Zentrale versus Länder

Dickköpfigkeit verhindert Standardisierung

13.12.2010 von Joachim Brands
Die Verkaufsräume der Handelsfilialen gleichen sich von Stuttgart bis Shanghai, bei Prozessen und Technologien herrscht dagegen Wildwuchs. Mehr Standards versprechen die Lösung, meint Joachim Brands von HP.

Es ist nun soweit: Die umfangreichen Tests sind abgeschlossen, und die Verantwortlichen geben die neue Kassen-Software für den globalen Einsatz frei. Sie bringt Neuerungen bei Kundenkarten und Rabattsteuerung. Alles läuft wie geplant, doch nach der Hälfte des Roll-Outs fallen die ersten Kassen aus, es werden von Tag zu Tag mehr Ausfälle, teilweise müssen sogar Märkte schließen.

Joachim Brands ist bei HP Enterprise Services Deutschland für Kunden aus dem Handel und Konsumgütersegment verantwortlich. Er setzt sich für mehr Standards im Filialgeschäft ein.
Foto: HP

Die Fehlersuche fördert zunächst Überraschendes zutage: Ein Landesverantwortlicher hat aus Kostengründen nicht alle Kassen im vorschriftsmäßigen Turnus austauschen lassen. Die veralteten Modelle sind nicht für die neue Software ausgelegt. Den Konzern trifft dieser Alleingang hart, denn wie sich später herausstellen wird, sind drei weitere Landeschefs dem schlechten Beispiel gefolgt. Sie haben sich ebenfalls nicht an die weltweiten Vorgaben gehalten.

Die Lösung: Jetzt sollen Konzernvorstände über die Einführung weltweiter Standards entscheiden – und müssen dafür in den Ländern viel Überzeugungsarbeit leisten.

Filialprobleme wie dieses kennen viele Handelsunternehmen: Sie müssen die Technologien und Prozesse ihrer Filialen standardisieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben, doch die Organisation spielt erst einmal nicht mit. Technologische Inseln sichern ihren Verantwortlichen vermeintlich den Job, weil nur sie sich darin auskennen. Zum anderen stärken Länderchefs in Retailkonzernen ihre Macht, indem sie ihre dezentralen IT-Infrastrukturen möglichst wenig mit der Holding integrieren und damit die Informationshoheit behalten wollen.

Das Problem ist aber nicht allein die gallische Dickköpfigkeit der dezentralen Einheiten. Oft hört die zentrale IT den Ländern oder Regionen nicht zu, versteht sie nicht oder ignoriert wichtige dezentrale Anforderungen. Die Konsequenz aus vielen Jahren der Alleingänge auf beiden Seiten: In den meisten Konzernen entstand ein Flickenteppich von Filiallösungen, der Innovationen erschwert, Synergien verhindert und die Fehleranfälligkeit erhöht.

Finanzverwalter oder Geschäftsgestalter?

Studien bestätigen diesen Befund. So gehört beispielsweise für das weltgrößte Analystenhaus Gartner die Optimierung der Filial-Infrastruktur zu den zentralen Herausforderungen der Händler. Das sei die Kernvoraussetzung, um Shops einerseits mit der Zentrale, andererseits in eine Multichannel-Struktur zu integrieren. Doch nicht nur Geschäftsmodelle wie Multichannel-Retailing setzen Standards voraus, sondern auch die Expansion und der Aufbau neuer Geschäftsfelder.

Doch bevor ein Handelskonzern eine internationale Standardisierungs-Initiative startet, braucht es zunächst eine Grundsatzentscheidung: Will er als Finanzholding agieren und sich darauf konzentrieren die Ergebnisse zu konsolidieren? Dann wird er die Länder weiterhin selbst über die Infrastrukturen ihrer Filialen entscheiden lassen mit der akzeptierten Konsequenz, dass er künftig immer weniger IT-Dienste zentral bereitstellen kann. Synergien werden nur minimal ausgeschöpft, Multichannel ist nur mit hohem Aufwand umzusetzen.

