Bayer Material Science

Größter Umbau der Firmengeschichte

27.04.2012 von Riem Sarsam
CEO Patrick Thomas hat ein vierjähriges "IT-Projekt" durchgezogen - das bloß nicht so heißen soll. Das ist schon mal das erste Erfolgsgeheimnis der digitalen Transformation bei Bayer Material Science.
Patrick Thomas, CEO, Bayer Material Science (links): "Ich zahle meinen CIO nicht, damit er nett ist. Ich zahle ihn dafür, unbequem zu sein."
Foto: Michael Rennertz

Ein Koordinatensystem: "Profit" steht auf der einen Achse, "Wachstumsrate" auf der anderen. Im Feld zwei Punkte. "Das", sagt Patrick Thomas und zeigt auf den Punkt oben rechts, "das ist unser perfekter Wettbewerber." Den gebe es in echt natürlich nicht, lacht der CEO der Bayer Material Science AG (BMS). Der lebhafte Brite hat sich den Punkt oben rechts vom BMS-Punkt ausgedacht, um das Ziel beim wohl größten Umbau in der Firmengeschichte klarzumachen: "BMS muss die Position dieses virtuellen Wettbewerbers erreichen."

Es geht um Chemie, es geht um Technik, aber in erster Linie geht es um neues Arbeiten. Historisch gewachsene Barrieren zwischen Bereichen und Ländern müssen verschwinden. Kurz: BMS kämpft mit klassischen Problemen. Was dabei in den neunziger Jahren als Management-Methode unter dem Namen Business Process Reengineering begann, macht heute als "Digitale Transformation" die Runde. Es geht erneut um die radikale Umwandlung eines Unternehmens.

Das MIT Center for Digital Business und Cap Gemini Consulting haben dazu weltweit mehr als 150 Großkonzerne bei ihrer digitalen Transformation beobachtet. In ihrem Report "Digital Transformation: A Roadmap for Billion Dollar Organizations" unterscheiden sie vier Typen von Unternehmen beziehungsweise Managern:

1. "Beginners", gekennzeichnet durch große Skepsis,

2. "Fashionistas", erkennbar am ambitionierten, aber zusammenhanglosen Einsatz von IT,

3. "Digital Conservatives", charakterisiert durch eine klare Governance, aber Zurückhaltung in puncto neue Techniken, und

4. "Digirati". Damit sind Unternehmen und Management gemeint, die eine ganzheitliche digitale Vision und Kultur entwickelt haben.

Folgt man der Klassifizierung der MIT-Studie, so kann man Thomas als Digirati in einem noch konservativen Umfeld bezeichnen (siehe "Reifegrad der Digitalen Transformation"). Digirati ist ein Kunstbegriff, zusammengesetzt aus "digital" und "literati", also belesen oder bewandert. Der Elektroingenieur Thomas bezeichnet sich selbst als "großen Fan von IT", den Nutzen digitaler Technik muss ihm niemand erklären. An einen Selbstzweck glaubt er allerdings nicht. IT ist für ihn das richtige Mittel zum Zweck. Digiratis wie Thomas, so die Definition der Studie, haben den Wert einer digitalen Transformation verstanden. Sie kombinieren eine klare Vision mit einer durchdachten Governance und den nötigen Investitionen.

Das MIT Center for Digital Business unterscheidet vier Typen, abhängig vom Einsatz an digitalen Instrumenten und von Aufmerksamkeit für das Thema.
Foto: cio.de

Anfang 2007 hat der CEO seinen Posten angetreten, wenig später kam Shanghai. Im Herbst 2007 trifft sich die gesamte Führungsriege des Konzerns im chinesischen Headquarter. Die Analysen zum Unternehmen, besser: die Probleme, lagen auf dem Tisch. Zwischen den beiden Punkten im Koordinatensystem klafften eine Ertragslücke von 400 Millionen Euro und eine um etwa eineinhalb Prozent zu niedrige Wachstumsrate. "Wir wussten, wir müssen das Unternehmen auf den Kopf stellen", sagt Thomas. Das gesamte Führungsteam bekennt sich am Ende per Unterschrift zur neuen Vision, die da lautet: 1. Das Unternehmen arbeitet ohne Ausnahmen mit globalen Geschäftsprozessen. 2. Diese werden von einem einzigen SAP-System unterstützt.

Das war der Startschuss für das vierjährige Projekt mit dem schönen Titel "Programm One - Change is happening". Die Leitung des Projektes trägt der zweite Mann, der mit in Thomas, Büro sitzt: Kurt De Ruwe, ebenfalls Digirati und obendrein CIO. "Programm One ist aber kein IT-Projekt", wirft Vorstandschef Thomas ein. "Die Manager können ihre Probleme nicht einfach über die Mauer dem CIO zuwerfen." Letztlich, so der Konzernchef, geht es um die Veränderungen in den Köpfen vieler Mitarbeiter. Sie müssen lernen, nicht mehr in Silos, sondern abteilungs- und funktionsübergreifend zu denken und zu arbeiten. Dieser Weg lässt sich nur erfolgreich beschreiten, wenn es die volle Rückendeckung der Konzernspitze gibt. "Das ist einer der kritischen Erfolgsfaktoren."

