Fixe Budgets haben ausgedient

Ganz nah am Markt

30.08.2006 von Andreas Schmitz
Aktuelle Zahlen? Ja. Untereinander vergleichen? Ganz wichtig. Zukunftsspekulationen? Nein. Ohne Budgets führt Erich Harsch, Geschäftsführer des Karlsruher Drogeriemarkts dm, seit Jahren erfolgreich sein Geschäft.

Das Geschacher beginnt Monate vor dem Jahresabschluss. Abteilungschefs verhandeln künftige Budgets mit der Geschäftsführung. Unzählige Male revidiert und angepasst stehen sie dann für ein Jahr – in Stein gemeißelt. „Viele Unternehmen stöhnen über mühsame und aufwändige Budgetierungsprozesse“, kommentiert der Geschäftsführer des Controller Vereins Conrad Günther. Und er fordert, die Planung zu straffen: „Es geht nicht darum, überhaupt keine Budgets mehr zu machen, sondern bessere“. Bloß wie? Mit „better budgeting“ meint Günther, was neben der Verbesserung der Prozesse vor allem eine Verkürzung der Budgetzeiten bedeutet.

Erich Harsch geht noch einen Schritt weiter und sagt: „Keine Budgets, keine Zielsetzungen“. Der Geschäftsführer IT des Karlsruher dm-Drogerie-Marktes ist davon überzeugt, dass Ziele, die „von oben“ gesetzt werden, sowieso nicht so konsequent verfolgt werden. Er setzt auf eine „Eigenverantwortungskultur“ – spricht von einer Bottom-up-Planung aus den Filialen heraus, dezentral. Das unterstützt er auch in Funktion des Verantwortlichen der IT-Tochter Filiadata etwa seit Ende der 90er-Jahre durch ein modernes Data Warehouse, aus dem unter anderem Filialmitarbeiter und Lieferanten Monat für Monat 300 000 Reports ziehen. Jeder vierte Bericht geht in die Filialen, die daraufhin ihre Sortimentsabverkäufe einzelner Warengruppen mit anderen der über 1500 dm-Filialen vergleichen können. „Die Filialleiter gucken nicht in den eigenen vier Wänden, sondern haben direkt eine Relativierungsmöglichkeit mit anderen dm-Märkten“, erläutert Harsch, der die Filialleiter in der Holschuld sieht, sich die nötigen Informationen eigenverantwortlich aus dem System zu beschaffen.

Unbürokratische Konsequenzen

Und wenn nötig, schnell und unbürokratisch die Konsequenzen daraus zu ziehen – wie kürzlich eine Filiale im Badischen. Gegen den landesweiten Trend waren die Verkäufe von Alnatura-Produkten zurückgegangen. Harsch, in einer Matrixfunktion für IT und für diese Vertriebsregion zuständig, diskutierte mit dem Filialleiter die negative Entwicklung. Grund: Probleme in der „baulichen Physis“, der Regalanordnung, sodass die Kunden die Produkte schlicht oft übersehen haben. Nachdem zwei gegenüberliegende Regale mit den Alnatura-Produkten gefüllt waren, entwickelte sich der Verkauf dann wieder wie erwartet positiv. Die Ausrede „Das hat mir keiner gesagt“ gibt es bei dm nicht mehr.

Und auch nicht die Ausrede „Wir konnten ja nichts tun, wir hatten ja kein Budget mehr“, wie sie Siegfried Gänßlen, Finanzvorstand und stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Schiltacher Sanitär-Spezialisten Hansgrohe, oft gehört hat. Und er entschied: „Den schwarzen Peter möchte ich mir nicht immer zurückspielen lassen.“ Seine von ihm „Budget light“ genannte neue Budgetierung ist nicht mehr so starr wie noch vor fünf Jahren. Es gibt zwar einen Finanzplan, einen Rahmen für die 24 Töchter des knapp 500 Millionen Euro Umsatz starken Unternehmens, aber „keine Leitplanken aus Stahl, sondern aus Gummi“, wie Gänßlen formuliert. In Finanzdeutsch heißt das rollierender Forecast – eine Art Kompromiss zwischen der radikalen Abschaffung von Budgets und der klassischen Variante. Das heißt: Jeder Bereich passt seine Zahlen permanent neuen Gegebenheiten an.

Budget-Leitplanken aus Gummi

Hansgrohe setzt auf ein Data Warehouse von SAP (SAP BW Version 3.5). Das macht es möglich, dass ein standardisiertes Berichtswesen dezentral in allen Gesellschaften er Hansgrohe-Gruppe zur Verfügung gestellt werden kann. „Sehr große Datenmengen stehen den Benutzern in verdichteter Form in Standardberichten zur Verfügung, die über Filter- und Drill-Down-Möglichkeiten detailliert analysiert werden können“, erläutert Gänßlen. Ein wesentlicher Vorteil des SAP BW sei die Integration in die bestehende SAP-Systemlandschaft.

