Nicht zu jeder Schraube passt eine Mutter

Grenzen der Standardisierung

04.07.2005 von Heinrich Seeger
Unternehmen aus dem Bereich "Industrie und Maschinenbau" sind eher dezentral aufgestellt. Sie betonen den Wert von Standards, obwohl diese nur bedingt zum Einsatz kommen. Übernahmen und Fusionen ruinieren die Vorgaben der CIOs.

Lothar Dietrich, EX-CIO von Babcock-Borsig, packt in einen Satz, was die ganze Branche umtreibt: "Von den CIOs wird erwartet, dass sie die IT standardisieren, um die Kosten zu senken." Der Herausgeber des Buches "IT im Unternehmen spricht damit zwei neuralgische Punkte an: Standardisieren und Sparen. Diese beiden schmerzen auch die IT-Entscheider aus den elf Unternehmen, die die Deutsche Börse in den Segmenten Maschinenbau und Industrie des MDAX versammelt hat.

Die elf CIOs verantworten die Informationsverarbeitung in heterogenen Unternehmenslandschaften, die ausnahmslos international aufgestellt sind, deren organisatorische Komplexität oft durch Übernahmen und Fusionen zusätzlich gewachsen ist und die deshalb große Herausforderungen an die IT-Manager stellen.

Das gilt vor allem dann, wenn technische Standards in Stellung gebracht werden sollen, um die Kosten der IT zurückzudrängen. So auch bei Kirsten Dorsch, CIO des Anbieters von IT-Lösungen für Banken und Handelsunternehmen Wincor Nixdorf in Paderborn. Sie will die Kosten für die Administration und Weiterentwicklung so niedrig wie möglich halten, indem sie Infrastruktur und Anwendungen konsequent standardisiert, konsolidiert und simplifiziert. "Eine 100-Prozent-Quote schafft man zwar nie, aber wir versuchen, spätestens bis Mitte 2007 überall bei 80 bis 90 Prozent zu landen", platziert Dorsch die Messlatte.

CIOs stufen sich als eher zentralistisch ein

Standardisierung der IT erfordere einen starken operativen Durchgriff von oben, stellt Peter Dück, Senior Consultant vom Marktforschungs- und Beratungsunternehmen Gartner, fest. Dieser Durchgriff wiederum sei nur in zentralen Governance-Strukturen möglich. Was er und seine Kollegen im Markt beobachten, sei jedoch ein "Trend zu föderalen Governance-Strukturen" - also dezentralen IT-Organisationen. Deshalb findet es Dück "einigermaßen erstaunlich, dass die IT-Entscheider der elf MDAX-Industrieunternehmen ihre IT-Entscheidungsstrukturen tendenziell als zentral einstufen". In der Tat: Auf die Bitte, ihre Organisationen auf einer Skala von 1 (sehr stark zentral) bis 5 (sehr stark dezentral) selbst einzuordnen, gaben sich in einer CIO-Umfrage fünf der elf CIOs eine '2' und zwei sogar eine '1'; der Durchschnittswert lag bei 2,4.

Diese Diskrepanz zwischen der externen Beobachtung und der Selbsteinschätzung deutet auf einen anstrengenden Spagat zwischen Standardisierung und Flexibilität hin. Beispiele für diese IT-Management-sportliche Übung finden sich zuhauf im Industriesegment des MDAX.

Die Heidelberger Druckmaschinen AG etwa operiert auch nach der Abtrennung des verlustreichen Zeitungs- und Digitaldrucks weltweit noch an 14 Standorten und in 250 Vertriebsniederlassungen. CIO Michael Neff kann daher nicht ohne Rücksicht auf Verluste standardisieren. Er fühlt sich "stark hin- und hergerissen" zwischen der "homemade"-Ausrichtung der 80er-Jahre, die an maximaler Flexibilität orientiert war, und einer kostenoptimierten "Package-IT".

