Intrigen und Pannen

Die schmutzige Vergangenheit von Twitter

19.11.2013 von Christof Kerkmann
Twitter ist der neue Börsen-Star. Dabei stand der junge Internet-Dienst mehrfach vor dem Scheitern: Ein Buch enthüllt, wie sich die Gründer gegenseitig bekämpften und damit die Firma an den Rande des Abgrunds trieben.

An seinem letzten Tag als Twitter-Chef kniet Evan Williams auf dem Boden und übergibt sich in den Mülleimer. Der Verwaltungsrat verdrängt den Mitgründer der Firma von seinem Posten, auch wenn der Putsch in der Öffentlichkeit nach einem freiwilligen Rücktritt aussehen soll. Williams ist schlecht - vor Nervosität oder weil er etwas ausbrütet?

Mit dieser Szene aus dem Oktober 2010 beginnt der amerikanische Autor Nick Bilton sein Buch über den Internet-Dienst Twitter, das passend zum Börsengang herausgekommen ist. Der Kolumnist der "New York Times" beschreibt in teils pikanten Details, wie vier Freunde erst gemeinsam das Unternehmen gründeten, sich aber bald über Strategie und Macht zerstritten. Mit Details zum Geschäftsmodell hält er sich nicht lange auf, die 335 Seiten sind eher Drama als Wirtschaftsbuch, wie der Titel bezeugt: "Twitter. Eine wahre Geschichte von Geld, Macht, Freundschaft und Verrat".

Biltons Schilderungen zeigen: Dass Twitter mit Erfolg an die Börse gehen konnte, ist ein kleines Wunder. Denn Streitereien und Intrigen lähmten das Start-up, die Technik stand lange am Rande des Totalzusammenbruchs. Gleichzeitig lockten immer wieder saftige Übernahme-Angebote, die die Gründer mit ein paar Unterschriften zu Multimillionären gemacht hätten.

Zahlen und Fakten zu Twitter
Twitter-Aktionäre sind gleichberechtigt
Twitter versucht nicht, den Einfluss der Gründer durch eine Aktienstruktur mit zwei Klassen zu sichern. Andere Internet-Unternehmen wie Google oder Facebook haben bei ihren Börsengängen den Investoren Papiere angeboten, die weniger Stimmrechte haben als die Aktien von Gründern und Spitzen-Managern. Bei Twitter sind alle Anteilseigner gleich, die Ausgabe von Vorzugsaktien ist nur als Möglichkeit für die Zukunft vorgesehen.
Mehr als 230 Millionen Nutzer
Twitter ist für die mobile Ära gerüstet. Mehr als 70 Prozent der Werbeerlöse werden auf Smartphones und Tablet-Computern erwirtschaftet. Insgesamt hat Twitter mehr als 230 Millionen Nutzer pro Monat, rund 100 Millionen Menschen greifen auf den Dienst täglich zu. Am Tag rauschen 500 Millionen Tweets durch die Netzwerke.
Zaghaft im Werbegeschäft
Twitter hatte bis vor drei Jahren noch kein Werbegeschäft. Die Gründer verzichteten in der Anfangszeit bewusst auf Anzeigen, um die Nutzer nicht zu verschrecken. Im Frühjahr 2010 starteten erste Versuche mit Werbung zwischen den Tweets. Twitter nahm in dem Jahr nur gut sieben Millionen Dollar mit Anzeigen ein. Im dritten Quartal 2013 legte der Umsatz dagegen auf 168,6 Millionen Dollar zu, der Großteil aus dem Werbegeschäft.
Durchweg in den Miesen
Twitter hat noch nie Gewinn gemacht. Im dritten Quartal stieg der Verlust auf 64,6 Millionen Dollar. Nach wie vor ist "Forschung und Entwicklung" der mit Abstand größte Ausgabenposten, im dritten Quartal verbuchte Twitter dafür über 29 Millionen Dollar.
Intrigen und Machtkämpfe
Die kurze Geschichte der Firma ist geprägt von Machtkämpfen zwischen den einstigen Freunden. Der erste Chef Jack Dorsey musste auf Veranlassung des Mitgründers Evan Williams sowie des Verwaltungsrates seinen Posten verlassen. Williams selbst hielt sich auch nicht dauerhaft an der Spitze - bei seiner Entmachtung im Oktober 2010 hatte Dorsey seine Finger im Spiel. Seitdem lenkt Dick Costolo, zuvor bei Google tätig, die Firma.
Idee von Freunden
Anfangs standen vier Freunde hinter Twitter: Evan Williams, der dank des Verkaufs seiner Plattform Blogger.com an Google auch Geldgeber war; außerdem Jack Dorsey, Biz Stone sowie Noah Glass. Letzterer wurde allerdings wegen seiner schwierigen Art schon bald aus der Firma gedrängt.
Kapitalgeber als größte Anteilseigner
Der Kapitalgeber Rizvi Traverse kontrolliert vor dem Börsengang mit 17,9 Prozent die mit Abstand größte Beteiligung. Es folgen Mitgründer Evan Williams mit 12 Prozent und die Bank JP Morgan mit 10,3 Prozent. Danach kommen die Risikoinvestoren Spark Capital (6,8 Prozent), Benchmark (6,6 Prozent) und Union Square Ventures (5,9 Prozent).
Aktien als Managerlohn
Twitter-Chef Dick Costolo wird jetzt vor allem mit Aktien bezahlt. Seit August bekommt er nur noch ein Jahresgehalt von 14.000 Dollar statt bisher 200.000 Dollar. Dafür wurden ihm allein 2012 Aktien und Optionen im geschätzten Wert von über elf Millionen Dollar zugeteilt. Mit dem Börsengang könnten die Anteile noch deutlich wertvoller werden.
Nebenprodukt mit Erfolg
Twitter war zunächst nicht mehr als ein Nebenprodukt der Firma Odeo, die eine (allerdings wenig erfolgreiche)Podcasting-Plattform entwickelte. Die Macher suchten 2006 nach Alternativen - und entwickelten den Dienst mit seinen 140 Zeichen kurzen Texthäppchen. In den ersten Monaten gewann er zwar kaum Nutzer, doch nach einem erfolgreichen Auftritt auf der Technologiekonferenz SXSW hob Twitter ab.