Die Vorausschau der lokalen Budgets auf die kommenden sechs Monate korrigieren die Verantwortlichen ständig. Wie dm setzt Hansgrohe auf eine dezentrale Struktur. Voraussetzung: ein schnelles und einheitliches Berichtswesen. Seit kurzem bemerkt Gänßlen, der als CFO ähnlich wie Harsch auch für eine Vertriebsregion mit zuständig ist, dass sich „Mitarbeiter stärker als zuvor beteiligen und die Leute mehr Kräfte mobilisieren“.

Das ist die Führungskultur, die sich Niels Pfläging vorstellen dürfte. Der Berater aus dem Interessenverbund Beyond Budget Round Table fordert kompromisslos die Abkehr von Budgets – und das hat Gänßlen nicht im Sinn. „Es darf nicht darum gehen, wer mehr Schiffchen betreut, wer mehr Macht hat“, meint der Autor mehrerer Bücher zum Thema „Beyond Budgeting“. Die Führung, die auf Weisung und Kontrolle basiere, bringe jedoch einen Verlust der Ressource Mensch, deren Talente ungenutzt blieben, missioniert Pfläging.

Der Berater sieht zunächst die Zufriedenheit der Kunden sowie der Mitarbeiter als vorrangiges Ziel eines Unternehmens an – und dann die Ergebnisse der Geschäftszahlen. dm- und Beyond-Budgeting-Mann Harsch bringt es ähnlich auf den Punkt: „Gewinn ist kein unternehmerisches Ziel, sondern eine Notwendigkeit für den Verbleib im Markt, und er ist die Folge der Leistung unserer Händler.“

Internes Benchmarking als Schlüssel

Grundlage für die Stärkung der Mitarbeiter ist unter anderem, ihnen Einblick in die aktuellen Geschäftszahlen zu bieten. Wie bei dm und auch Hansgrohe versorgen Informationssysteme ihre Mitarbeiter mit aktuellen Daten. Im Daten-Pool, den die Filialen mit ihren aktuellen Zahlen füllen, liegt der Schlüssel für den Erfolg. Denn nur auf Basis möglichst vieler interner Vergleichswerte lässt sich die Leistung benchmarken und herausfinden, welche Produkte besonders gut laufen. Und letztlich die Logistik und die bereitzustellenden Gelder darauf abstimmen.

Bei dm in Karlsruhe wird praktiziert, was Pfläging fordert und „empowered führen durch Transparenz“ nennt – also offen sein für Mitarbeiter und allen zur gleichen Zeit möglichst die gleiche Information zur Verfügung stellen. „Unternehmen sind ohne Budgets erfolgreicher“, behauptet Pfläging. Im Fall dm scheint das zu stimmen. Abgesehen von einer Stagnation im Wachstum Ende der 80er-Jahre ist der Umsatz der Drogeriemarkt-Kette immer gestiegen – auf zuletzt 3,33 Milliarden Euro 2005 (plus 8,7 Prozent gegenüber 2004).

Bei dm-Geschäftsführer Harsch ersetzt die „Wertbildungsrechnung“ (WBR) die Budgets – eine auf dm-Anforderungen zugeschnittene monatliche Gewinn- und Verlustrechnung der Filialen. Auf einem DIN-A4-Blatt sind die Einnahmen, der Deckungsbeitrag (also der Ertrag, durch den alle Aufwände abzudecken sind), alle Kosten, die Mitarbeitereinkommen und die Ent- und Verschuldung aufgelistet. „Wir verzichten auf um satzbezogene Berechnungen“, sagt Harsch, weil diese Methode dazu führen würde, dass sich Filialen „gesundrechnen“ könnten. Die WBR ist ein aktueller Statusbericht. „Es geht nicht darum, in die Zukunft zu schauen“, sagt Beyond-Budgeting-Verfechter Pfläging, „es leiten sich daraus auch keine Forderungen oder Vorgaben ab.“

Pfläging möchte „seinen“ Ansatz des „Beyond Budgeting“ trotz Parallelen in Hinsicht auf die Firmenkultur keineswegs mit dem Gänßler’schen „Budget Light“ verwechselt wissen: „Beyond Budgeting heißt, Budgetsteuerung und Bürokratie durch Führung und Unternehmertum zu ersetzen“, erläutert der Berater. Seiner Meinung nach gibt es Budgets – oder es gibt sie nicht. „Es ist Quatsch zu behaupten, man könne flexibel budgetieren“, meint der ehemalige Controller von Boehringer Ingelheim und Thyssen in Brasilien: „Budgets sind ja gerade dazu gedacht, fixierte Vorgaben zu machen und Regeln zu definieren. Auch darum sind Budgets Fesseln für empowernde, unternehmerische Führung.“