Die drei Erfolgsfaktoren laut MIT

Das bestätigen die Experten der MIT-Studie. Die Autoren sehen drei entscheidende Erfolgsfaktoren, die zum Gelingen der digitalen Transformation beitragen: 1. Eine klare Vision für das künftige Geschäft mit Blick auf den Einsatz von IT, 2. Investitionen in moderne wie klassische IT, um deren Potenziale auszuschöpfen, und 3. Veränderungen müssen vom Top-Management getragen werden. "Digitale Transformation benötigt die Kompetenzen und die Macht, die nur die obersten Führungskräfte besitzen", heißt es.

Diese Macht wirkt nun bei BMS in den zentralen Prozessen, sei es Order-to-Cash, Demand-to-Supply, Finance-to-Manage, Purchase-to-pay, Maintain-to-Settle: Die Verwendung dieser SAP-typischen Begriffe darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Prozesse in der Verantwortung der Business-Manager bleiben. Gleiches geschieht übrigens auch beim Thema Stammdaten. Das Business-Management, nicht die IT, trägt Sorge für saubere Daten. Aus Sicht des CEO ist das nur eine logische Konsequenz: "Stammdaten sind für das Business entscheidend, also dürfen sie dieses Thema nicht bei der IT abladen."

Knapp 12.000 Endanwender an rund 30 Standorten werden künftig mit dem neuen System arbeiten. Amerika, Europa und anschließend Asien - in dieser Reihenfolge ist der Roll-out von SAP gestartet, nachdem die globalen Prozesse entworfen und die Verantwortlichen bestimmt waren. "Eine der interessanten Frage zielte natürlich auf den SAP-Standard", sagt Thomas. Abweichungen sind möglich. Wer immer einen Vorschlag hat, kann diesen einbringen. Durchsetzen wird er sich allerdings nur, wenn er einen Business Case hat.

Patrick W. Thomas CEO, Bayer Material Science: "Manager können ihre Probleme nicht einfach über die Mauer dem CIO zuwerfen."
Foto: Michael Rennertz

Mehr als 500 Änderungsvorschläge sind in den vergangenen vier Jahren über den Tisch von CIO Kurt De Ruwe gewandert. Er prüft Kosten und Nutzen - womit er nicht immer auf Gegenliebe stößt, aber das war von vornherein klar. Die Rückendeckung von ganz oben hilft De Ruwe. Denn am CEO prallt Kritik an der IT schlichtweg ab. "Wer mit einem Finger auf Kurt zeigt, der richtet gleichzeitig vier Finger gegen sich selbst", macht Patrick Thomas klar.

Der gebürtige Brite Patrick Thomas ist seit 1. Januar 2007 CEO von Bayer Material Science. Er ist außerdem Vorsitzender des Oxford University Business Economics Program Board sowie Vorsitzender des Beirats des European Business Economics Leadership. Von Haus aus ist er Ingenieur für Elektrotechnik, eine Berufung, "die man nie wieder ablegt". Auch zu Hause nicht, wo Thomas schon mal aushilft und kaputte iPods für seine Kinder repariert.

Design, Test, Training

Für seinen IT-Chef war Program One dennoch eine Mammutaufgabe. Der Zeitplan für den Roll-out ist straff, der Koordinationsaufwand von der Softwareentwicklung bis zur Endanwenderschulung enorm. Die Phasen sind immer gleich: Vorbereitung, Design, Softwareentwicklung, Tests und Training, Live-Schaltung, Nachbereitung und Evaluation. Unterstützung bekommt die knapp 200 Mann starke IT-Mannschaft von den Kollegen der Bayer-Schwester BBS. Externe Hilfe, so die Regel im Hause Bayer, darf nur in Anspruch genommen werden, wenn BBS keine Experten zu einem Thema hat.

"Aber es geht nicht um IT", sagt auch CIO De Ruwe. "Es geht in erster Linie um die Haltung und Denkweise der Mitarbeiter." Wenn es den Verantwortlichen nicht gelingt, dieses sogenannte Mindset zu verändern, würde es BMS so ergehen wie vielen Unternehmen, die sich an radikalen Prozessveränderungen verhoben haben. Rund 70 Prozent der Reengineering-Projekte, so die Schätzung von Experten, haben ihre Ziele deutlich verfehlt. "Während sich die Manager auf die rationalen Aspekte der Organisation konzentrierten, missachteten sie die Bereitschaft der Mitarbeiter zu Verhaltensänderungen und Verhaltensfähigkeiten", warnt etwa Dieter Heuskel, ehemals Chef der Boston Consulting Group, im Harvard Business Manager.

