hat einigen Wirbel ausgelöst. Windows habe keine Zukunft, lautete das Fazit eines Vortrags auf einer Gartner-Fachtagung in Las Vegas. Microsoft weist die Kritik zurück. In Fachkreisen sind die Gartner-Thesen umstritten.
"Komplexität ist der Feind von Geschwindigkeit", sagt Gartner. Doch bei Windows nehme die Komplexität immer mehr zu.

"Windows, wie wir es jetzt kennen, muss abgelöst werden", fordert Gartner. Den Vortrag unter dem Titel "How and Why Windows Must Change" konnten vor wenigen Tagen erstmals die Besucher des Gartner-Symposiums "Emerging Trends" in Las Vegas hören. Mitte Mai sollen Brian Gammage und Andrew Butler von Gartner die Ausführungen auf einer gleichnamigen Konferenz des Marktforschers in Barcelona dem europäischen Publikum zu Gehör bringen.

Ausgangspunkt für die Kritik der Analysten ist die steigende Komplexität von Microsoft Windows. Und: "Komplexität ist der Feind von Geschwindigkeit." Microsoft brauche zu lange, um neue Versionen auf den Markt zu bringen. Zudem dauere es lange, bis eine neu veröffentlichte Version stabil laufe. Dieser Zustand sei sowohl für den Software-Konzern als auch für seine Kunden untragbar. So stehe die steigende Komplexität den Wünschen der Kunden entgegen, die aus Kostengründen zunehmend schlankere PCs einsetzen wollten.

Dass Windows über die Jahre immer komplexer geworden ist, dafür zeigt Gartner zum Teil Verständnis. Schließlich umfasse das System heute weit mehr Funktionen als in seinen ersten Tagen als grafische Oberfläche für den Einsatz mit MS DOS. Allerdings habe selbst der Hersteller während der Entwicklung von Vista erkannt, dass sein Produkt mittlerweile zu umfangreich sei. Als Folge sei die Entwicklung der derzeit erhältlichen Version noch einmal neu auf Grundlage von Windows Server 2003 begonnen worden. Dieser Neuansatz habe zwar zu einer besseren Modularität des Systems geführt, doch sei diese noch unzureichend.

Gartner führt auch Zahlen an, die die Zurückhaltung der Kunden gegenüber dem neuen Betriebssystem belegen sollen. So hätte die jährliche Kundenbefragung des Marktforschers 2006 noch ergeben, dass die Hälfte aller Firmenrechner ab der zweiten Jahreshälfte 2007 und dem ersten Quartal 2008 auf Vista umgestellt werden sollen. Ein Jahr später indes habe dieselbe Frage ergeben, dass sich die geplante Migration in vielen Firmen auf frühestens Mitte oder Ende des Jahres 2008 verschieben werde. Viele sähen nicht genügend Vorteile gegenüber Windows XP, um die Kosten für einen Umstieg auf sich zu nehmen, meinen die Analysten.

Die Oberfläche von Windows Vista. Nicht alle in der Fachwelt teilen die Kritik am angeblich "aufgeblähten" Betriebssystem. Der Nutzer wolle ja schließlich immer mehr Anwendungen, gibt etwa Paul Thurrott zu bedenken.

Virtualisierung stellt in den Augen der Gartner-Experten zunehmend das klassische Verständnis von Betriebssystemen in Frage. Ein Hypervisor (auch: Virtual Machine Monitor) übernehme zunehmend Funktionen, die in den Aufgabenbereich eines Betriebssystems fielen - etwa als Schnittstelle zwischen Hardware und Anwendungen. Ein großes, "monolithisches" Betriebssystem sei vor diesem Hintergrund immer weniger gefragt. Stattdessen plädieren die Gartner-Analysten für "adaptive" Betriebssysteme. Es zeichne sich eine Entwicklung ab hin zu integrierten Plattformen, auf denen mehrere, schlanke Betriebssysteme den Einsatz der Hardware regeln.

Windows wurde ursprünglich nicht als System für mehrere Benutzer entwickelt. Dieser Ansatz von vor mehr als zehn Jahren sei eine "Altlast", die noch heute die Arbeit mit Windows präge. Für viele Anwendungen brauche der einzelne Nutzer Administratorrechte. Gleichzeitig gefährdeten Schadprogramme, die bei der Arbeit eines bestimmten Nutzers auf den Rechner gelangt sind, das gesamte System.

Mangelnde Modularität

Einer der Haupt-Kritikpunkte der Analysten, die mangelnde Modularität, behindert laut Gartner zum Beispiel mobile Nutzer und erschwert Upgrades unnötig. Die Autoren des Vortrags fordern auch, dass einzelnen Anwendungen sich leichter vom Betriebssystem abkoppeln lassen. Dass die Applikationen derart "eingebettet und verstreut" in Windows untergebracht seien, erschwere zwar auf der einen Seite das illegale Kopieren von Programmen. Andererseits mache diese Bauweise des Betriebssystems es auch komplizierter, den Anwendern an ihren wechselnden Arbeitsplätzen genau die Funktionen verfügbar zu machen, zu denen sie Zugang haben sollen. Außerdem sei der Umzug von Anwendungen auf ein neues Betriebssystem oder einen neuen Rechner zu schwierig.

