Neue Kollegen

Coworking - so funktioniert das

08.08.2016
Hier kommen Querdenker, Visionäre und Künstler zusammen, arbeiten unter einem Dach. Sie schwören auf das Konzept der so genannten Coworking Spaces - also "Zusammenarbeitsplätze". Weltweit nimmt deren Zahl zu, Berlin gilt als Hauptstadt der Coworker.
Einen Schreibtisch auf Zeit mieten sich Freiberufler, mobile Projektarbeiter oder Gründer.
Foto: Stefano Borghi

Es ist kurz nach 19 Uhr. Denis Altschul gönnt sich ein Feierabendbier. Er hat es aus dem Gemeinschaftskühlschrank geholt. Das Glas, in das er das Geld schmeißt, funktioniert als "Vertrauenskasse": Jeder zahlt das, was er herausnimmt, kontrolliert wird nicht. Gleich wird Altschul hinuntergehen, in den Garten des hauseigenen Cafés, in dem schon die meisten Kollegen sitzen. Kollegen, die streng genommen gar keine sind, weil sie nicht für das gleiche Unternehmen arbeiten.

Denis Altschul arbeitet in keinem gewöhnlichen Büro, sondern im Agora Collective in der Mittelstraße in Berlin-Neukölln. In dem gelb-roten Backsteinhaus gibt es weder feste Arbeitszeiten noch einen Vorgesetzten, dafür sogenannte Coworking Spaces, in denen Freiberufler unterschiedlichster Branchen nebeneinander sitzen. Sie in einen Raum zu setzen, soll Platz für kreative Ideen schaffen, Zusammenarbeit möglich machen, auf die vorher niemand gekommen wäre.

Coworking: Arbeiten und Networken
Alle Coworking-Spaces ...
... haben sich zum Ziel gesetzt, ihren Mietern nicht nur eine Büroheimat, sondern auch einen Raum für neue Kontakte zu schaffen. Hier im Bild das Betahaus in Berlin.
Einen Schreibtisch auf Zeit ...
... mieten sich Freiberufler, mobile Projektarbeiter oder Gründer wie hier im Betahaus und nutzen die Büroinfrastruktur.
Aus informellen Kontakten ...
... von Schreibtisch zu Schreibtisch kann sich geschäftlicher Nutzen entwickeln. Im Betahaus sind so schon viele virtuelle Unternehmen entstanden.
Coworking bietet die Offline-Ergänzung zu den Social Networks
Jeder kennt jeden über ein paar Ecken. Man ist über einen gemeinsamen Geist verbunden, die Hürde zur Zusammenarbeit ist niedrig", beschreibt Betahaus-Mitgründerin Madeleine von Mohl.
Als Arbeitsform ...
... ist Coworking ( hier die Mobilsuite in Berlin) konkurrenzlos günstig. Der Schreibtisch zum Mieten ist schon ab 13 Euro pro Tag zu haben.
In der Mobilesuite ...
... können die Coworker einmal im Monat ihre Geschäftsideen vorstellen oder sich auch ganz informell beim gemeinsamen Frühstück austauschen.
In New York ...
... finden sich 71 Coworking Spaces.
Platz 5 nimmt San Francisco ein ...
... wo 2006 der erste Coworking Space gegründet wurde. Heute finden sich in der Stadt 46 Coworking Spaces.

Berlin zählt weltweit betrachtet zu den Städten mit den meisten solcher moderner Arbeits-Gemeinschaften. Nach Erkenntnissen der "Global Coworking Survey"-Studie gibt es weltweit mehr als 7800 Coworking Spaces, in der deutschen Hauptstadt sind es über 100. Sie seien ein wesentlicher Bestandteil einer stetig wachsenden Startup-Szene und wichtiger Standortfaktor - auch für Freiberufler, sagte ein Sprecher der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung. "Insofern profitiert Berlin von einer wachsenden Zahl von Angeboten."

Das Agora hat es sogar in Berliner Reiseführer geschafft, auch Blogger aus anderen Ländern berichten darüber. Arbeitsforscher erwarten, dass diese Art von Arbeitsmodellen zunehmen wird. Im Agora sind fast alle Arbeitsplätze vermietet, die Gründer planen gerade einen weiteren Standort in der Hauptstadt.

