Allianz-CIO-Wette im Check

Die Grenzen von Realtime Analytics

10.10.2013 von Alexander Freimark
Unternehmen im Temporausch: Durch Realtime Analytics werden mehr geschäftliche Entscheidungen mit höherer Qualität in kürzerer Zeit möglich. Disruptive Geschäfts­modelle sind die Folge. Wer den Start verpasst, verliert das Rennen um die Kunden, sagt der Allianz-CIO.
Die wachstumsstärksten Anbieter im Business-Intelligence-Markt.
Foto: cio.de

Früher war es schon ein Geniestreich des Einzelhändlers, Grillkohle neben Bier und Ketchup ins Regal zu stellen, um von Mitnahmeeffekten zu profitieren. Heute hingegen müssen Händler innerhalb von Millisekunden Werbeplätze in Online-Börsen ersteigern, um das richtige Produkt auf dem Smartphone des Kunden zu präsentieren, das zu seiner Bestellhistorie, den Rabattvorlieben, dem aktuellen Aufenthaltsort, dem Lagerort des Produkts, der eigenen Finanzplanung und zum Wetter passt.

Je besser die automatische Analyse und kundenindividuelle Prognose, desto höher der Absatz. Und alles bitte in einer definierten und kurzen Zeitspanne, der "Echtzeit", denn der Kunde greift sonst womöglich woanders zu.

Das Kunststück

Für Ralf Schneider, CIO der Allianz-Gruppe, hat die Entwicklung gravierende Auswirkungen auf Unternehmen. "Realtime Analytics eröffnen uns in vielen Bereichen neue Möglichkeiten", schrieb er dem CIO-Magazin ins Jahrbuch 2013. Das Kunststück sei, strukturierte wie unstrukturierte lose Daten zu Informationsprofilen zu verknüpfen, sie mit Bedeutung aufzuladen, in Sekundenschnelle zu analysieren, zu interpretieren und damit nutzbar zu machen. Dass einigen Unternehmen dieses Kunststück gelingen wird, daran ließ Schneider keinen Zweifel: "Ich wette, dass Realtime Analytics in zehn Jahren die Spielregeln des gesamten Geschäfts verändert haben werden."

Alexander Linden, Research Director bei Gartner und Experte für Business Analytics, gießt Wasser in den Wein, wenn er von einer "unterspezifizierten" Wette spricht: "Auch vor zehn Jahren hätten wir mit der gleichen Evidenz behaupten können, dass sich die Welt verändert - alles wird schneller, besser und komplexer." Zwar seien Daten "derzeit ein heißes Thema", und die IT sei gut beraten, den Hype zu nutzen, um die Datenversorgung zu verbessern, ein "Analytics Center of Excellence" aufzubauen, nutzbringende Projekte anzugehen oder die eigenen Datenanalysten besser zu organisieren.

"Aber dass alle wesentlichen unternehmerischen Spielregeln in zehn Jahren über den Haufen geworfen werden", sagt Linden, "sehe ich eher nicht." Zum Beispiel: Quartalsberichte im Minutentakt werde es nicht geben, das überfordere die Menschen. "Die Reaktion muss schnell genug sein, wenn man für den Einzelfall definiert hat, was schnell genug ist."

Auch Carsten Bange geht nicht davon aus, dass künftig alle Geschäftsprozesse in Echtzeit ablaufen werden. Der Chef des Würzburger Forschungs- und Beratungsinstituts Barc verweist auf die alte Daumenregel, wonach die Bereitstellungsgeschwindigkeit von Daten zur Analysegeschwindigkeit passen sollte.

"Ist der Mensch der Entscheidungsträger, dann ist der Bedarf an sekundenaktuellen Informationen durchaus überschaubar." Somit würden sich Unternehmen weiterhin Gedanken machen müssen, wie schnell welche Daten überhaupt verfügbar sein sollten.

