Die Möglichkeit, in unserer Wirtschaft die Produktivität zu erhöhen und Arbeitsabläufe zu optimieren, beruht entscheidend auf dem zunehmenden Einsatz von Computern. Branchen, die ihr Kerngeschäft früher mit umfangreichen Akten, Formularen, Dokumenten und Papieren betrieben haben, konnten unter der Überschrift "Digitalisierung" die Qualität ihrer Abläufe deutlich erhöhen und Kosten einsparen. Im Versicherungs- und Bankwesen ist dieser Prozess bereits weit fortgeschritten.
In den Häfen dagegen existieren noch erhebliche Qualitäts- und Einsparungspotenziale. Vor allem kann die Infrastruktur intelligenter und damit effizienter genutzt werden, insbesondere die mit hohen Investitionen beschafften oder erbauten Geräte und Anlagen sowie der knappe Flächen und Verkehrswege.
Die Hamburg Port Authority (HPA) hat die Herausforderungen, aber auch das damit verbundene Potenzial der IT für den Hamburger Hafen früh erkannt und auch genutzt. "Je mehr sich Computer von reinen 'Rechnern' zu vernetzten, grafischen, interaktiven und sogar mobilen Werkzeugen entwickeln, desto umfangreicher können sie jenseits der vergleichsweise simplen Digitalisierung von Papierarbeit eingesetzt werden.
Heute geht es um den 'smartPORT', die intelligente Digitalisierung und Virtualisierung des Hafens, damit wir die bestehende Infrastruktur besser und intensiver nutzen können - denn auf der begrenzten Hafenfläche können und wollen wir Straßen, Schienen und Wasserwege nicht unbegrenzt ausbauen", erläutert Sebastian Saxe, Chief Digital Officer (CDO) der HPA.
Bereits seit Jahren ist die HPA dabei, wichtige Systemdaten zur aktuellen Verkehrslage zusammenzuführen. Stück für Stück soll so durch die Integration von Verkehrswegen, Verkehrsteilnehmern, Logistikzentren und Umschlagspunkten ein Netz aus Servern, Glasfaserkabeln und Detektoren entstehen - vergleichbar mit dem Nervensystem des menschlichen Körpers.
Das Beispiel der Nautischen Zentrale zeigt besonders deutlich, wie die Vision vom smartPORT Realität wird. Die Nautische Zentrale ist einer der modernsten Verkehrsleitstände der Welt. Speziell entwickelte Programme und Technologien ermöglichen die Überwachung und Steuerung des Verkehrs im Hafen, zum Beispiel der Port Monitor, den die HPA gemeinsam mit der Workplace Solutions GmbH (WPS) entwickelt hat.
Der Port Monitor wird seit 2012 in der Nautischen Zentrale eingesetzt und liefert in Echtzeit und auf Basis georeferenzierter Daten Informationen über Ereignisse und Zustände der Wasserstraßen im Hamburger Hafen - wichtig für einen störungsfreien Verkehrsfluss der Schifffahrt. Mitarbeiter auf den Schiffen der HPA informieren mit Tablet-Computern den Leitstand direkt über aktuelle Veränderungen im Hafen. Seit 2014 umfasst das System auch Informationen zur beweglichen Infrastruktur sowie zur Verkehrslage auf der Straße und seit kurzem wurde auch die Schiene integriert.
Die HPA will die Digitalisierung nun weiter vorantreiben: Statt herkömmlicher Peilkarten aus Papier wird in der Nautischen Zentrale derzeit ein interaktiver Touch-Peiltisch getestet. Dieser ermöglicht den Nautikern, die Wassertiefen im gesamten Hafen auszuwerten, ausgewählte Hafenbereiche detailliert zu betrachten und die Wassertiefen zu kennzeichnen. "Aktuell steht aber auch ein für Hamburg besonders wichtiges Thema auf der Tagesordnung: der Katastrophenschutz. Im Kern geht es um den Schutz der Stadt vor den Auswirkungen regelmäßig auftretender Sturmfluten", so Saxe, der auch Leiter der Katastrophenabwehr im Hamburger Hafen ist.
Herausforderung Katastrophenschutz
Der Katastrophenschutz stellt besondere Herausforderungen an eine sinnvolle IT-Unterstützung. In den Herbst- und Wintermonaten kommt es regelmäßig zu Sturmfluten. Dann tritt der Hafenstab (HASTA) zusammen und trifft alle erforderlichen technischen und organisatorischen Maßnahmen. Für die HASTA-Mitglieder ist das keine tägliche Routinearbeit, sondern ein Ausnahmezustand. Es gilt, sich immer wieder auf neue Situationen und Abläufe einzustellen.
