Jürgen Schmidhuber

Der ideale Wissenschaftler

02.06.2004 von Andreas Schmitz
Der Mathe- und Informatik-Professor vom Dalle Molle Institute for Artificial Intelligence in Lugano im Schweizer Tessin rechnet damit, dass Forscher spätestens 2040 durch Künstliche Intelligenz ersetzbar sind. Irgendwann sei es dann auch möglich, den idealen Wissenschaftler zu bauen.

Jürgen Schmidhuber hat bei der Bundeswehr in einem Etagenbett direkt über Rudi Völler geschlafen. Doch als jemand zu ihm auf die Stube kam und nach dem Fußballer fragte, konnte Schmidhuber ihm nicht helfen. Er wusste nicht, dass der Kamerad bei München 1860 spielte. Schmidhuber hatte schon damals anderes im Sinn. Er las Science Fiction, "aber nur, wenn sie wissenschaftlich fundiert war". Er dachte seit dem Teenageralter darüber nach, wie er den optimalen künstlichen Wissenschaftler bauen könnte. Und er schwärmte seinem Bruder so lange von schwarzen Löchern vor, bis der schließlich Physik studierte.

Heute stapeln sich Fachbücher mit Titeln wie "New Ideas of Optimization", "Artificial Intelligence - A Modern Appraoch" oder "Ant Algorithms" in seinem Regal. Die abstrakte Welt der Formeln hat ihn nicht mehr losgelassen. Ein kurzer Algorithmus für das Universum schwebt dem Wissenschaftler vor. Ähnlich wie einige Bilder von Picasso: "Weil sie sowohl simpel als auch treffend sind, extrahieren sie das Wesentliche." Für alles hat Schmidhuber eine Formel - frei nach Konrad Zuse, der einst fragte: "Ist die Welt letzten Endes nur ein Computerprogramm?" - ein Mensch also eine Menge Nuller und Einser?

Der Tessiner Wissenschaftler ist mit seinen Gedanken ein paar Jahre in der Zukunft unterwegs. Er möchte eine Maschine bauen, die sich selbst ändern kann, also lernen kann. Das Maß aller Dinge für den schon mit 30 Jahren habilitierten Wissenschaftler ("Das ist gar nix, Werner Heisenberg wurde mit 23 Jahren Professor") ist (noch) der Mensch: "Wenn Sie Hunger haben, müssen Sie sehr komplexe Probleme lösen, um ihre Körperzellen zufrieden zu stellen. Sie müssen Muster und Objekte erkennen, Strategien entwickeln, einkaufen, um den Kühlschrank zu füllen. Hier sind alle kognitiven Fähigkeiten nötig."

Noch hat der Computer nicht die Rechenkapazität und Komplexität des menschlichen Gehirns. Doch das könnte sich bald ändern. "Schauen Sie sich die Geschichte der Informatik an", sagt Schmidhuber, dessen Computer-Zeitrechnung 1623 mit Wilhelm Schickard beginnt, dem Konstrukteur des ersten Rechenautomaten. "Zweihundert Jahre später entwarf Charles Babbage erstmals eine programmierbare Maschine, hundert weitere Jahre später baute Konrad Zuse die erste, 50 Jahre später kam das Internet. Die Zeiträume halbieren sich jeweils", sagt er und schreibt "1/2 c" zwischen die einzelnen Schritte.

Seine für ihn logische Schlussfolgerung: "Die Reihe konvergiert gegen 2040, obwohl schon zwei Jahrzehnte vorher erschwingliche Maschinen schneller rechnen werden als das menschliche Hirn." Sein Problem mit dem optimalen künstlichen Wissenschaftler wäre damit in absehbaren Jahrzehnten gelöst. Abgehoben sei diese Ansicht nicht, meint der Ko-Direktor des Instituts, der seine Habilitation zum Thema "Netzwerkarchitekturen, Zielfunktionen und Kettenregel" an der Technischen Universität in München schrieb und nach ein paar Jahren an der Universität Boulder bei Denver in Colorado ins Schweizer Dalle Molle Institut ging.

Schrifterkennung ein "limitiertes Problem"

Schmidhubers Ansätze zur Künstlichen Intelligenz (KI) gehen weit über das hinaus, was derzeit Unternehmen in der Praxis einsetzen können. Mit einer einfachen Schriftenerkennung auf KI-Basis gibt sich Schmidhuber nicht mehr ab. Auf der Cebit 2004 in Hannover wurden entsprechende Systeme für Unternehmen als "Paper to ERP" gepriesen. Doch Schriften nach Lernschritten mit 95-prozentiger Sicherheit erkennen zu können sei ein "limitiertes Problem". Hier gehe es lediglich um statische Mustererkennung, eine vergleichsweise einfache Aufgabe gegenüber dem Erkennen von Sequenzen etwa aus Filmen. "Viele CIOs sagen, unsere Projekte seien gut und wichtig für die Zukunft, aber die ambitioniertesten Vorhaben im Bereich universeller Lernmaschinen noch nicht in die kommerzielle Praxis übertragbar."