Seit 2011 sitzt das Agora Collective in Berlin, alles begann auf einer Etage. Mittlerweile sind es fünf Stockwerke mit knarzenden Dielenböden, auf denen wild zusammengewürfelte Möbel stehen. Jede Etage hat eine andere Funktion: im Erdgeschoss ist das Café, darüber ein Raum mit flexiblen Arbeitsplätzen, in der zweiten Etage darf in einem der Räume weder geredet noch telefoniert werden, in der vierten Etage hingegen können Gruppen zusammenarbeiten. Der große Raum unterm Dach bietet Platz für Ausstellungen oder Workshops.

Die Gründer Caique Tizzi und Pedro Jardim sprechen nicht von Büros oder Arbeitsplätzen, sondern von Projekträumen. Fast 70 Personen haben darin Platz gefunden. Für Altschul, der an seinem Feierabendbier nippt, ist das Haus mittlerweile nicht mehr nur der Ort, an dem er arbeitet. "Gerade für internationale Freiberufler ist die Community zu einer Art Ersatzfamilie geworden", sagt der 28-jährige Brasilianer.

Coworking
Infrastruktur
Internet (WLAN), Schreibtisch, Kaffeemaschine, Konferenzraum, Telefon und Drucker gehören zur Grundausstattung der meisten Coworking-Spaces. Quellen: Deskwanted.com, IDG
Preise
Bezahlt wird die Nutzung nach einem Mitgliedschaftsmodell ähnlich wie in einem Fitness-Studio. Die Preise vari­ieren je nach Standort und Dauer der Nutzung. Ein Tages­ticket kostet ab 13 Euro, eine monatliche Vollnutzung 179 bis 400 Euro. Extras wie Konferenzräume oder Teambüros werden zum Teil separat abgerechnet.
Markt
Der erste Coworking-Space wurde 2006 in San Francisco eröffnet. Heute gibt es weltweit 2500 Stand­orte, davon 1160 in Europa.
Nutzer
Coworker arbeiten eigenverantwortlich in wechselnden Projekten und sind Selbständige, Existenzgründer oder Angestellte, die in flexiblen Arbeitsumgebungen tätig sind.
Funktionsweise
Coworking Spaces sind Großraumbüros, die unabhängig voneinander arbeitende Personen und Firmen als Hauptarbeitsplatz nutzen. Verbindungen unter den Nutzern entstehen durch ähnliche Ideen und Werte oder sich ergänzende Fähigkeiten. Eine sinnvolle Vernetzung unter den Nutzern wird von den Coworking-Anbietern vorangetrieben.

Eine Familie, die sich hilft. Denn die Idee hinter dem Projekt, dass sich Kreative hier finden, ihre Arbeit sich ergänzt und gemeinsam neue Ideen entwickelt werden, klappt, sagt Altschul, der als Community Manager arbeitet: "Da hilft beispielsweise der Programmierer dem Künstler mit seiner Homepage."

Im besten Fall profitiert auch das gesamte Kollektiv von der Zusammenarbeit. Denn ob Möbel oder das Mittagessen: Auch Selbstversorgung ist ein Ziel. Erste Ideen dafür setzen die Kollegen bereits um. So pflanzen Workshopteilnehmer im hauseigenen Garten Gemüse an, das im Kochtopf des Cafés landet. Andere bauen aus alten Möbeln neue Schreibtische oder Regale.

Stadt- und Wirtschaftsgeograf Bastian Lange glaubt, dass die Nachfrage für solche Projekte bestehen bleibt: "Gerade junge, gut ausgebildete und ideengetriebene Menschen wollen abseits der Routine des gewohnten Arbeitsmarktes neue Arbeitsformen ausprobieren." Das zeige auch das Betahaus, ebenfalls in Berlin, ebenfalls gut ausgelastet.

Er ist sich sicher, dass es künftig noch mehr solcher Orte in Deutschland geben werde. "Vielleicht in abgewandelter Form, und spezialisiert in einem bestimmten Arbeitsfeld", sagt Lange. Und er ist sich sicher, dass es gut wäre: "Was wollen wir mehr, als dass sich junge Leute konstruktiv den großen Fragen der Zukunft stellen? Etwas Besseres kann uns gar nicht passieren." (dpa/rs)