Realtime-Wette: Schneider drückt aufs Tempo

Ralf Schneider, CIO der Allianz
Foto: Allianz

"Ich wette, dass Realtime Analytics in zehn Jahren die Spielregeln des gesamten Geschäfts verändert haben werden", schrieb Allianz-CIO Ralf Schneider ins CIO-Jahrbuch 2013.

Leider gibt es kein besseres Gleichnis als das des Schiffbrüchigen, der auf dem offenen Ozean verdurstet: Daten sind heute im Überfluss vorhanden, aber allein sind sie nutzlos. Das Kunststück sei, so Allianz-CIO Schneider, "strukturierte wie unstrukturierte lose Daten zu Information zu verknüpfen, sie also mit Bedeutung aufzuladen, in Sekundenschnelle zu analysieren, zu interpretieren und damit nutzbar zu machen". Das alles könne Realtime Analytics leisten – mit gravierenden Auswirkungen auf die Unternehmen.

Und gravierenden Anstrengungen im Vorfeld, so viel ist klar. Ein Tool allein ist keine Lösung für Unternehmen, die ihre Datenlandschaften nicht gepflegt haben. Das weiß auch CIO Schneider: "Die Umsetzung bringt aber auch große technische, rechtliche und inhaltliche Herausforderungen mit sich." Globale, skalierbare Analytics-Lösungen müssten aufgebaut werden, die die Datenflut föderal aufgebauter Unternehmen integrieren können, und unterschiedliche Systeme, die Daten enthalten oder generieren, müssten an mächtige In-Memory-Datenbanken und Analyse-Tools angebunden werden. "Bei komplexen, heterogenen Unternehmen kann das einige Jahre in Anspruch nehmen."

Abwarten ist riskant, denn der Wettbewerb steht in den Startlöchern, und er hat oftmals keine Legacy-Last auf dem Rücken. Internet-Firmen treiben das Tempo in die Höhe, und Kunden nehmen weniger Rücksicht auf traditionelle Marken und Beziehungen. Die schwierigste geschäftliche Herausforderung werde aber auch weiterhin darin liegen, "zum richtigen Zeitpunkt die richtige Frage zu stellen", so Schneider.

So wettet die Redaktion: ERP ist schon lange kein Differenzierungsmerkmal mehr: Intelligenz, Analyse und Prognose sowie ein pfleglicher Umgang mit Daten sind die besten Waffen im Wettbewerb um den Kunden. Für sich betrachtet, ist das ein Aufstieg für die IT auf ein höherwertiges Niveau. Der Mensch hingegen sollte darauf achten, dass ihn die Entwicklung nicht überholt und er zum Flaschenhals wird, der Entscheidungen verzögert, weil ihn die Echtzeit überfordert.

Der BI-Markt wächst zweistellig

Alexander Linden Research Director, Gartner: "Dass alle wesentlichen unternehmerischen Spielregeln in zehn Jahren über den Haufen geworfen werden, sehe ich eher nicht."
Foto: Gartner

Spannend, so Bange, wird es, wenn nicht mehr der Mensch, sondern eine Maschine die Entscheidungen trifft. "Wird etwa die Konfiguration der Produkte und Informationen anhand einer unmittelbaren Datenanalyse entscheiden, sind wir beim Wandel, den Allianz-CIO Schneider beschreibt."

Gerade im B2C-Segment käme man aufgrund der schieren Menge an Daten nicht um derartige Systeme herum. Das schlägt sich auch in den Umsätzen nieder: Laut Barc legten die Lizenz- und Wartungseinnahmen im deutschen Markt für Business Intelligence vergangenes Jahr um 13 Prozent gegenüber 2011 zu. Unter den mittlerweile 250 Anbietern konnten einige Unternehmen sogar dreistellige Zuwachsraten vermelden.

Dazu zählt auch die Firma Blue Yonder: Das Unternehmen aus Karlsruhe hat eine Software entwickelt, mit der sich große Datenbestände analysieren und Prognosen erstellen lassen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Methoden soll das schneller und in einer höheren Qualität gelingen.

