Analytics in der Energiebranche

Das Predictive Gasleitungsnetz

30.11.2016 von Christoph Lixenfeld
Braucht der Transport von Gas eine Digitalisierungsstrategie? Unbedingt! Warum, das erklärt CIO Ralf Werner vom Gasnetzbetreiber Open Grid Europe, der früheren Ruhrgas AG.
  • Der Gasnetzbetreiber hat sein 12.000 Kilometer langes Gasnetz und 30 Verdichterstationen mit Sensoren ausgerüstet
  • In der von HPE betriebenen Big-Data-Zentrale dienen SAP HANA, Hadoop und SAP Business Warehouse (on HANA) als Analyse-Infrastruktur
  • Neu geschaffene interdisziplinäre Teams kümmern sich um Prozess Prozessoptimierung, bestehende Geschäftsmodelle und neue digitale Geschäftsfelder
Rund 30 Verdichterstationen entlang des über 12.000 Kilometer langen Gasnetzes sorgen dafür, dass das Gas immer mit ausreichend Druck transportiert wird.
Foto: Open Grid Europe

Immer, wenn ein Journalist oder Buchautor verdeutlichen möchte, welch epochale Bedeutung die Digitalisierung für unser aller Leben in den kommenden Jahren haben wird, heißt es, Daten seien "das Öl des 21. Jahrhunderts".

Keine erfolgreiche Industrialisierung ohne Öl, so die Botschaft, und keine Digitalisierung ohne Daten. Es gibt einige Branchen, bei denen sich die Bedeutung dieses neuen Rohstoffs auch Menschen zusammenreimen können, die nicht regelmäßig das CIO-Magazin lesen. Einzelhandel zum Beispiel, Versicherungen oder Telekommunikation.

Nun geht es aber in dieser Geschichte um eine Branche, bei der das Zusammenreimen insofern etwas schwerer fällt, als die allermeisten Menschen gar nicht wissen, dass es sie überhaupt gibt. Gemeint ist der Gastransport. Tatsächlich wird auch für diese Branche Digitalisierung immer wichtiger.

Die ehemalige Ruhrgas AG

Open Grid Europeist, trotz des modernen Namens, ein 90 Jahre altes Unternehmen. Die längste Zeit hieß es Ruhrgas AG, wurde 2003 von E.ON übernommen und schließlich wieder vomEnergieriesen entkoppelt, weil laut EU-Binnenmarktregeln ab 2010 auch in Deutschland Energieerzeugung, -handel und Leitungsnetze entflochten werden mussten (Unbundling). Seit dieser Zeit heißt es Open Grid Europe, Eigentümer ist mittlerweile ein Konsortium von international tätigen Strukturfonds.

Der Unternehmenshauptsitz von Open Grid Europe in Essen.
Foto: Open Grid Europe

Auch nach dem Unbundling unterliegt das Geschäft mit dem Gastransport der Regulierung, weil es ein natürliches Monopol ist, will sagen: Niemand verlegt - um für Wettbewerb zu sorgen - neben eine bereits bestehende riesige Gasleitung noch eine zweite.

Bundesnetzagentur in Bonn reguliert

Damit aber derjenige, dem die einzige vorhandene Leitung gehört, diese Position nicht als Monopol im Markt ausnutzen kann, werden die Preise für die Durchleitung von der Bundesnetzagentur in Bonn reguliert. Für den Betreiber des Netzes komme es deshalb vor allem darauf an, "sein Netz möglichst effizient zu nutzen und die Kosten im Griff zu behalten", sagt Ralf Werner, CIO von Open Grid Europe.

Die IT-Kennzahlen der Open Grid GmbH
Foto: Open Grid Europe

Genau an dieser Stelle kommen die Daten ins Spiel. Das Leitungsnetz ist mit Sensoren versehen, die Schwingungen und Temperaturen messen. Eine zentrale Rolle dabei spielen die rund 30 Verdichterstationen, die entlang des über 12.000 Kilometer langen Netzes dafür sorgen, dass das Gas immer mit ausreichend Druck über große Entfernungen transportiert werden kann.

