CIO der Wirtschaftskanzlei Noerr

Christian Ammer: "Radikal digital – dafür stehe ich"

11.05.2020 von Simon Hülsbömer
Juristen und Digitalisierung – passt das zusammen? Klare Antwort: Ja. Zumindest dann, wenn man einen Vordenker wie Christian Ammer als CIO beschäftigt.
Christian Ammer verantwortet seit Anfang 2019 als CIO die IT-Gesamtstrategie bei Noerr.
Foto: Konrad Fersterer / www.konradfersterer.com

Christian Ammer ist CIO in der Europäischen Wirtschaftskanzlei Noerr LLP in München und Alumnus des "Leadership Excellence Program" von CIO, WHU - Otto Beisheim School of Management und DXC Technology. Im CIO-Gespräch geht er auf die aktuellen Herausforderungen durch die Covid-19-Pandemie ein und erklärt auch, warum Noerr seine komplette IT auf Managed Services umstellt.

Wie geht Noerr LLP mit der Corona-Situation um?

Christian Ammer: Nach einem erfolgreichen Jahr 2019 ist Noerr auch wieder gut ins Jahr 2020 gestartet. Seit dem Start der Coronakrise Mitte März hat sich die Auftragslage in einigen Geschäfts-/Rechtsbereichen durchaus verändert. Manche Projekte und Vorhaben sind auf Eis gelegt oder laufen aus, dafür entsteht an anderer Stelle neues Geschäft, beispielsweise im Arbeitsrecht oder auch beim Thema Datenschutz.

Insgesamt ist der Beratungsbedarf der Mandanten laut Aussage unserer Partner aber weiterhin groß. Unser sehr schnell neu aufgesetztes Corona Crisis Center "Noerr CCC" - ein neu zusammengestelltes interdisziplinäres Angebot auf unserer Website - wird im Markt sehr gut angenommen und hat mittlerweile mehrere Nachahmer gefunden.

Zentrale IT-Services kommen aus Deutschland

Wie ist die Noerr-IT insgesamt aufgestellt?

Christian Ammer: In dem von mir geleiteten, im April 2019 neu aufgesetzten Bereich DTIS - Digital Technology & Information Services - bündeln wir mit rund 65 Mitarbeitern alle Aufgaben und Kompetenzen rund um IT, Digitalisierung, Service, Information und Support.

Aufgestellt sind wir in mehreren Teams: IT Support (Helpdesk, Vor-Ort-Service), IT Applications (Administration, 2nd/3rd Level Support, Umsetzung), IT Infrastructure (Planung und Betrieb), Digital Innovation (Digitalisierung der anwaltlichen Arbeit, Projektleitung, hohes juristisches Know-how), Digital Business Transformation (Erneuerung der Business IT und IT-interne Transformation), Knowledge Management (Trainings, Learning, Know-how), Smart Center (Office- und Dokumenten-Support) sowie Bibliotheks- und Auskunftsservice (Print-Produkte, Online-Dienste und Recherchen).

Ein Großteil der Services wird zentral für alle 16 Noerr-Standorte in Deutschland, Europa und New York aus München und Berlin erbracht, für die Vor-Ort-Services wie IT-Support und Bibliotheken sind zudem an den meisten größeren Standorten ein bis zwei Mitarbeiter im Einsatz. An den Auslandsstandorten haben wir lokale Ansprechpartner/Hubs, die von uns koordiniert werden.

Organisation in Krisenzeiten

Welche Herausforderungen bringt die aktuelle Situation für die Noerr-IT mit sich?

Christian Ammer: Technisch und organisatorisch waren wir für DTIS durch unsere über die Standorte verteilten Teams bereits ganz gut auf das Arbeiten im Home Office vorbereitet und damit weiter als viele unserer Kollegen aus den anderen Bereichen. Dennoch mussten auch wir erst eine neue Basis für die Kommunikation in den Teams und über die Teams hinweg etablieren. Hier haben wir mittlerweile einen passenden und gut funktionierenden Modus gefunden.

Auch ohne einen im Vorfeld definierten Krisenplan haben wir es durch hohen Einsatz, volle Unterstützung unserer leitenden Partner und eine entschlossene Vorgehensweise gemeinsam geschafft, innerhalb von vier Wochen für alle Teams und Einheiten von Noerr volle Arbeitsfähigkeit aus dem Home Office zu schaffen. Wir waren sehr schnell bei der Konzeption neuer Infrastruktur-Services wie VPN-Zugang oder einer Virtual Desktop Umgebung und konnten diese schnell in Betrieb nehmen.

