ERP II setzt Anbietermarkt unter Druck

ERP – Eine richtige Pleite?

24.04.2006 von Manfred Weiss/CW.at
Der Begriff Enterprise Resource Planning (ERP) wurde ungefähr Mitte der Neunziger-Jahre vom Marktforscher Gartner geprägt. Damals beschrieb man mit diesem Begriff eine integrierte Software-Lösung, die administrative Standardfunktionalitäten mit Funktionalitäten aus der Fertigung verbindet. Damals war ERP-Software primär zur Prozess-Automatisierung in den Unternehmen konzipiert. Diese auch unternehmensübergreifend zu optimieren, spielte dagegen kaum eine Rolle.

Heute ist ERP-Software das unumstrittene Rückgrat der Unternehmens-IT. ERP-Systeme sind die fleißigen Ackergäule, die die Unternehmensfinanzen zusammenhalten und die Datenbasis für Controller liefern. Ob Finanzen, Produktion, Vertrieb, Einkauf, Lager oder die Zusammenarbeit mit Kunden und Lieferanten: ERP-Lösungen sind das Backbone, in dem Unternehmensdaten zusammenfließen – und sie sind die Basis für strategische Entscheidungen.

Ungefähr um den Jahrtausendwechsel begann man in den Unternehmen sich vertriebsorientierten Aktivitäten, also nach außen gerichteten Abläufen, zuzuwenden. Dies führte zwangsläufig zu Erweiterungen in den ERP-Konzepten. Zwischenzeitlich hatten sich auch die SCM-Anbieter (Supply Chain Management) als ernst zu nehmende Konkurrenz am Markt etabliert. Die SCM-Anbieter konzentrierten sich von Anfang an auf die unternehmensübergreifenden Prozesse. Allerdings lag der Fokus hier auf den Lieferanten. Denn mit den SCM-Lösungen war man in der Lage, Planungsdaten aus verschiedenen Systemen, und zwar innerhalb und außerhalb eines Unternehmens, automatisch zu extrahieren und zu verarbeiten.

Vor allem in den letzten Jahren haben die ERP-Anbieter eine beachtliche Aufholjagd gegenüber den SCM-Mitbewerbern begonnen. Kaum glaubte man, die Konkurrenz so halbwegs im Griff zu haben, traten die CRM-Anbieter (Customer Relationship Management) auf den Plan und machten der ERP-Szene das Leben schon wieder schwer.

Neben den spezifischen Applikationen sorgt in jüngster Zeit aber auch die technologische Entwicklung für immer stärkeren Unmut. Die ERP-Anbieter sehen sich dem Anspruch ausgesetzt, ein Komplettpaket an Anwendungen anbieten zu müssen, das alle erdenklichen Unternehmensanforderungen abdeckt und noch dazu auf der Basis einer einheitlichen Plattform läuft.

ERP II bringt Web-Fähigkeit

Wieder einmal war es der Gartner Group vorbehalten, die Vorreiterrolle bei der Begriffsbildung zu übernehmen. Auf ERP I folgte nun der von Gartner formulierte Begriff ERP II. Wer sich davon allerdings übertrieben viel erwartet, dem sei gesagt, dass ERP II im Prinzip nichts anderes ist als ein web-fähiges ERP I. Denn bei ERP II geht es weniger um neue Funktionalitäten sondern um die Nutzung der bisherigen Applikationen im Internet. Dennoch bleibt die Tatsache, dass diese Anwendungen dadurch effizienter eingesetzt werden können. Die Nutzung des Internets optimiert die Zusammenarbeit zwischen firmeninternen und unternehmensübergreifenden Prozessen. Die IT-Industrie hat auch dafür eine Bezeichnung gefunden und spricht seither in diesem Zusammenhang von Collaboration.

Unternehmensübergreifende Wertschöpfungskette

Als Geschäftsstrategie auf Basis der Web-Technologie erlaubt ERP II jedenfalls neue Kombinationen von Prozessen. So lässt sich beispielsweise die Wertschöpfungskette, die bisher von den einzelnen Abteilungen eines Unternehmens geschlossen wurde, nun zumindest teilweise auf andere Unternehmen übertragen. So ist es heute denkbar und möglich, nicht nur die physische Abwicklung des Warenversands von einem Logistik-Dienstleister übernehmen zu lassen, sondern gleich die gesamte Warenwirtschaft. Aber auch die Buchhaltung könnte beispielsweise auf Anfrage die aktuellen Buchungsdaten an einen Projekt-Manager weiterleiten, damit dieser das Projekt-Controlling zeitnaher und effizienter gestalten kann.

