Freiraum für Investitionen

CEO Kullmann baut Evonik komplett um

26.09.2023
Der Spezialchemiekonzern Evonik will mit einem Umbau seiner Organisation Kraft für größere Investitionen in Zukunftsgeschäfte schaffen.
Evonik-Chef Christian Kullmann plant eine komplett neue Verwaltung des Konzerns.
Foto: Evonik Industries AG

"Wir arbeiten an unserer Bikini-Figur. Evonik wird schlanker, schneller und zugleich internationaler", sagte Evonik-Chef Christian Kullmann dem "Handelsblatt". Drei große Standorte in Europa will Evonik künftig nicht mehr selbst betreiben und wird das Geschäft in neue Dienstleistungsgesellschaften auslagern. Ein Team von Managern soll zudem ein Modell für eine vollständig neue Verwaltung des Konzerns ausarbeiten. Tausende Mitarbeiter sind von den Plänen betroffen.

Frisches Kapital könnte vor allem die Ausgliederung der Dienstleistungen an den Standorten Marl, Antwerpen und Wesseling aus dem Konzernverbund einbringen. Dabei geht es um Logistik, Energie-Erzeugung, technischen Service, Werkstätten und Werkschutz. Evonik will drei eigenständige Betreibergesellschaften gründen, in die geschätzt bis zu 4.000 Mitarbeiter wechseln würden.

In der zweiten Jahreshälfte 2025 soll dieser "Carve-out" abgeschlossen sein. Kullmann hält sich für die Zukunft der neuen Gesellschaften alle Optionen offen: Verkauf oder Beteiligungen von Investoren, Zusammenarbeit mit anderen Betreibern von Chemieparks oder Eigenregie. "Wir werden individuelle Lösungen finden."

Komplexität abbauen

Der Umbau der Verwaltung soll ebenfalls Freiräume schaffen. "Für Evonik ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, in dem wir uns von der internen Bürokratie lösen", sagt Kullmann. Gut 8.600 Organisationseinheiten hat der Konzern aktuell, acht Hierarchie-Ebenen liegen zwischen Produktion und Vorstand, auf vier Mitarbeiter kommt eine Führungskraft. "Das ist zu komplex und zu teuer", sagt der Chef.

Evonik ist damit ein weiteres Großunternehmen, das sich von Komplexität gebremst fühlt. Bei der Leverkusener Bayer AG hat der neue Vorstandsvorsitzende Bill Anderson bereits ein Großprojekt zum Abbau von Hierarchien und Führungsebenen gestartet. Die Bayer-Mitarbeiter sollen unternehmerisch eigenständiger arbeiten und entscheiden.

In diese Richtung zielt auch das Projekt von Evonik. Kullmann greift dabei zu ungewöhnlichen Mitteln. Der Vorstandschef startet kein neues Effizienzprogramm mit Eingriffen in die bestehende Verwaltung, er lässt auf dem Papier das Modell einer komplett neuen Organisation entwerfen.

Die Essener haben dazu ein gutes Dutzend erfahrener Mitarbeiter in einem Projekt namens "Evonik Taylor Made" zusammengezogen. Sie sollen bis zum Frühjahr 2024 eine moderne Architektur der weltweiten Konzernverwaltung erarbeiten.

Evonik will keine externen Berater

Auf Beratungsdienste externer Consulting-Unternehmen verzichtet der Konzern dabei bewusst. "Wenn wir selbst nicht wüssten, wo wir etwas verändern müssen, wäre das in meinen Augen eine strategische Kapitulation", sagt Kullmann. Binnen drei Jahren sollen die Pläne umgesetzt werden.

Wie viele Stellen betroffen sind und was der Umbau an Einsparungen bringt, kann Kullmann noch nicht beziffern. Vor betriebsbedingten Kündigungen sind die deutschen Evonik-Mitarbeiter bis 2032 geschützt. Gut zwei Drittel der weltweit 34.000 Beschäftigten entfallen auf Deutschland.

Für Kullmann ist aber klar: "Wir werden in Zukunft weniger Funktionen und Führungskräfte haben. Sie sollen keine Sachbearbeiter mit Sternchen auf der Schulterklappe sein, sondern unternehmerisch handeln." Dafür wolle man Freiräume und Verantwortungen vergrößern.

"Doktern an den Symptomen"

Hinter den Plänen steckt eine Erfahrung, die schon viele Großunternehmen gemacht haben: Die üblichen Sparprogramme in der Verwaltung brachten oft nicht den erhofften dauerhaften Erfolg - auch nicht bei Evonik. Kullmann spricht von einem "Doktern an den Symptomen". Seiner Ansicht nach schafft Bürokratie immer mehr neue Bürokratie.

Evonik ist mit einem Umsatz von zuletzt 18,5 Milliarden Euro hinter BASF die Nummer zwei in der deutschen Chemieindustrie. Das Geschäftsportfolio hat Kullmann seit seinem Antritt als Vorstandsvorsitzender 2017 kräftig umgebaut: Milliardenbeträge wurden in die lukrative und wachstumsstärkere Spezialchemie investiert, vor allem in den USA und Asien. Von den Massenchemieprodukten trennt sich der Konzern.

Der letzte große Schritt dieses Umbaus steht bevor: Das Geschäft mit Saugstoffen für Windeln soll noch dieses Jahr einen neuen Eigentümer finden, mehrere Finanzinvestoren sind interessiert. Für die restlichen Einheiten der Evonik-Sparte "Perfomance Materials" könnte der Verkaufsprozess noch etwas länger dauern.

Mehr Entscheidungsfreiheit für Evonik-Einheiten außerhalb Deutschlands

Die interne Analyse bei Evonik ergab: Die Verwaltung ist diese Portfolioveränderung nicht mitgegangen und noch immer zu stark auf Deutschland konzentriert. Jetzt will Kullmann den Einheiten in den Regionen der Welt mehr Entscheidungsfreiheit geben.

"Dort werden die Märkte gemacht. Wir werden Funktionen dorthin verlagern, weil wir noch näher an den Kunden sein wollen", sagt er. "Das ist auch aus geopolitischen Gründen notwendig, wenn die protektionistischen Tendenzen zunehmen." Die Zentrale in Essen werde sich voll auf die strategische Steuerung konzentrieren.

Für den 54-Jährigen ist der Komplettumbau das große Projekt seiner verbleibenden Amtszeit als Evonik-Chef. 2021 hat der Aufsichtsrat Kullmanns Vertrag bis 2027 verlängert. Bis dahin sollen die Zukunftsgeschäfte des Konzerns einen zusätzlichen Umsatz von einer Milliarde Euro machen - vor allem durch organisches Wachstum, kündigt er an. Dazu gehören Zusätze (Additive), die die Performance von Kunststoffen und Chemikalien verbessern, Inhaltsstoffe für Kosmetik, Nahrung und Pharma sowie Biotech.

Für diese komplexe Produktion braucht Evonik spezielle Ingenieure, die auch künftig in der Konzerneinheit Technology verbleiben. Alle anderen Standortdienste sollen in die drei neuen Gesellschaften übergehen. (dpa/rs)