Auf der anderen Seite decken wir mit einem Basisteam noch diejenigen Tätigkeiten für unsere Standorte und Mitarbeiter ab, die nur physisch vor Ort erbracht werden können. Dazu gehören die Installationen und das Handling von IT-Equipment, Literatur-Recherchen oder auch ein zentraler Scan- und Druck-Service. Darüber hinaus haben wir ein rollierendes Schichtsystem etabliert, das je nach Auftragslage flexibel in den Büros zum Einsatz kommen kann.

Keine "einfachen Standardfälle"

Was sind für eine Wirtschaftskanzlei wie Noerr die spannendsten Herausforderungen bezüglich der Digitalisierung?

Christian Ammer: Anders als in anderen Unternehmen gibt es bislang in unserer stark durch den Gesetzgeber und das Berufsrecht reglementierten Branche kein Produkt oder einen Service für unsere "Kunden", den man wirklich digitalisieren kann. Unser definiertes Produkt ist die Arbeitsleistung eines Anwalts, die unseren Mandanten in Rechnung gestellt wird.

Als europäische Top-Kanzlei übernehmen wir in der Regel keine "einfachen Standardfälle", sondern bieten nur individuelle Einzellösungen. Digitalisierung heißt somit für uns, den Anwalt/Berater so produktiv, schnell und effizient wie möglich zu machen, so dass unsere Berater möglichst ihre gesamte Zeit für inhaltliche Arbeit aufwenden können, die unseren Mandanten einen tatsächlichen Mehrwert liefert. Unsere Digitalisierungsinitiativen dienen somit in erster Linie dazu, möglichst zielgerichtet an alle Arten von Informationen zu kommen - durch Aufbereitung, Analyse, Vorbereitung - und möglichst schnell einen hochwertigen Output zu erzeugen - durch Automatisierung, Wiederverwendung und Kommunikation.

Eine in einer Partnerschaft organisierte Kanzlei ist nicht wirklich mit einem auf Effizienz getriebenen Wirtschaftsunternehmen, bei denen es sich meist um Kapitalgesellschaften handelt, zu vergleichen. In der Vergangenheit war der gesamte Stab um die Anwälte und Berater herum ausschließlich nur dazu organisiert, den Anwälten möglichst alle administrativen Tätigkeiten abzunehmen.

Durch die Digitalisierung ändert sich dieses Paradigma nun. Anwälte müssen sich mit Technologie, Werkzeugen und Arbeitsprozessen auseinandersetzen und selbst in der Lage sein, diese in der Zusammenarbeit mit den Mandanten aktiv zu gestalten. Durch die Lösungen, die wir nun nach und nach etablieren, helfen wir den Kollegen dabei, diesen Schritt zu machen und damit einen sichtbarem Wettbewerbsvorsprung gegenüber anderen - traditionellen - Kanzleien zu erlangen.

IT künftig komplett als Managed Services

Auf welche IT- und Digitalisierungsprojekte sind Sie besonders stolz?

Christian Ammer: Seit Mitte letzten Jahres dreht sich bei uns alles um die Transformation des IT-Betriebsmodells - übrigens unter Leitung von LEP-Alumnus Sven Knospe. Bis 2019 haben wir sämtliche IT-Leistungen selbst erbracht und in zwei eigenen Rechenzentren aufgebaut und administriert. Für eine noch immer relativ kleine IT-Einheit waren aber die Menge und Komplexität der Themen und Technologien nur noch mit großen Abhängigkeiten zu einzelnen Spezialdienstleistern zu steuern.

Im Juni 2019 haben wir die Entscheidung getroffen, dass Betriebsmodell aufzugeben und sämtliche Infrastruktur und Basis-IT-Systeme in ein Managed-Service-Modell - bei Bechtle und der Telekom - zu überführen. Ende Mai werden wir dieses Transformationsprogramm soweit abgeschlossen haben, dass wir sämtliche rund 250 Server dorthin überführt, ein vollständig neues, voll gemanagtes Netzwerk in Betrieb und eine Erneuerung vieler Legacy-Systeme durchgeführt haben.

Damit haben wir die Betriebs- und Sicherheits-Risiken für Noerr erheblich verbessert und sind als IT schneller, robuster und flexibler als je zuvor. Nur durch diesen Move waren wir in der Lage, auf die aktuelle Krisensituation so schnell zu reagieren, ebenso wie wir nun auf alle Entwicklungen innerhalb der Kanzlei flexibel und rasch reagieren können.