Daher darf die IT-Unterstützung nicht kompliziert und schwer verständlich sein. Sie muss intuitiv zu verstehen und zu bedienen sein. Hard- und Software müssen in kürzester Zeit einsetzbar sein und auch unter schwierigen Bedingungen funktionieren.
Der HASTA arbeitet beim Katastrophenschutz mit zahlreichen Organisationen und Behörden zusammen, wie dem Sturmflut-Warndienst, der Polizei und der Feuerwehr. Sie alle müssen im Gefahrenfall informiert werden und den Stand der Dinge rückmelden können.
Ein Hochwasser-Szenario
Ein Einsatzszenario für den Hafenstab könnte so aussehen:
Der dienstbereite Einsatzleiter hat gerade erfahren, dass der voraussichtliche Wasserstand zwischen 6,00m und 6,50m über Normal Null (NN) liegt. Das bedeutet: Eine sehr schwere Sturmflut steht bevor. Daraufhin ruft er den Hafenstab in großer Besetzung ins Einsatzzentrum zusammen.
Bei der ersten Lagebesprechung liegt der aktuelle Pegelstand 2,50m über Normal Null; das Hochwasser wird in 6,5 Stunden erwartet. Hafenbevölkerung und die Großveranstalter werden über die bevorstehende Sturmflut informiert. Über die nächsten zwei Stunden steigt das Wasser erwartungsgemäß. Da wird ein klemmendes Sperrwerk von Polder 31 gemeldet.
Der Verantwortliche für die Polder überlegt mit den Stabsleitern "Einsatz" und "Bevölkerung und Hafen" anhand einer handgezeichneten Flutkurve, wann der Polder mit dem klemmenden Sperrwerk überflutet sein wird. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass dies in zwei Stunden eintreten wird.
Der Polderverantwortliche schickt einen Reparaturtrupp auf den Weg. Ein Techniker vor Ort meldet nach einer Stunde, dass das Sperrwerk manuell geschlossen werden konnte. Die Lage scheint unter Kontrolle.
Doch dann erfährt der Fachberater Oberhafenamt von seinem Einsatzstab aus der Nautischen Zentrale, dass sich ein Schiff losgerissen hat und auf eine Brücke zutreibt. Ein Nautiker hat bereits Schlepper losgeschickt, aber es besteht die Gefahr, dass sie zu spät kommen und das treibende Schiff die Brücke rammt.
Eine sofort einberufene Lagebesprechung macht sich anhand von Karten ein Bild der Situation und entscheidet, dass zur Sicherheit die Brückenzufahrt gesperrt sowie Fahrzeuge und Personen die Brücke räumen sollen.
Projekt PORTprotect - vom Einsatzszenario zur Vision
Um den Katastrophenschutz durch Digitalisierung sinnvoll zu unterstützen, hat die HPA seit Anfang 2015 zusammen mit der Firma WPS das Pilotprojekt "PORTprotect" initiiert. Im Mittelpunkt steht zunächst die Arbeit im HASTA. Konkrete Einsatzszenarien, wie das zuvor skizzierte, sind dafür ein guter fachlicher Ausgangspunkt.
Bei der Analyse der Arbeit im HASTA fällt zunächst auf, dass verschiedene Personen im Einsatzzentrum je nach ihrer Rolle spezifische Aufgaben wahrnehmen. Dabei ist es immer wieder erforderlich, dass sie sich abstimmen und Entscheidungen treffen, die an sogenannte "nachgeordnete Stellen" weitergeben werden. Wichtig für alle Personen im Einsatzzentrum ist, jederzeit über ein aktuelles Lagebild zu verfügen.
Ein dazu passender Entwurf für die IT-Unterstützung ist in Abbildung 1 dargestellt:
Das aktuelle Lagebild wird, für alle sichtbar, auf der Großbildanzeige dargestellt.
Einsatzbesprechungen finden rund um einen interaktiven, berührungsempfindlichen Planungstisch (Touch-Tisch) statt.
Stabsleiter, Verantwortliche und Fachberater analysieren an Arbeitsplatzsystemen die Lage in ihrem Zuständigkeitsbereich und geben Entscheidungen an die nachgeordneten Stellen weiter.
Mobile Systeme dienen als Arbeitsmappe für ausgewählte Dokumente, Notizen und Fotos.