"Wir ermöglichen unseren Unternehmenskunden, massenhaft Entscheidungen zu treffen", berichtet Jan Karstens, Chief Technical Officer (CTO) des Unternehmens. Es gehe nicht mehr darum, Daten zu generieren, die ausgewertet werden und in die Geschäftsentscheidungen zurückfließen, sondern um vollautomatisierte Entscheidungen - mehr Stream-Verarbeitung, weniger Batch. Das Ziel: "Durch Echtzeit-Anwendungen ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, neue Dienste und Angebote für Verbraucher zu schnüren."

Wettbewerber, die hier nicht mithalten können, verschwinden vom Markt. Gartner-Analyst Linden warnt in diesem Zusammenhang vor einem schleichenden Prozess und einer Gefahr für Unternehmen, die nicht pfleglich mit ihren Daten umgehen: "Die Branchenbesten haben ihre Dateninfrastruktur und Datenauswertung gut im Griff und können Jahr für Jahr Bestandskunden ihrer Konkurrenten abwerben sowie ihre eigenen besser halten." Es gehe darum, "einen Tick besser zu sein in der Kundenbindung und Profitabilität - das war schon immer die Macht des Data Minings".

Wer zu spät die Arbeit aufnimmt, verliert die Führenden aus den Augen. "Die Data Supply Chain eines Unternehmens ist eine hochkomplexe Angelegenheit, die über Jahrzehnte gewachsen ist und die man nicht innerhalb von zwei Jahren umbauen kann", sagt Linden.

Echtzeitfähige Start-ups bedrohen die alten Platzhirsche

Mit Folgen, so der Gartner-Analyst: "Daher sind auch viele Big-Data-Initiativen von Online-Unternehmen erfolgreich - sie haben keine ungepflegten Legacy-Strukturen, sondern können von der grünen Wiese aufbauen." Das sieht auch CTO Karstens von Blue Yonder so, der echtzeitfähige Start-ups als "Bedrohung" der alten Platzhirsche bezeichnet.

Dies gelte nicht nur für den schwunghaften E-Commerce, sondern auch in der Branche des "Wettpaten" Schneider: "Wenn man in den Markt einsteigen kann, ohne etwa die IT-Landschaft einer klassischen Versicherung pflegen zu müssen, ist das ein gewaltiger Vorteil." Aufgrund der Vorgaben des Kunden und mit Bezug auf den Kontext kann dann die moderne Online-Anwendung umgehend ein individuelles Versicherungspaket schnüren, das sich auch in andere Geschäftsprozesse etwa von Online-Händlern integrieren lässt.

Stefan Edlich, Professor an der Berliner Beuth-Hochschule für Technik, erwartet einen "immensen Strukturwandel" durch Realtime Analytics: "Ob ein Produkt aufgrund sehr guter Blog-Kritiken plötzlich wie wild gekauft oder dem Kunden etwas perfekt Passendes empfohlen wird - in beiden Fällen ist diese Information Gold wert." An der Oberfläche sei jedoch von der Umwälzung nicht viel erkennbar, so Edlich: "Die meisten Prognosen der Wette werden klammheimlich in den Alltag der Menschen integriert, was man daran erkennen kann, dass sich Erdbeben inzwischen schneller in Twitter als im Boden ausdehnen." In den Rechenzentren und Organisationen würden die strukturellen Veränderungen jedoch weitreichende Auswirkungen haben, und man könne nicht einfach sagen: "Enterprise-IT in 2023 ist wie in 2013, nur schneller."