Dennoch gibt es Beispiele aus der Praxis: Auf Schmidhubers 19-Zoll-Flachbildschirm sind ein Labyrinth und zwei schwarze Kugeln zu sehen, zwei Agenten. Der erste Agent hat die Aufgabe, einen Schlüssel zu finden und damit eine Türe aufzuschließen, in der sich wiederum ein Schlüssel befindet. Der zweite Agent soll dann den zweiten Schlüssel aus dem Raum herausholen und ihn in ein weiteres Schloss stecken. Und die Aufgabe ist bewältigt. "300 000 Schritte der beiden Agenten waren zu Beginn nötig", sagt der KI-Spezialist, "nach der Lernphase schaffen die Agenten den Weg in 5000 Schritten. Jedes Mal, wenn ein Agent das Ziel fand, bekam er eine gewisse Punktzahl als Belohnung. Jeder versucht, die Zahl der Punkte pro Zeiteinheit zu maximieren."

Probleme zu lösen ist Schmidhubers Leidenschaft. Ihm ist egal, ob es darum geht, wie man durch lernfähige Aktuatoren, kleine bewegliche Plättchen auf einer Oberfläche, einen Körper windschlüpfriger macht oder Agenten auf die Reise schickt. Je komplexer jedenfalls die Aufgabe, umso besser. Doch was bedeutet für einen Wissenschaftler Komplexität? "Komplex ist, was keine kurze Beschreibung hat - also kein kurzes Programm", definiert Schmidhuber abstrakt. "Diese Definition ignoriert aber die Rechenzeit des Programms und bietet daher nicht das ideale Rahmenwerk, um Menschen zu bauen, die wie Babys lernen, schwierige Probleme zu lösen." Babys seien die besten "lernenden Maschinen", denn sie lösen Probleme unbedarft und ohne den evolutionären Ballast. Und davon ist der Vater einer vier- und einer sechsjährigen Tochter noch weit entfernt.

Zwei Baukästen "Robotics Invention" von Lego liegen auf dem Tisch im Flur des futuristischen Institutsgebäudes im Luganoer Stadtteil Manno. "Immer wieder mal Kind sein", rät der Professor seinen Mitarbeitern. Nur so sei der Ruf des Schweizer Instituts zu halten, das in den Nischenbereichen "optimale universelle Lernmaschinen" und "rekurrente neuronale Netzwerke" weltweit führend ist.

Roboter zur Versorgung alter Menschen

Etwa 60 Prozent der Gelder holt das Institut mit etwa 25 Mitarbeitern aus Drittmitteln unter anderem vom Schweizerischen Nationalfonds und der Europäischen Union, derzeit mit einem neuen Projekt zu "antizipatorischen Robotern", die sich möglichst optimal auf die Umwelt einstellen. "Das Thema Robotic wird schon allein deshalb abheben", sagt Schmidhuber, "weil die demografische Entwicklung der industralisierten Welt es fordert: Ohne Roboter können nicht immer weniger Junge immer mehr Alte mitversorgen." Höchste Zeit also, den optimalen Wissenschaftler in Form eines Roboters zu schaffen, der das Kippen der Bevölkerungspyramide quasi "technisch-neuronal" ausgleicht.

Der Ausgangspunkt liegt auch hier im Luganoer Algorithmus-Baukasten, in der nach dem österreichischen Logiker und Princeton-Professor Kurt Gödel benannten "Gödel-Maschine", die ihre Software selbstständig überschreibt, sofern sie den entsprechenden Beweis für dessen Richtigkeit findet, in "Ameisen-Algorithmen", die fähig sind, nach dem Vorbild der Natur Probleme zu erkennen und eigenständig Lösungen zu finden, und die von Unternehmen wie Daimler-Chrysler und Unilever schon eingesetzt werden.

Das Wichtigste für Schmidhuber sind die einfachsten Algorithmen à la Picasso. Da füttert Schmidhuber seinen Dell-Computer mit einer Formel für Blues-Harmonien und lässt ihn arbeiten. Heraus kommt ein echter Blues, dem allerdings noch etwas der Groove fehlt. Oder der Wissenschaftler widmet sich seiner "Kaum Komplexen Kunst". Die Grundlage dafür ist ein Kreis aus fraktalen Mustern, unendlich vielen Halbkreisen, die in unterschiedlichen Größen und Abständen voneinander in einem Kreis ein charakteristisches Muster abgeben. Schmidhuber schreibt kurzerhand einen neuen - kürzestmöglichen - Algorithmus und entwickelt aus dem komplexen Bild eine Blume mit einem herumflatternden Schmetterling.