Die Lizenzierungs-Politik des Software-Konzerns ist den Marktforschern ebenfalls ein Dorn im Auge. Der derzeitige Ansatz sei unflexibel und für die sich verändernden Arbeitsbedingungen zunehmend ungeeignet. Die Lizenzen von Windows und Office seien letztlich an ein bestimmtes Gerät gebunden, nicht an einen Nutzer. "Das ergibt keinen Sinn in einer Welt, in der der Arbeitsplatz eines Anwenders zwischen mehreren Geräten hin- und herwechselt", geben die Analysten zu bedenken.

Windows als überkommene "Altlast"

Gartner zeichnet ein Szenario, das Windows innerhalb der kommenden sieben bis zehn Jahre zu einem Überbleibsel aus vergangenen Zeiten werden lässt. Tragbare Geräte gewinnen darin stark an Bedeutung. Der klassische PC ist nur noch eine von vielen Formen von Arbeitsgeräten, der für spezielle Aufgaben eingesetzt wird. Für den Einsatz auf anderen Apparaten sei Windows allerdings sehr schlecht geeignet. Anwendungen über das Web gewännen die Oberhand; Windows-Applikationen seien hingegen nur noch eine "Hinterlassenschaft".

Microsoft nimmt auf Anfrage von CIO Online in knappen Zeilen Stellung zu den Kritikpunkten. Man teile die Einschätzung von Gartner nicht, heißt es. Die in dem Papier vorgestellten Daten basierten nur auf der Befragung von vergleichsweise wenigen Besuchern einer Gartner-Tagung. Sie stimmten nicht überein mit Angaben aus laut Microsoft belastbareren Untersuchungen. Diese haben dem Software-Unternehmen zufolge gezeigt, dass die Rückwärts-Kompatibilität für viele Kunden einen hohen Stellenwert habe.

Widersprüchliche Aussagen

Zudem seien die Ausführungen der Gartner-Analysten widersprüchlich. Einerseits werde darin die Kompatibilität zwischen unterschiedlichen Windows-Versionen als wichtig für die Kundenbindung eingeschätzt. Auf der anderen Seite fordere der Marktbeobachter eine radikale Überarbeitung des Betriebssystems, die die Rückwärtskompatibilität aus Sicht von Microsoft unmöglich machen würde.

Die IT-Experten Markus Holländer und Michael van Laak vom herstellerunabhängigen Beratungsunternehmen Comconsult indes stimmen dem Gartner-Vortrag zu. "Im Grundsatz deckt sich das mit unserer Einschätzung", so van Laak gegen über CIO Online. Zunehmende Virtualisierung sei ein wichtiger Punkt in der Applikationsstrategie. Der Vorschlag der Gartner-Analysten, eine generische Schnittstelle auf die Hardware aufzusetzen, sei grundsätzlich denkbar. Fraglich ist aus Sicht von Holländer allerdings, ob dieser Ansatz in absehbarer Zeit umsetzbar sei.

Microsoft auf dem richtigen Weg

Die Problematik hinsichtlich der Komplexität von Windows sehen Holländer und van Laak ebenfalls. "Ideal wäre, wenn das Betriebssystem in nur einer modularen Version herausgebracht würde, die allein durch das Auswählen bestimmter Features sowohl auf dem PC als auch auf einem Handy laufen kann", erklärt van Laak. Eine so düstere Prognose für den Software-Konzern Microsoft wie die Gartner-Analysten wollen die beiden aber nicht zeichnen. "Aus unserer Sicht strebt Microsoft prinzipiell durch Vereinheitlichung des Kernels für Windows Server und Client, zunehmende Modularisierung des Betriebssystems sowie durch Applikationsvirtualisierung in die richtige Richtung."

Der Fachredakteur Paul Thurrott lässt hingegen kaum ein gutes Haar an den Ausführungen der Gartner-Analysten. Nach Ansicht von Thurrott liegt Microsoft mit seiner derzeitigen Strategie auf dem richtigen Weg. Sein Hauptgeschäft mache der Software-Gigant mit Unternehmen. Die verlangten vor allem nach klaren Produktfahrplänen und Kompatibilität zu älteren Versionen. Microsoft werde diesen Anforderungen gerecht.

Was die kritisierte Komplexität angeht, sei Microsoft in einer Lage, in der das Unternehmen nur verlieren könne. Niemand frage schließlich nach einem Betriebssystem, das weniger könne als die Vorgängerversion. Mache der Hersteller dann einen solche "großen Schritt", wie es laut Thurrott mit Vista der Fall sei, erhöben sich sofort die Kritiker, die das System als "aufgebläht" schmähten. Thurrott geißelt dieses Kritik als unangebracht angesichts riesiger Festplatten, die "in einer Schachtel Frühstücks-Cerealien" Platz fänden.

Thurrott merkt zudem an, dass sich Microsoft hinsichtlich der Modularisierung schon auf dem richtigen Weg befände. Gerade Windows mit seinen sieben verschiedenen Ausführungen sei der Beweis.