Bei dm finden sich zwar keine davon. Die Frage ist edoch, ob der Fall dm eins zu eins auf andere Unternehmen zu übertragen ist. Ronald Gleich hat da seine Zweifel: Der Management-Professor der European Business School und Budgetierungs-Kenner führt vor allem regulatorische Verpflichtungen von Unternehmen an, die an einer Börse notiert sind und Shareholdern sowie Analysten verpflichtet sind, oder Unternehmen, die auf Kredite von Banken angewiesen sind. So verpflichtet etwa das Aktiengesetz (Paragraph 90 Absatz 1.1) AGs oder ähnliche Rechtsformen dazu, eine detaillierte Finanzplanung zu machen. Der Verzicht auf eine Vorausschau werde, so meint Gleich, von Wirtschaftsprüfern in der Regel nicht akzeptiert. Zudem verlangt der Corporate Governance Codex eine strategische Planung, die Aufsichtsrat und Vorstand abgesegnet haben. Lediglich Familienunternehmen könnten sich den „Gepflogenheiten des Kapitalmarktes“ ein Stück weit entziehen.

Unabhängig sein von Externen

Unabhängigkeit herrscht auch beim Karlsruher Familienunternehmen dm vor, in finanzieller und persönlicher Hinsicht. Der geschäftsführende Gesellschafter Götz Werner baut auf den anthroposophischen Ansatz nach Rudolf Steiner, den Menschen in seiner Individualität und seiner Eigenverantwortlichkeit zu stärken.

Bezeichnend für Krisensituationen sei – so Harsch – der Ruf nach dem starken Mann. Unternehmen suchen schnell nach Hilfe von außen und setzen nicht ausschließlich auf die Führungskräfte im eigenen Haus. „Da werden Probleme verlagert, eine ganze Beraterbranche lebt davon“, bemerkt der dm-Geschäftsführer, der Berater „als Inspirationspartner“ sieht, den Ur-Verantwortlichen jedoch immer im eigenen Unternehmen. Und letztlich werde durch externe Führung die Unabhängigkeit aufgegeben, die für den Unternehmergeist in jedem Mitarbeiter dringend nötig ist. Diese beuge einer Fremdsteuerung des Unternehmens vor und stärke umgekehrt wiederum die Verantwortlichkeit aller Mitarbeiter.

Hansgrohe-CFO Gänßlen spürt den Ruck in seiner Belegschaft: Der Grund liegt darin, dass „dezentralen Einheiten“ oder Filialen nun schnell auf Marktveränderungen reagieren können und deren Mitarbeiter spüren, dass sie etwas verändern und aktiv mit gestalten können. Das Vertrauen reicht jedoch noch nicht so weit, dass Filialen selbst entscheiden können, wie sie Bedarfe künftig abdecken wollen. Läuft ein Produkt nicht, wird das „Problem“ in die Zentrale eskaliert, die entscheidet, was zu tun ist. Umgekehrt bei positiven Entwicklungen: So erhöhte Gänßlen 2005 die Kapazität der Spritzmaschinen für Kopfbrausen kurzfristig, vor wenigen Wochen gab der CFO ein Budget von mehreren Millionen Euro frei, um „spanabhebende Maschinen für Armaturen“ zu beschaffen, deren Nachfrage gestiegen war. Und schon
waren die Gummi-Leitplanken für das Budget gedehnt. Und die rollierende Planung musste angepasst werden.

Anpassungen als Tagesgeschäft

Für dm-Mann Harsch gehören Anpassungen zum Tagesgeschäft. Mit dem Unterschied, dass nicht er aktiv werden muss, sondern Mitarbeiter in der Filiale. Doch dürfte der Geschäftsführer auch mit seinen unzähligen Reports und Statusberichten gut beschäftigt sein. Bei den regelmäßigen Zahlen fällt auf, dass bei dm vieles anders ist, eigenwillig und individuell. Einen Quartalsbericht gibt es nicht, dafür alle vier Monate einen Tertialbericht, die Gewinn-und-Verlust-Rechnung heißt Wertbildungsrechnung. Und Begriffe aus der üblichen Unternehmensterminologie vermeiden dm-ler: Personal wird zu Mitarbeitern, aus Leitern werden Verantwortliche und aus Azubis Lernlinge.

Da will es gut passen, dass der gebürtige Wiener Erich Harsch nicht ins Geschäftsführer-Klischee passen will – mit BWL-Studium und IT im Nebenfach etwa. Harsch hat sein Jura-Studium nach zwei Semestern aufgegeben und ist dann zu einer internen EDV-Schulung nach Karlsruhe zu dm gekommen, als Abiturient. Bis heute hat die „Mitarbeiter“-Abteilung keine weiteren Zertifikate über Abschlüsse von ihm gesammelt. Dem Erfolg tut es keinen Abbruch.