"Ich predige seit 2000 die Standardisierung", sagt Neff, "will aber so flexibel wie möglich bleiben." Will heißen: Die beste Lösung am Markt ('Best of Breed') würde er wohl kaum einer billigeren Standardlösung opfern. Denn im Vordergrund steht für Neff, der zu den dienstältesten IT-Managern in Deutschland gehört, das "globale Consulting-Verhältnis" der IT gegenüber den Fachbereichen - mit der Verpflichtung, für Geschäftsprozesse mit optimaler Effizienz und Effektivität zu sorgen.

Komplexität und die Größenfalle

Für Helmut Krcmar, Professor für Wirtschaftsinformatik an der TU München, ist die von Neff beschriebene Aufgabenstellung weitgehend generalisierbar. Die nicht zu den globalen Fortune-500 zählenden MDAX-Unternehmen haben es nach seiner Ansicht aufgrund geringerer Skaleneffekte jedoch schwerer als Konzernriesen. Unternehmen mit globalen Produktions- und Verkaufsaktivitäten stünden allesamt vor ähnlichen Herausforderungen, unabhängig von ihrer Größe. "Industrieunternehmen mit einer begrenzten Zahl an Produktionsstandorten und weltweitem Vertrieb müssen zum ei9nen die Produktions-IT beherrschen", erklärt der Professor. "Zum anderen müssen sie aber auch weltumspannend präsent sein - auch wenn nicht an allen Orten große Volumina abzuwickeln sind." Oft müsse eine groß Zahl von Partnern bedient werden. So tappten die "großen Mittelständler", als die sich einige MDAX-Unternehmen ja gern bezeichnen, leicht in die Größenfalle. "Mechanismen zur Unterstützung der Kundenbeziehungen", da ist sich der Professor mit Berater Dietrich einig, "lassen sich nicht standardisieren."

Kundennähe sowie optimale Effizienz und Effektivität: Diese hehren Ziele sind mit einer IT, die durch rigorose Standardisierung primär das Kostenoptimum im Blick hat, nicht zu erreichen, betont auch Gunter Reinhardt. Der Technikvorstand der IWKA AG, einer Holding für mehr als 80 mittelständische Unternehmen, spricht von "organisierter Dezentralität" als optimaler Lösung für die IWKA-Konzernstruktur.

"Organisierte Dezentralität bei IWKA"

"Das Unternehmen ist dezentral gewachsen. Wir müssen vollkommen unterschiedliche Unternehmenstypologien - vom Maschinenbauer, der Unikate fertigt, bis zur Serienproduktion von Automotive-Parts und Robotern - unter einen Hut bekommen", sagt Reinhart, der früher Direktor des Instituts für Produktionstechnik an der TU München war. "Mit dieser IT-Organisation verbinden wir die Flexibilität, Kreativität und Schnelligkeit dezentraler, mittelständisch geprägter Unternehmenseinheiten mit den Synergien und den Skaleneffekten, die sich in einem mittelgroßen Konzern erzielen lassen", so der IWKA-Vorstand.

Ob es etwas nützt und die existierende Planungsgrundlage von Dauer ist, muss sich aber noch erweisen: Seit einiger Zeit kursieren Spekulationen über eine bevorstehende Zerschlagung der Holding, die durch den Rücktritt von CEO Hans Fahr neue Nahrung erhalten haben. Fahr wollte an der Drei-Säulen-Strategie des Konzerns festhalten (Automobilindustrie, Konsumgüterindustrie, Robotertechnik), während Investoren um den US-Finanzier Guy Wyser-Pratte verlangen, IWKA solle sich auf einen Bereich konzentrieren. Die dezentrale Struktur und damit der Organisationsbedarf der IT könnten also demnächst unter Druck geraten.

"Konzernweite Standards für die IT-Infrastruktur schätzen wir als geschäftskritisch ein", spezifiziert Michel Thoraval den Bereich, in dem sich IT wirkungsvoll vereinheitlichen lässt. Thorval ist Vice President und Leiter des IT-Programm-Office beim Luft- und Raumfahrtkonzern EADS und verantwortet konzernweite Projekte. Geht es dagegen um Projekte in den Konzernteilen, etwa beim Flugzeugbauer Airbus, hat es ein Ende mit dem starken zentralen Arm.