Der Begriff ERP-Markt ist eigentlich ein klassisches Trugbild. Denn angesichts der Breite des Anwendungsspektrums lässt er sich nur sehr schwer funktional abgrenzen. In jüngster Vergangenheit versuchte man daher, den ERP-Markt auf der Basis der Mitarbeiterzahl und Umsatzgröße der ERP-Anwender neu zu definieren. Heute weiß man, dass dieser Versuch erfolglos geblieben ist. Denn sehr schnell musste man erkennen, dass die Anwenderunternehmen die Größe ihres ERP-Anbieters und die Vielfalt der Funktionalitäten der ERP-Software keinesfalls von ihrer eigenen Größe abhängig machen müssen. Die dennoch vielfach immer wieder durchgeführte Klassifizierung des ERP-Markts nach Unternehmensgröße auf Kundenseite ist also vielmehr eine Marketingstrategie der Anbieter als die tatsächliche Marktrealität.

Den Beweis dafür liefern die zahlreichen Mittelstandsoffensiven der großen Anbieter in den letzten Jahren. Die alteingesessenen ERP-Revierhirsche wollten ihre Lösungen ohne substanzielle Anpassungen an die Mittelbetriebe verkaufen. Als man erkannte, dass es doch nicht so einfach geht, begannen die Großen kleinere ERP-Anbieter und deren passende Lösungen einfach zu übernehmen. Dennoch haben diese, übrigens immer noch grassierenden, Mittelstandsoffensiven zwei Fakten ganz deutlich an den Tag gebracht:

1.) Es ist nun völlig klar, dass der Mittelstand der klare Hoffnungsmarkt der Anbieter ist.

2.) Der Kampf um Marktanteile ist noch viel härter geworden, was mit einem starken Konzentrationsprozess auf Seiten der Anbieter einhergeht. In fast allen europäischen Ländern gibt – in ein paar Jahren wird man schreiben – gab es eine Vielzahl kleiner lokaler ERP-Anbieter, die sich zwar (noch) recht gut behaupten, aber aufgrund der beschränkten Größe ihrer installierten Basis, irgendwann dem Wettbewerbsdruck nicht mehr standhalten können oder den finanziellen Verlockungen eines Übernahmeangebotes erliegen.

Da aber die Zukunft des ERP-Markts nicht nur vom finanziellen Kräfteverhältnis der Anbieter entschieden wird, sondern auch vom Umstand, wie sehr die angebotenen Lösungen dem ERP II-Konzept entsprechen, ist für die Anwender vor allem wichtig zu wissen, welche Merkmale ERP-II Lösungen aufweisen müssen, damit die Geschäftsstrategie realisiert werden kann. Je größer der Vorsprung des Anbieters in Sachen ERP II, desto höher ist auch die Investitionssicherheit für die Kunden, da diese Lösungen erst am Beginn ihres Lebenszyklus stehen. Helmuth Gümbel, ehemals ERP-Analyst bei Gartner und jetzt Partner und Analyst bei Strategy Partners International, hat acht Merkmale von ERP-II-Lösungen herausgearbeitet.

Acht Merkmale einer modernen ERP-Lösung

1.) Internetbasierende Architektur: Da das Internet keine Transaktionen unterstützt und im Vergleich zu herkömmlichen Lösungen, weder zuverlässig noch sicher genug ist, brauchen Applikationen mehr als das Draufsatteln der Web-Fähigkeit. In den meisten Fällen ist die dabei entstehende Architektur sehr komplex und schwer administrierbar. Daher brauchen Anwender heute Produkte, die eine native Internetunterstützung bieten, und nicht Kompromisslösungen, wie sie von veralteten Architekturen diktiert werden.