Nicht alles auf einmal umbauen

Carsten Banger Geschäftsführer, Barc: "Ist der Mensch der Entscheidungsträger, dann ist der Bedarf an sekundenaktuellen Informationen durchaus überschaubar."
Foto: Barc

Der Erfolg analytischer Prognosen lebe von der Bereitschaft der Unternehmen, ihre Prozesse umzustellen und organisatorische Veränderungen vorzunehmen, bestätigt Blue-Yonder-Manager Karstens: "Man kann Realtime nicht einfach mit einem Stück 'magischer Software' einführen." Dennoch müsse die IT den Prozess begleiten und bisweilen die Vorreiterrolle übernehmen, um den Fachabteilungen zu zeigen, was heute alles möglich sei.

Wenn Dienstleistungen über das Web mit geringen Latenzen angeboten werden sollen, brauche das Unternehmen eine Infrastruktur, die diese Aufgabe auch leisten kann, argumentiert Karstens: "Dafür muss ich aber nicht alles auf einmal umbauen, sondern immer nur die Stellen, an denen ich Mehrwert bieten will." Realtime bedeute daher keinesfalls, seine IT komplett auf modernste In-Memory-Systeme zu überführen.

Auch der Versuch, Legacy-Systeme allein mit Big-Data-Technologien zu bereinigen, werden scheitern, sagt Gartner-Analyst Linden. "Es ist das A und O, auch die Grundlagen wie Metadaten-Management, Datenqualität und Daten-Governance anzugehen." Das Problem sei, dass einen diese Aktivitäten nicht direkt weiterbringen würden, wenn man als CIO Erfolge aufzeigen will: "Das ist wie Aufräumen, um nicht so viel suchen zu müssen." Und gute Analysen könne man nur nachhaltig und skalierbar erzielen, wenn zuvor die Daten geordnet wurden.

Der Berliner Professor Edlich sieht neben der Auswahl der Tools für den jeweiligen Einsatzzweck und den Budgetfragen eine weitere große Herausforderung: "Unternehmen brauchen die richtigen Fachkräfte für Analytics und müssen sich überlegen, ob und wie sie die ausbilden."

Performance das größte Problem

Jan Karstens CTO, Blue Yonder: "Man kann Realtime nicht einfach mit einem Stück 'magischer Software' einführen."
Foto: Blue Yonder

Für Barc-Chef Bange zeigt sich der Aufschwung des Themas daran, dass die Unternehmen zunehmend bereit sind, in den Bereich zu investieren - was auch daran liegt, dass die Verfahren im Laufe der Jahre gereift sind. "Am Ende läuft es immer darauf hinaus, den Wert der 'Daten' im Unternehmen besser zu nutzen", sagt Bange. Jeder rede derzeit über "Use Cases" und die interessantesten Ansatzpunkte.

Ein Grund liegt in den Grenzen der alten Lösungen: "In unseren Befragungen sehen wir immer, dass die Performance der Systeme das größte Problem für Anwender ist." Zur mangelnden Akzeptanz komme hinzu, dass viele Fragen derzeit nicht gestellt werden könnten, weil die Daten nicht vorliegen oder die Bestandssysteme zu starr seien. Und dass die richtigen Fragen zur richtigen Zeit immer noch das wichtigste Erfolgskriterium sind, betonte auch Allianz-CIO-Schneider in seiner Wette.

Auch wenn diese wenig spezifisch erscheint, sind sich die Experten weitgehend einig, dass Echtzeit kein Strohfeuer ist - sondern tatsächlich viele wichtige Geschäftsprozesse verändert, mit denen sich Unternehmen im Wettbewerb um den Kunden differenzieren können. Demzufolge, so der Tenor, sei davon auszugehen, dass der Allianz-CIO recht behalten wird. CTO Karstens von Blue Yonder geht sogar noch weiter: "Schneider hat die Wette schon gewonnen, weil die Zeichen in anderen Branchen bereits deutlich erkennbar sind."

Auch da sei der Wandel nicht über Nacht gekommen, sondern Schritt für Schritt und immer verbunden mit Disruptionen und neuen Geschäftsmodellen. "Und hat sich der Markt erst einmal in Richtung Echtzeit bewegt, gibt es kein Zurück mehr."