Im Zuge dieser Transformation haben wir im Rahmen unseres Programms "Digital Excellence @Noerr" sehr viele damit verbundene weitere Maßnahmen und Projekte angestoßen und umgesetzt, die essenziell notwendig für die Digitalisierung bei Noerr sind und auf die ich auch besonders stolz bin. Es geht um eine neue personelle und strukturelle Organisation des Bereichs, um die Übernahme der Verantwortung für alle Digitalisierungsinitiativen für die gesamte Organisation, um die Definition neuer Rollen sowie die enge Ein- und Anbindung der Fachbereiche, um den Einstieg in Office 365 und um die Einführung eines neuen DMS - was das zentrale Werkzeug für Anwälte darstellt.

Die wichtigsten Learnings

Welche Rolle spielt das Thema Leadership/Führung für Sie persönlich in Ihrem beruflichen Kontext?

Christian Ammer: "Radikal Digital" - das versuche ich selbst vorzuleben und dafür stehe ich. Gegenüber meinen Mitarbeitern versuche ich hier stets authentisch und glaubhaft für diese Zielsetzung einzutreten und versuche diese Denkweise auch auf die Kollegen zu übertragen.

Dazu passen sehr gut meine zwei Key-Takeaways aus dem "Leadership Excellence Program": Erstens die zentrale Aussage "Strategy and targets always needs to be consistent and aligned!" von WHU-Professor Jürgen Weigand. Das ist die oberste Maxime für mein Handeln, insbesondere gegenüber meinen Mitarbeitern. Jede Kommunikation, Zielsetzung oder Maßnahme sollte stets daran gemessen werden, dass sie auf unsere übergeordneten Ziele/Strategie einzahlt und dazu in Einklang steht. Pragmatische Ad-hoc-Entscheidungen müssen immer einmal wieder getroffen werden. Dies sollten stets Ausnahmen sein, auch so erklärt werden und sind nie der Maßstab, den ich bei der Bewertung meiner Mitarbeiter anlege.

Zweitens ein Learning aus dem Silicon Valley im Rahmen des USA-Moduls: "Move fast and break things." Nur mit einer hohen Geschwindigkeit bei der Entscheidung und Umsetzung ist es überhaupt möglich, iterativ oder "agil" zu arbeiten und letztlich auch zu einer guten Qualität der Ergebnisse zu kommen. Defizite müssen schnell erkannt werden und nur dann kann/muss eine schnelle Anpassung erfolgen. Dazu ist es oft notwendig, dass bekannte Muster bewusst über Bord geworfen werden. Wer hier nicht schnell genug vorwärts kommt, der wird merken, dass die alten Zöpfe immer wieder nachwachsen.

Was empfehlen Sie Unternehmen, die in wirtschaftlich und gesellschaftlich schweren Zeiten um ihre Zukunft bangen?

Christian Ammer: 1.) Klarer Fokus auf die Stärken - nicht jetzt auch noch anfangen, an den (vielleicht nun neu erkannten) Schwächen zu werkeln.
2.) Schenkt euern Mitarbeitern gerade jetzt noch etwas mehr Vertrauen - Stichwort Empowerment. In offensichtlich schwierigen Zeiten werden sie Dich nicht enttäuschen.
3.) Ein gemeinsames klares Verständnis darüber schaffen, was nun nicht (mehr) geht, wo es Schwierigkeiten gibt und welche Einschnitte drohen oder schon vorgenommen werden.

Die Einhaltung dieser drei Maximen hilft mir und uns sehr. Die Kollegen erkennen, dass jeder seinen Beitrag leisten kann und muss und schafft auf der anderen Seite auch Vertrauen und Zuversicht, dass es gemeinsam weitergeht und es auf jeden einzelnen nun noch mehr ankommt.

Das Leadership Excellence Program geht weiter

Möchten auch Sie sich im exklusiven Kreis mit anderen IT- und Digitalenscheidern in Themen rund um (Digital) Leadership weiterbilden? Dann zögern Sie nicht: Wir reisen vom 13.-17. September 2020 mit dem "Leadership Excellence Program" erstmals nach Tel Aviv/Israel und starten vom 9.-13. November 2020 am WHU-Campus Düsseldorf in das neunte Jahr. Zusätzlich finden bereits seit einigen Wochen diverse Digitalevents statt, mit denen wir außerdem kurzfristig auf eventuell fortdauernde Reise- und Veranstaltungsbeschränkungen im Rahmen der vorgenannten Seminarmodule reagieren können und werden. Melden Sie sich jetzt an!