Die Idee hinter diesem Entwurf ist, unterschiedliche Aufgaben und Rollen in den Arbeitsabläufen durch zugeschnittene Frontend-Systeme zu unterstützen, die aber im Hintergrund auf eine gemeinsame Plattform aufsetzen. Diese wiederum integriert vorhandene Informations- und Entscheidungssysteme.
Zwei Beispiele
Dies soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden:
Auf der Großbildanzeige ist das für alle Beteiligten relevante Lagebild zu sehen (Abbildung 2):
Im Mittelpunkt des an der zentralen Wand sichtbaren Lagebilds von PORTprotect steht eine Karte des Hafengebiets, auf der aktuelle Gefahrenpunkte markiert sind. Diese sind in der priorisierten Liste auf der rechten Seite erläutert. Im unteren Bereich der Lagebilds sind die berechnete Pegelkurve, der Status der laufenden Maßnahmen und ein Video von einem wichtigen Gefahrenpunkt zu sehen.
Lagebesprechungen am Planungstisch sind für den Katastrophenschutz von zentraler Bedeutung. Hier treffen sich die jeweiligen Entscheider meist sehr kurz, tragen vorbereitete Informationen zusammen und beschließen die nächsten Maßnahmen (Abbildung 3).
Charakteristisch für die Unterstützung der Lagebesprechungen an einem Multitouch-Tisch ist, dass alle Beteiligten sich um den Tisch versammeln und einander während des Gesprächs im Blick haben. Es handelt sich um eine gleichberechtigte Gesprächssituation, bei der alle Teilnehmer das Gerät auch entsprechend benutzen können. Sie schauen auf jeweils passende Kartendarstellungen, wählen den für sie geeigneten Ausschnitt und sehen unmittelbar relevante Informationen wie Gefahrenpunkte, Schiffsbewegungen oder die Zustände von Fluttoren.
Die Teilnehmer können z.B. Szenarien für ausgewählte Hafenbereiche durchspielen, um die verfügbare Zeit für Evakuierungsmaßnahmen zu bestimmen. Dabei wird auf Überflutungskarten zurückgegriffen, die für die verschiedenen Pegelstände in feinen Abstufungen vorberechnet worden sind.
Wichtig für das Projekt PORTprotect ist, dass die gesamte Interaktion mit dem Tisch auf intuitive Gesten wie Schieben, Drehen, Wischen und Antippen reduziert ist. Die hohe Konzentration auf die Entscheidungssituation wird so nicht durch eine komplizierte Bedienung und Kommandoeingabe gestört.
Von der Vision zum Einsatz
Bisher standen der HASTA und seine Arbeit im Katastrophenfall im Mittelpunkt des Projekts PORTprotect. In einem intensiven agilen Prozess und in mehreren Iterationen ist aus dem oben skizzierten Entwurf ein Prototyp für die IT-Unterstützung der Arbeit im HASTA entstanden. Der Prototyp wurde aktuell zu einem Pilotsystem ausgebaut, das mit Beginn der Sturmflutsaison im September der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Das Pilotsystem wird im Parallelbetrieb zur bewährten Arbeit des HASTA erprobt und agil weiterentwickelt.
Weitere Ausbaustufen für die Digitalisierung des Katastrophenschutzes
Aus der Zusammenarbeit mit den verschiedenen beteiligten Gruppen zeichnen sich bereits weitere Ausbaustufen für die Digitalisierung des Katastrophenschutzes im Hafen ab:
Die nachgeordneten Stellen und Organisationen werden mit ihren Aufgaben und Informationsbedürfnissen einbezogen.
Die Verantwortlichen auf den Poldern werden über ein Polder-Portal und eine mobile App intensiver eingebunden.
Außerdem sollen weitere Szenarien wie z.B. Bombenfunde im Hafengebiet oder Gefahrgutunfälle betrachtet werden.
Dieses schrittweise auszubauende Gesamtkonzept der HPA hat eine solide technische Grundlage: die Port Monitor-Plattform, die bereits die softwaretechnische Basis der neuen nautischen Zentrale der HPA ist, wird um passende Bausteine in einem vorgegebenen Rahmen von Schnittstellen und Serviceangeboten erweitert.
Hamburg Port Authority AöR | PORTprotect
Branche | Logistik |
Zeitrahmen | 7/2014 bis 9/2015 |
Mitarbeiter | 5 (Entwicklungsteam) |
Aufwand | 420 Personentage (Entwicklungsaufwand) |
Produkte | PORTprotect Software, Touch-Tisch |
Dienstleister | Workplace Solutions GmbH |
Einsatzort | Hamburg; für zunächst 30 Anwender |
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