Twitter ist das gemeinsame Werk von vier Freunden, die sich im Silicon Valley kennengelernt haben. Auf unterschiedlichen, mehr oder weniger krummen Wegen landen sie bei der Podcast-Plattform Odeo. Als deren Scheitern abzusehen ist, suchen die Computerexperten nach einer neuen Idee - und frickeln ab 2006 gemeinsam am Kurzmeldungsdienst Twitter. Der erste Beitrag ist heute Teil der offiziellen Firmengeschichte: "Just setting up my twttr", schrieb Jack Dorsey, Mitgründer und erster Chef - übersetzt: Mein Twitter einrichten.

Der Zwitscherdienst ist zunächst nur ein Nebenprodukt, dessen Sinn niemand so richtig beschreiben kann. Doch nach einem schleppenden Start stellen die Gründer fest, dass die Nutzer ihn lieben. Bekannte Musiker fangen an zu twittern, ebenso der Präsidentschaftskandidat Barack Obama und die legendäre TV-Moderatorin Oprah Winfrey. Immer mehr Menschen melden sich an, trotz der regelmäßigen Ausfälle, bei denen das Bild vom berühmt-berüchtigten "Fail Wale" zu sehen ist.

Doch hinter den Kulissen kracht es mächtig. Evan Williams, der nach dem Verkauf einer Firma an Google Millionen auf der Bank hat, entlässt schon früh den Mitstreiter Noah Glass, der die anderen mit seiner aufgekratzten Art nervte. Mitgründer Jack Dorsey drängte ihn dazu.

Über die Monate entzweien sich aber auch Williams und Dorsey, also der bislang wichtigste Kapitalgeber und der Chef. Zum einen diskutieren sie über die Führung der Firma: Wie lassen sich die Systeme für den Nutzeransturm rüsten und die vielen Abstürze verhindern, wie die hohen Kosten in den Griff bekommen? Evan, oft kurz Ev genannt, wirft Jack außerdem vor, nicht genug zu arbeiten und sich zu viel seinen Hobbys zu widmen: "Du kannst entweder Schneider sein oder Twitter-Chef."

Doppelte Rache

Zum anderen streiten Williams und Dorsey darüber, was der Dienst überhaupt sein soll. "Jack hatte Twitter immer als Ort für aktuelle persönliche Mitteilungen gesehen", schreibt Buchautor Bilton. "Für Ev war es ein Weg, mitzuteilen, was um einen herum geschah: ein Ort für Neugier und Informationen."

Irgendwann liegen die beiden über Kreuz - Ev Williams schiebt seinen einstigen Freund Jack Dorsey mithilfe zweier Investoren auf den bedeutungslosen Posten als stiller und somit machtloser Verwaltungsratschef ab und übernimmt selbst das Ruder.