Kurt De Ruwe, CIO, Bayer Material Science (links): "Wenn ich die Denkweise von Menschen ändern möchte, dann muss ich sie aus ihrer Komfortzone herausholen."
Foto: Michael Rennertz

Um nicht ebenfalls in diese Falle zu tappen, setzt De Ruwe auf eine umfangreiche wie kontinuierliche Kommunikation sowie auf konsequentes Training. In mehr als 30.000 Einheiten - Vor-Ort-Kursen sowie Online-Lehrgängen - lernen die Mitarbeiter erstens, wie sie SAP nutzen, und zweitens, wie sie in den neuen Prozessen arbeiten. Außerdem engagierte der CIO eigens einen erfahrenen Change-Manager und Kommunikations-Profi, der den Wandel begleitet und das interne Marketing pflegt. Regelmäßig werden die Mitarbeiter über den Stand der Dinge informiert, es werden Zwischenabschlüsse gefeiert, und es wird keine Gelegenheit ausgelassen, die Ziele wieder und wieder zu erklären.

Raus aus der Komfortzone

In Watte gepackt hat er die Mitarbeiter jedoch nicht. "Wenn ich die Denkweise von Menschen ändern möchte, dann muss ich sie auch aus ihrer Komfortzone rausholen", sagt De Ruwe. Sein CEO kann dem nur zustimmen: "Ich zahle meinen CIO nicht, damit er nett ist", sagt er. "Ich zahle ihn dafür, unbequem zu sein." Zu schaffen war dies nur mit Linien, die im Vorfeld straffgezogen wurden. Wie der Business-Case-Workflow für SAP-Modifikationen oder die Regel, dass niemand für das System freigeschaltet wird, wenn er nicht die erforderlichen Schulungen absolviert hat.

Nach den wichtigsten Aufgaben der IT gefragt, fokussiert das Nicht-IT-Management mehr auf Effizienz und Effektivität. Der CIO hat eher die Kosten im Blick.
Foto: cio.de

Eine besonders dicke Kröte bekommt die Belegschaft in und um Leverkusen gleich zu Beginn zu schlucken. Zum ersten Mal in der Historie des Traditionskonzerns beginnt ein unternehmensweites Projekt nicht in Deutschland. Amerika machte den Anfang, hierher verlegt BMS die Zentrale für das globale Prozessdesign. Aus zwei guten Gründen: Der Bedarf, einheitliche Prozesse und Systeme zu installieren, war dort besonders groß (der Widerstand entsprechend gering). Außerdem signalisierten die Verantwortlichen mit dieser Entscheidung mehr als deutlich: Der Wille zur Veränderung ist ernst gemeint. "Wir brauchten ein starkes Symbol für den Change", sagt Patrick Thomas. Nicht in Deutschland zu starten war ein solches Symbol.

In Amerika zeigte sich auch gleich, wie sinnvoll es war, jede SAP-Modifikation auf Wirtschaftlichkeit zu checken. Beispiel Lagerhaltung: Die Amerikaner wollten immer einen Container Material auf Lager haben, falls ein Auftrag eingeht. SAP sieht als kleinste Einheit jedoch 40 Container vor. Überzeugt davon, ein spezielles Programm dafür zu benötigen, baten die Kollegen um eine Softwaremodifikation. "Aber Kurt blieb unerbittlich", schmunzelt Thomas. Am Ende änderten die Amerikaner ihren Prozess, nicht das Programm.

RoI unter zwei Jahren

Den Schlussstrich unter Program One zog der Konzern im Januar 2012 mit dem letzten Roll-out in Asien. Das Resultat kann sich sehen lassen: Die Zahl der Abweichungen vom Standard hat sich von mehreren tausend auf nur noch 400 reduziert - inklusive Zoll- und Steueranpassungen. Die Finanzdaten fließen jetzt zu 95 Prozent in ein Buch, vorher waren es maximal 75 Prozent. Die automatisierten Prozesse sparen BMS jährlich rund 50 Millionen Euro. Die externen Ausgaben in Höhe von etwa 80 Millionen Euro werden in weniger als zwei Jahren wieder eingespielt sein.

Aber der Return on Investment sei nur ein Wert von Program One, sagt Patrick Thomas. Noch wichtiger sind ihm zwei weitere Erfolge: "Wenn wir auf Basis schlechter Zahlen falsche Entscheidungen treffen, kann uns das mehr kosten als ein SAP-System", sagt der CEO, der seinen Finanzdaten jetzt viel mehr traut als früher. Und der zweite große Erfolg: "Wir wollten unsere Prozesse globalisieren", strahlt Thomas. "Und wir haben es geschafft, unsere Mitarbeiter zu globalisieren."

Seine letzte Anmerkung zum Thema Digital Transformation fasst der CEO mit einem englischen Bonmot zusammen: "You got to walk the talk", sagt Thomas. Du musst deine Worte in die Tat umsetzen.

Unternehmensdaten der Bayer Material Science

Bayer Material Science ist ein wichtiger Lieferant für die Elektro-, Auto-, Bau- oder Freizeitindustrie. Die hochwertigen Werkstoffe wie Polycarbonat und Polyurethan sowie Systemlösungen finden sich in vielen Alltagsprodukten.

Bayer Material Science

Spezialist für Materialien

Hauptsitz

Leverkusen

Umsatz

10,8 Milliarden Euro (2011)

Mitarbeiter

knapp 15.000 an rund 30 Standorten weltweit

IT-Kennzahlen

CIO

Kurt De Ruwe

IT-Mitarbeiter

180

IT-Budget

150 Millionen Euro