Entscheidet sich der Konzern aber für die Führung des operativen Geschäftes, wird er sich gestaltend einbringen müssen. Er wird durch Argumente überzeugen, gelegentlich auch durch das Gewicht der Hierarchie. Er wird zentrale und dezentrale Steuerung über klar umrissene Rollen und Verantwortlichkeiten ausbalancieren und dem Topmanagement die Gesamtverantwortung für zentrale Konsolidierungsprojekte übertragen.

Wie sich die Filiale mit diesem Managementansatz organisatorisch, prozessual und technologisch erneuern lässt, wird im Folgenden exemplarisch beschrieben. Im Zentrum steht dabei die Business-Transformation und weniger die IT, die das Werkzeug dazu ist.

Auf Organisationsebene sollte ein internationales Governance-Board aus den Top-Entscheidern im Unternehmen unternehmensweit gültige Richtlinien samt Business- und IT-Masterplan festlegen. Das Board steuert und finanziert die Projekte. Jedes Mitglied verantwortet die Kosten-Nutzen-Rechnung für seine Projekte und gibt sie nach einer Testphase frei. Danach startet der internationale Roll-Out.

Standardisierung tut Not – Multichannel-Retailing setzt internationale Standards voraus, aber Länderchefs stemmen sich oft gegen die Veränderung.
Foto: HP

Kommt es zu Überschneidungen, etwa zwischen Filialwarenwirtschaft und Supply Chain Management, stimmt sich der Vertriebsverantwortliche mit dem Einkaufs- und Finanzverantwortlichen direkt ab. Es wird dann darum gehen, wie übergreifende Prozesse aussehen und an welcher Stelle welche Daten in angrenzende Systeme übergeben werden. Letztlich entscheidet der CEO.

Dieses Verfahren ist zwingend, um einen Business- und IT-Masterplan durchzusetzen. Es bedeutet jedoch nicht, dass über die Länder hinweg entschieden wird. Vielmehr sehen gute Governance-Richtlinien auch Länderverantwortlichkeiten vor. Gleichzeitig wird die Zentrale einen offenen Kommunikationsweg zu den Ländergesellschaften etablieren. Gerade in der Anfangsphase von Konsolidierungsprojekten tauchen nämlich zahlreiche Fragen und Unsicherheiten auf, die sich nur gemeinschaftlich klären lassen. Transparenz, Kommunikation und Kooperation sind hier oberstes Gebot.

Fehler über Fehler

Ein internationales Handelsunternehmen wollte beispielsweise eine zentrale Filialwarenwirtschaft einführen. Die von den Ländern zurückgemeldeten Kostenanalysen ließen das Projekt allerdings als unrentabel erscheinen. Weil die Landeschefs und der Projektverantwortliche in der Holding aber bereits einen guten Draht zueinander gefunden hatten, ergab sich bald ein anderes Bild.

Das eine Land hatte bei den Angaben zum Altsystem die Entwicklungskosten nicht berücksichtigt, weil diese den Fachbereichen zugewiesen worden waren, ein zweites blendete die Kosten für den IT-Support aus, weil er von internen Mitarbeitern erbracht wurde. Ein drittes Land vergaß schlicht die Lizenzkosten. Fast alle Länder hatten zudem die wachsenden Aufwände für neue Geschäftsprozesse, Servicequalität, Compliance, regulatorische Anforderungen und Risikominimierung weit unterschätzt. Es zeigte sich bald, dass die Aufwände für das Altsystem aufgrund der fehlenden Angaben viel zu niedrig angesetzt waren.

Der Business Case wurde schließlich adaptiert und sogar um wichtige Länderfunktionen erweitert, die sich erst bei den Gesprächen vor Ort herauskristallisiert hatten. Letztlich spart nun der Konzern seit der Einführung der internationalen Filialwarenwirtschaft 30 Prozent seiner Kosten ein – auch zum Nutzen der Länder.