Dorsey will vor lauter Wut beim großen Rivalen Facebook anheuern, was aber scheitert. Trotzdem übt er Rache - gleich doppelt: In den folgenden Monaten inszeniert er sich gegenüber Blogs und Medien als Erfinder des Zwitscherdienstes, was die anderen zähneknirschend hinnehmen. In der Zwischenzeit spinnt er außerdem eine Intrige, um Evan Williams wieder aus dem Amt zu putschen und zum Produktchef zu degradieren. Mit Erfolg. Geschäftsführer Dick Costolo übernimmt und ist bis heute im Amt.

Während der Machtkämpfe ist Twitter gelähmt, niemand gibt die Richtung vor. Die Folge: Die Server gehen immer wieder in die Knie, ohne dass die Administratoren wüssten, warum. Die Mitarbeiter revoltieren gegen das Chaos.

Davon dringt jedoch wenig nach außen, die Technologiewelt bekommt meist nur die Erfolgsmeldungen mit. "Jeden Monat wuchs die Zahl der Nutzer stärker als im Vormonat, und die Projektionen für die kommenden Monate waren noch höher. Die beigefügten Tabellen sahen aus wie Himmelsleitern", schreibt Experte Nick Bilton.

Die zweite Reihe hinter Facebook
Twitter
Der Kurzmeldungsdienst Twitter hat in Deutschland deutlich an Popularität gewonnen. Im März 2013 hatte er laut Comscore 3,7 Millionen Nutzer. Mittlerweile dürften es noch einige mehr sein.
Google+
Das Soziale Netzwerk von Google zählt zu den Spätstartern, es ist erst seit dem Sommer 2011 online. Da der Internet-Riese es mit seinen anderen Diensten verknüpft, ist die Reichweite binnen kurzer Zeit aber schon deutlich gestiegen. Die AGOF erhebt keine Zahlen, laut Comscore waren es im Frühjahr 2013 aber beachtliche 6,7 Millionen Nutzer. Allerdings ist unklar, wie viele diesen Dienst ernsthaft nutzen.
Xing
Das Karriere-Netzwerk Xing gehört zu den Frühstartern im Social Web, schon 2003 ging es (damals noch unter dem Namen OpenBC) an den Start, seit 2006 ist es an der Börse notiert. Ende 2012 übernahm das Medienunternehmen Burda die Mehrheit an der Aktiengesellschaft. Zuletzt hatte Xing laut AGOF-Statistik in Deutschland rund 4,8 Millionen Besucher im Monat.

So verwundert es nicht, dass etliche Unternehmen Twitter zu gerne gekauft hätten. Das erste, mit zwölf Millionen Dollar noch bescheidene Angebot stammte von Yahoo. Wenig später warb der frühere US-Vizepräsident Al Gore darum, den Dienst zu einem Teil seines Fernsehsenders Current TV zu machen. Doch auch seine joviale Art half nicht. Der Facebook-Chef Mark Zuckerberg versuchte es sogar zwei Mal vergeblich. Der Schauspieler Ashton Kutcher und der Musiker Sean Combs wollten sich Beteiligungen sichern.

Die Aussicht auf das schnelle Geld überzeugte die Twitter-Leute nicht. Sie holten stattdessen in mehreren Runden potente Kapitalgeber in die Firma, die jetzt beim Börsengang für ihren Einsatz belohnt werden. Auch wenn das Unternehmen immer noch nicht gezeigt hat, dass es seine große Reichweite dauerhaft in Werbeeinnahmen ummünzen kann.

Bilton zeichnet ein unschmeichelhaftes Bild von den Gründern. An den Streitigkeiten und Intrigen sind wahrscheinlich mehrere Freundschaften zerbrochen, auch wenn sich die Gründer beim Börsengang Arm in Arm zeigten (ohne Noah Glass). Trotzdem glaubt Buchautor Nick Bilton, dass der Dienst ohne die unterschiedlichen Charaktere nicht das wäre, was er ist.

Das Buch ist packend geschrieben wie ein Roman, es richtet sich nicht nur an Geeks, sondern jeden, der Drama und Intrige mag. Selbst Twitter-Unkundige dürften etwas damit anfangen können. Aber wie viel davon ist Dokumentation, wie viel Dichtung? Bilton betont in einer Vorbemerkung, dass er mehrere hundert Stunden Interviews geführt und tausende Dokumente ausgewertet habe, darunter vertrauliche E-Mails und Vertragsunterlagen. Außerdem habe das Internet geholfen, viele Situationen zu rekonstruieren - schließlich nutzen so ziemlich alle Beteiligten Twitter.

Literatur : Nick Bilton: Twitter. Eine wahre Geschichte von Geld, Macht, Freundschaft und Verrat. Campus Verlag, 335 Seiten, ISBN: 978-3593399065. Englischer Originaltitel: Hatching Twitter.

(Quelle: Handelsblatt)