EADS-Flugzeugbauer entscheiden selbst

"Die Kernprozesse in den einzelnen Divisionen sind so spezifisch, dass eine generelle Regelung keinen Sinn machen würde. Die Flugzeugbauer wissen selbst am besten, welche IT-Ausstattung sie brauchen", so Thorval. "Konzernweite Vorgaben würden hier keine Vorteile bringen".

Für Ex-CIO und Berater Dietrich ist die strategische Stoßrichtung der Standardisierungsbemühungen unzureichend, wenn es nur um Infrastruktur geht. "Das nützt alles nichts, wenn die Profit-Center tabu sind" - eine Einschränkung, die auch im Industrie- und Maschinenbau-Segment des MDAX häufig anzutreffen sei. Echte Standardisierungsgewinne hält der in den dezentralen Babcock-Strukturen gestählte IT-Manager nur dann für erreichbar, wenn strategische IT-Enscheidungen über die Grenzen von Tochterunternehmen oder Landesgesellschaften hinaus und damit in die global angelegten Geschäftsprozesse eines Konzerns wirken.

Die Wirklichkeit folgt indes nicht immer der Kritik und schon gar nicht dem Wunsch von Beratern. In produzierenden Unternehmen könnten CIOs solche Voraussetzungen nicht allein schaffen, weil sie in den seltensten Fällen Vorstandsposten bekleideten, räumt Dietrich ein, der dieses Schicksal aus eigener Erfahrung kennt. Sie bräuchten Unterstützung von oben; das Top-Management müsse die IT-Entscheider ermächtigen, ihren Aktionsradius auf die Bereiche von Regional- oder sonstigen Fürsten im Unternehmen und damit in die Geschäftsprozesse hinein auszudehnen.

Dietrich hält daher Competence Center in der IT mit übergreifenden Befugnissen für erforderlich, deren Kompetenzen in die gesamte Organisation hineinwirken müssen. "Aber die wenigsten Vorstände industrieller Unternehmen sind sich dieser Notwendigkeit bewusst." Das liege daran, dass das Top-Management meist nicht verstehe, welche Prozesstypen es sich mit IT-Mitteln zu harmonisieren lohne.

Einkauf sowie Finanzen und Controlling seien meist unkritisch, sogar auf weltweiter Basis. Das gilt nach Dietrichs Einschätzung auch für den Personalbereich, wenn nationale Besonderheiten gesetzlicher und tarifärer Natur berücksichtigt werden.

Schwierig werde es dagegen - und hier ist der Berater wieder ganz bei den Harmonisierungsverzögerern aus den Chefetagen -, wenn kundennahe Prozesse der Konzernräson unterworfen und nach einem Standard ausgerichtet werden sollen. Organisationen, die unterschiedliche Marktgegebenheiten und Kundenerwartungen zu adressieren haben, in ein Standardjoch zu zwingen, erscheint auch dem Standardisierungs- und Harmonisierungsfreund sehr riskant: "Da wäre ich höllisch vorsichtig", sagt Dietrich. Angesichts weitgehender Ähnlichkeit ihrer Produkte auf weltweiter Basis seien die Maschinenbauer und andere Industrieunternehmen nämlich darauf angewiesen, sich mittels Kundenorientierung von den Wettbewerbern in den jeweiligen Märkten zu differenzieren. Nach welchen Kriterien und mit welchen Mitteln - make to order, Logistik just in time/just in sequence - das geschehen muss, können nach Dietrichs Überzeugung wiederum nur die Landesgesellschaften entscheiden.

Eine weitere wesentliche Determinante für die IT-Entscheider sei die Größe des Unternehmens, urteilt der Branchenkenner: Je größer ein Unternehmen, desto größer sei auch das Beharrungsvermögen der etablierten Geschäftsprozesse sowie der Strukturen in den Bereichen und Regionen.

Es scheint, als hätte Gartner-Mann Dück richtig beobachtet. Die Grenzen von Zentralismus und Standardisierung sind in Industrieunternehmen allen Plädoyers zum Trotz offenbar bis auf weiteres recht eng gesteckt.