Mit Predictive Maintenance automatisiert Un­regelmäßigkeiten erkennen

Sie alle sollen ihre Daten ins Essener Rechenzentrum senden. Dort werden die Daten auf bestimmte Muster hin analysiert. Der Netzbetreiber will so durch Predictive Maintenance frühzeitig und automatisiert Un­regelmäßigkeiten erkennen, die einen reibungslosen Betrieb behindern oder sogar zu Schäden führen können.

Was nach einer geschmeidigen und leicht handhabbaren Prozesskette klingt, bereitet dem CIO und seinen Mitarbeitern allerdings noch Probleme. "Wir stehen hier erst am Anfang", sagt Ralf Werner. "Eine Schwierigkeit besteht darin, alle Daten auszulesen und nutzbar zu machen. Die Verdichter sind unterschiedlichen Typs und unterschiedlich alt, sie stellen ganz verschiedene Daten zur Verfügung. Für uns stellt sich die Frage, welche davon wir wirklich brauchen." Hinzu kommt: Einige Maschinen liefern überhaupt keine Daten.

Analyse-Infrastruktur aufgebaut

Weit fortgeschritten ist Open Grid Europe dagegen beim Aufbau der Analyse-Infrastruktur. 90 Prozent seiner IT betreibt seit 2010 Hewlett-Packard Enterprise (HPE), erst dieses Jahr wurde in Essen ein neues Rechenzentrum für die Rund-um-die-Uhr-Überwachung und -Steuerung des gesamten Leitungsnetzes in Betrieb genommen, eine Big-Data-Zentrale sozusagen.

Ralf Werner - CIO, Open Grid Europe: "Ich möchte eine Einheit haben, die nicht nach dem Wasserfallmodell agiert, sondern agile Methoden nutzt. Wir wollen ja nicht nur digital, sondern auch innovativ sein."
Foto: Open Grid Europe

Als technische Plattform dient seit Kurzem eine Kombination aus SAP HANA und Apache Hadoop, schon länger nutzt das Unternehmen auch SAP Business Warehouse (on HANA). "Natürlich könnte man hier auch Lösungen von Oracle oder IBM einsetzen", so CIO Werner, "aber wir kommen aus einer starken SAP-Ecke und hatten in diesem Umfeld bereits Know-how. Das hilft uns jetzt, vor allem weil wir den Anspruch haben, vieles selbst machen zu können."

Daten verknüpfen mit SAP HANA

Werner und seine Leute verknüpfen mit Hilfe der HANA-Datenbanktechnologie, die die Rechenleistung optimiert, Daten aus verschiedenen Quellen miteinander. Für die Genehmigung der Netzentgelte (Preise) durch die Bundesnetzagentur zum Beispiel braucht Open Grid Europe möglichst genaue Prognosen über die durchzuleitenden Gasmengen. Diese Mengen hängen von den unterschiedlichsten Faktoren ab, unter anderem schlicht vom Wetter: Wenn es kalt ist, steigt der Gasverbrauch.

"Im Grunde versuchen wir immer, vergangenheitsbezogene Daten in die Zukunft fort­zuschreiben", erklärt Werner. Praktisch kann das bedeuten, historische Daten über durchgeleitete Mengen sowohl mit historischen und aktuellen Wetter- als auch mit verschiedenen Kundendaten zu verschneiden, um so die Qualität von Prognosen zu erhöhen.

Kundendaten stammen von Gaserzeugern oder von großen Verbrauchern wie zum Beispiel Stahlwerken. Bei der Art der Daten hat das Unternehmen eine Transparenzpflicht, muss veröffentlichen, welche Informationen es genau nutzt.

Agile Einheit aufgebaut

Allerdings bedeutet Digitalisierung für Open Grid Europe keineswegs nur, mit Hilfe von Big Data die eigenen Durchleitungsprognosen zu verbessern. Um auch in anderen Bereichen die digitale Transformation zu forcieren, hat Werner in der IT neben den drei klassischen Säulen Plan, Build, Run eine neue Organisation etabliert, die sich ausschließlich diesem Thema widmet. "Ich möchte eine Einheit haben, die ganz bewusst nicht nach dem klassischen Wasserfallmodell agiert, sondern agile Methoden nutzt", so der CIO. "Wir wollen ja nicht nur digital, sondern auch innovativ sein."