2.) Plattformunabhängigkeit: Anwender wollen die Wahlfreiheit zwischen mehreren Plattformen. Einerseits um ihre vorhandenen Systeme besser nutzen zu können und andererseits um das Risiko des totalen Verschwindens eines Herstellers vom Markt sowie das eines Herstellermonopols zu minimieren.

3.) Skalierbarkeit: Unabhängig von ihrer Größe sollten Unternehmen nicht gezwungen werden, zu einem anderen Produkt zu wechseln, nur weil ihre ERP-Software die Last der Transaktionen nicht mehr bewältigen kann.

4.) KISS (keep IT simple and stupid) – Einfachheit für den Endanwender: Technischer Fortschritt ist in all zu vielen Fällen nicht unbedingt auch anwenderfreundlich. Deshalb müssen die Hersteller besonders auf die Konsistenz der Benutzeroberflächen achten.

5.) KIF (keep IT flexible) – Unternehmerische Flexibilität: Die Unternehmen stehen unter dem ständigem Druck, ihre Prozesse zu vereinfachen, und zwar auch über ihre Unternehmensgrenzen hinweg. Die Verbindung von Applikationen zur Unterstützung unternehmensübergreifender Collaboration ist deshalb eine Schlüsselanforderung.

6.) KIO (keep IT open) – Offenheit für Integration und Standards: Von modernen ERP-Produkten werden leichte Integrierbarkeit und Standardschnittstellen erwartet. Je reifer Integrationskonzepte werden, desto bedarfsorientierter sind sie. ERP-Hersteller erfüllen diese Anforderung am besten, wenn sie ihre Produkte mit führenden Plattformen integrieren.

7.) Funktionale Erweiterungen: Mittelständische Anwender bevorzugen integrierte Lösungen aus einer Hand und sind nicht glücklich mit Produkten, die zusätzliche Integration erfordern. In Zukunft werden ERP-Hersteller daher versuchen, die gesamte Business-Software zu liefern, die ein Unternehmen für die Abwicklung seiner Geschäftstätigkeit braucht.

8.) Branchenlösungen: Viele Hersteller haben Produkte entwickelt, mit denen sie die Anforderungen ganzer Industriebranchen abdecken können – allerdings mit unterschiedlichem Erfolg. Denn nur in rund einem Drittel der Fälle reichte eine Branchenlösung an die Qualität des zugrunde liegenden Kernprodukts heran. Doch auch hier versuchen sich die Hersteller den Kundenanforderungen anzupassen. Die Anwender wollen Lösungen, die alle Anforderungen ihrer Branche abdecken und sich auch in der Praxis bewährt haben.

Harte Zeiten für ERP-Hersteller

Es steht außer Frage, dass die Zeiten für ERP-Hersteller ziemlich hart sind. Aber viele Anbieter und ein harter Wettbewerb bedeuten meist auch einen Vorteil für den Kunden. Denn zweifelsfrei waren die Zeichen und Zeiten für die Anschaffung eines ERP-Systems noch nie so gut wie heute. Das betrifft aber weniger die Kosten für den Einsatz einer ERP-Lösung – eine gute betriebswirtschaftliche Software bedeutet immer eine beträchtliche Investition. Bei der Frage nach der richtigen ERP-Lösung sollte man nicht in erster Linie auf die Höhe der Investition achten oder darauf, welcher Anbieter das nächste oder übernächste Jahr überstehen wird. Vielmehr kommt es zunächst einmal darauf an, welche Vision ein Unternehmen für sich selbst hat. Denn nur diese Frage bestimmt die funktionellen Anforderungen. Und nur so wird aus einer ERP-Lösung nicht "Eine Richtige Pleite". Das gilt heute genauso wie in fünf, zehn oder noch mehr Jahren.

Aus ziemlich aktuellem Anlass noch ein Tipp zum Schluss. Da die Preise für Outsourcing-Dienste wie ASP (Application Service Providing, das ist ein Quasi-Leasing, beim dem Software nicht gekauft wird, sondern die Software-Nutzung gegen Gebühr erfolgt) unter sehr starken Druck geraten sind und sich diese Entwicklung fortsetzen wird, sollte sich eine gute ERP-Lösung auch an das ASP-Modell anlehnen. Denn damit macht man aus der prinzipiellen Frage, ob Inhouse-Lösung oder Outsourcing, eine taktische Entscheidung.