Sich auf Prozesse einigen

Konsolidierungen führen im Normalfall auch zu personellen Veränderungen; so wird das Change Management dafür sorgen, dass sich zum Beispiel die Landes-IT- oder Logistikleiter auf ihre künftigen Rollen konzentrieren und in den Landesgesellschaften eventuell Mitarbeiter-Ressourcen gebündelt oder ausgelagert werden. Die Klärung der neuen Verantwortungen und Rollen sollte dabei so früh wie möglich angestoßen werden – andernfalls entsteht aus der Unsicherheit der Betroffenen eine Bremsermentalität gegen die an sich nutzbringenden Veränderungen.

Eine klarere Aufteilung von Rollen und Verantwortlichkeiten wird sich auch in den Prozessen widerspiegeln. So werden sich etwa Abläufe der Länder im Multichannel-Retailing in Zukunft weitgehend gleichen: Der Kunde wird im Internet den Warenbestand der Filiale einsehen und Produkte vorbestellen können – und dies unabhängig davon, ob er in Deutschland konsumiert oder in China. Das Ziel ist dabei immer das gleiche: Erfolgreiche Geschäftsmodelle, angereichert durch lokale Besonderheiten, schneller als der Wettbewerb multiplizieren.

Prozessvarianten ergeben sich zum Beispiel durch rechtliche Bestimmungen wie Fiskalisierung oder landestypische Bezahlverfahren, aber auch durch Kundengewohnheiten. Wichtig ist hier, nicht die Unterschiede im Kleinen zu diskutieren, sondern den Prozessablauf als Ganzes fachbereichsübergreifend abzustimmen. Dort wo es übergreifende Best-Practices gibt, sollte man sich von alten (Länder-)Traditionen verabschieden – es sei denn, der wirtschaftliche Nutzen kann explizit durch den Fachbereich nachgewiesen werden.

Gerade für neue Regionen und Märkte des Konzerns ist es von Vorteil, wenn sie auf erprobte Filialstandards mit komplett transparenten Kosten zurückgreifen können. Zudem sparen sie bei der Implementierung Zeit, denn ein standardisierter Roll-Out ist innerhalb weniger Monate abgeschlossen. Indem die Holding föderierte Entscheidungsstrukturen unterstützt, stellt sie sicher, dass alle Länder die neuen Standards mittragen können. Dabei sollte die Stimme eines neuen Landes mit noch wenigen Filialen ebenso gehört und wertgeschätzt werden wie die Umsatzstärksten. Schon morgen könnten – vielleicht in China oder Russland – aus sechs Stores sechshundert oder sechstausend geworden sein.

Standardprozesse machen es gerade für Expansionsländer möglich, innerhalb des Konzerns Synergien zu nutzen. Eine Region mit zunächst nur wenigen Filialen wird sich kein eigenes Call Center leisten, aber gerne ein gemeinsames nutzen, wenn es dadurch seinen Kunden vom Start weg guten Service bieten kann. Gleiches gilt für eine zentrale Multichannel-Plattform, auf der alle Filialen weltweit repräsentiert sind.

Erst der Prozess, dann die Technik

Damit heutige chaotische Infrastrukturen dem Streben nach globalen Geschäftsprozessen nicht den Todestoß versetzen, werden sich Länder und Holding erst einmal unabhängig von bestehenden technischen Komponenten auf Business-Templates einigen müssen, bei denen auch die unterschiedlichen Anforderungen neuer und etablierter Länder berücksichtigt werden.

Dazu dient der schon angesprochene Masterplan des Governance-Boards, der alle Geschäftsprozesse über Funktionsblöcke abbildet. Diese werden erst später durch technische Komponenten umgesetzt. Das hat den Vorteil, dass sich Produkte und Systeme jederzeit austauschen lassen, weil ihre Aufgaben und Schnittstellen klar definiert sind. Der Masterplan dient wiederum als Grundlage für einen Transformationsplan, mit dem die Templates betriebswirtschaftlich und technisch umgesetzt werden.

Joachim Brands ist bei HP Enterprise Services Deutschland für Kunden aus dem Handel und Konsumgütersegment verantwortlich.