Damit das gelingt, gibt es seit einigen Monaten quer durchs Unternehmen kleine interdisziplinäre Teams, in denen Zukunftsthemen über einen Zeitraum von mehreren Monaten fernab traditioneller Unternehmenssilos diskutiert werden.

Die wichtigsten CIOs der deutschen Energiebranche
Martin Hölz
Ab 1. April 2020 wird Martin Hölz CIO der Energie Baden-Württemberg AG (EnBW) mit Sitz in Karlsruhe. Er löst Frank Krickel ab, der seit Juni 2017 die Position des Leiter der Funktionaleinheit Informationstechnologie (C-TI) innehatte und das Unternehmen auf eigenen Wunsch verlässt.
Damian Bunyan
Damian Bunyan ist seit Januar 2016 CIO der E.ON-Abspaltung Uniper in Düsseldorf. In dem Unternehmen werden die E.ON-Bereiche konventionelle Stromerzeugung, Energiehandel und Exploration & Produktion gebündelt. Von 2006 bis 2013 war Bunyan Mitglied der Geschäftsführung des E.on Business Services.
Philip Lübcke
Philip Lübcke ist seit September 2019 Geschäftsbereichsleiter IT der TEAG Thüringer Energie. Er berichtet an den Vorstand Personal und IT Wolfgang Rampf. Zuvor war Lübcke sechseinhalb Jahre lang CIO der Frankfurter Mainova AG. Insgesamt brint er 15 Jahre Erfahrung aus der Energiebranche mit.
Sebastian Weber
Seit 1. Juli verantwortet Sebastian Weber als CTO bei Eon den IT-Betrieb. Er soll auch die digitalen Plattformen des Konzerns ausbauen. Zudem hat er gemeinsam mit Christopher d'Arcy in einer Doppelspitze die Geschäftsführung der IT-Tochter Eon Digital Technology GmbH übernommen. Beide berichten direkt an Digitalvorständin Victoria Ossadnik.
Jan-Wilm Buschkamp
Jan-Wilm Buschkamp ist seit August 2019 Bereichsleiter IT der Mainova AG. Seitdem hat das Team um den CIO mit „hybrIT2023“ ein IT-Transformationsprogramm erarbeitet, um den Frankfurter Energieversorger zukunftsfähig zu machen. Ziel des Programms ist es unter anderem, mehr Wert zu generieren, das Unternehmen lean und agil aufzustellen sowie Prozesse end-to-end zu gestalten.
Oliver Herzog
Zum 1. September 2023 übernimmt Oliver Herzog den CIO-Posten bei der Thüga. Seine Vorgängerin Annette Suckert scheidet altersbedingt aus dem Unternehmen aus.
Thorsten Steiling
Thorsten Steiling ist seit Februar 2019 CIO Oerlikon Group & Managing Director Oerlikon IT Solutions AG. Er berichtet an Boris von Bieberstein, Head of Group Business Services. Zuvor war Steiling von September 2017 bis Januar 2019 CIO/Head of Corporate IT beim Automobilzulieferer Veritas AG in Gelnhausen.
Marcus Schaper
Marcus Schaper ist CIO bei der neuen RWE-Tochter Innogy. Er kommt von der Mutter RWE. Er war zuvor Head of IT bei der RWE Supply & Trading. Schaper hat an der WWU Münster Wirtschaftsinformatik studiert und war seit dem Jahr 2000 bei McKinsey. Zu RWE kam er im April 2010. Bis zum Börsengang der neuen RWE-Tochter fungierte Schaper als CIO für beide Konzernteile, seitdem ist er CIO der neuen Tochtergesellschaft. Übergreifende IT-Aufgaben in der RWE AG werden derzeit von Winfried Bröring wahrgenommen.
Jan Leitermann
Seit Juni 2017 ist Jan Leitermann Group CIO beim österreichischen Öl- und Erdgaskonzern OMV in Wien. Leitermann war zuvor Managing Director und Board Member beim Beratungsunternehmen Accenture AG Schweiz.
Jürgen Skirde
Jürgen Skirde ist CIO der RAG. Gleichzeitig hat er die operativ ausgerichtete Funktion des IT-Leiters inne. Im Konzern arbeitet der Diplom-Ingenieur schon seit 1985 - zunächst zehn Jahre auf Bergwerken, seither im IT-Management. Unter anderem leitete er SAP-Einführungsprojekte, von 2004 bis 2011 war er für die Infrastruktur verantwortlich.
Jan-Hendrik Semkat
Seit November 2017 ist Jan-Hendrik Semkat neuer Bereichsleiter Innovations- & IT-Management bei Natgas. Der gebürtige Oldenburger war mehrere Jahre in den Bereichen Softwareentwicklung, Projektmanagement und Beratung in der Energiewirtschaft tätig. Zuletzt war er Geschäftsführer der SIV Utility Services.
Jörg Ochs
Jörg Ochs (51) hat am 2. September die Leitung der Informationstechnologie der Stadtwerke München (SWM) übernommen. Er berichtet an den technischen Geschäftsführer der SWM Helge-Uve Braun. Ochs ist bereits seit 2017 Geschäftsführer der SWM Infrastruktur GmbH, der SWM Infrastruktur Region GmbH und der RegioNetzMünchen GmbH. Insgesamt ist er bei der SWM seit 2003 beschäftigt, unter anderem als Senior-Manager IT-Security, Leiter IT-Security und Datacenter/Infrastruktur und als Leiter Telekommunikation bei der SWM Services GmbH.
Michael Seiferth
Im Oktober 2021 hat Michael Seiferth die Geschäftsführung der N-Ergie IT übernommen. Vorgänger Klaus Vogl hat das Unternehmen verlassen.

Tool für Social Media Analytics

Konkret sollen sie Initiativen in drei Bereichen anschieben. Der erste dreht sich um die schon beschriebene Prozessoptimierung (Predictive Maintenance), der zweite um die Erweiterung und Optimierung des vorhandenen Geschäftsmodells. Entstanden ist in diesem Zusammenhang ein Tool für Social Media Analytics, mit dem Open Grid Europe die Reaktionen der Bevölkerung auf Twitter, Facebook und anderen Social-Media-Plattformen analysieren kann, wenn es um Baugenehmigungen für neue Gasleitungen geht.

Damit analysieren die Essener nicht nur die Nachrichtenlage rund um das eigene Unternehmen, sondern auch die bei vergleichbaren Aktivitäten anderer Unternehmen aus dem Energiesektor. "Wir können dadurch die Stimmung in der Bevölkerung besser verstehen und bereits im Vorfeld nach adäquaten Lösungen suchen", sagt Werner.

Kein Thema in sozialen Medien

Interessanterweise stellte das Team bei der Analyse allerdings fest, dass das Thema Gastransport kaum in den sozialen Medien, dafür aber deutlich mehr in den Printmedien vorkommt, vor allem in den Lokalteilen von Tageszeitungen. Diese Quellen werden jetzt intensiv ausgewertet mit dem Ziel, die Stimmungslage genau zu kennen und auf dieser Basis Bürgerversammlungen zu besuchen, wenn neue Gasleitungen verlegt werden müssen, und proaktiv auch mit den Vertretern von Kommunen zu sprechen.

Drittens denken die interdisziplinären Teams auch "über neue digitale Geschäftsfelder vor allem im Dienstleistungsbereich nach, die unser eigentliches Kerngeschäft in Zukunft begleiten können", erklärt CIO Werner. Ein Beispiel sind Datenservices, mit denen Kunden wie große Industrieunternehmen oder Stadtwerke ihren Gaseinkauf und -transport optimieren können. Denkbar sei auch, so Werner, Kunden individuelle Informationen über die Gasbeschaffenheit zu liefern. "Für Glashütten etwa sind das wichtige Informationen, durch die sich die Qualität ihrer Produkte maßgeblich beeinflussen lassen."