Expertenmeinungen

Im Reality-Check: Die E-Mail stirbt aus

14.05.2012 von Alexander Freimark
Bayer-CIO Daniel Hartert prophezeit der E-Mail die gleiche Zukunft wie der Postkutsche. Erste Anzeichen für ein Aussterben liegen vor. Trotzdem Quatsch, sagen die Wettgegner. Die Unternehmens-Mail werde immer beliebter. Ein Reality-Check.

Spam. Viren. Riesige CC-Verteiler. In der Tat: E-Mail ist dermaßen unpraktisch, dass bereits 2004 der amerikanische IT-Experte Lawrence Lessig öffentlich seinen "E-Mail-Bankrott" erklärte. Er markierte sämtliche Nachrichten in seiner Inbox und löschte sie. Einfach so. Seitdem ist es nicht nur legitim, über das Ende der E-Mail zu spekulieren - für jeden Modernen gehört es zum guten Ton, die Evolution der Kommunikation von der persönlichen, zwischenmenschlichen auf die "soziale" Ebene zu betonen.

Grafik: Status Quo - So viele Mails empfängt ein User täglich.
Foto: cio.de

Sara Radicati, Chefin der US-Marktforschungsfirma Radicati Group, glaubt hingegen nicht an das Ende der E-Mail. Die Expertin für IT-gestützte Kommunikation prognostiziert zumindest bis 2016 einen gegenläufigen Trend (siehe Grafik auf dieser Seite): "Wir gehen davon aus, dass die Zahl der E-Mails in Unternehmen mittelfristig weiter zunimmt." Anders sieht es bei Privatnutzern aus - hier könnte Bayer-CIO Hartert mit seiner Einschätzung recht behalten, denn die E-Mail-Nutzung sinkt Radicati zufolge seit 2010, und es sieht nicht so aus, als könnte sie den Trend wenden. Bei Jugendlichen ist die E-Mail nicht mehr zeitgemäß.

Vor über 40 Jahren verschickte Ray Tomlinson die erste schriftliche Nachricht von Rechner zu Rechner. Heute schwirren mindestens 100 Milliarden E-Briefe pro Tag durch das Internet, pessimistischere Analysten schätzen sogar 247 Milliarden E-Mails, insgesamt waren es 2010 angeblich 107 Billionen E-Mails. Und wenn man alle Nicht-Spam-Mails eines einzigen Tages auf DIN-A4-Papier ausdruckt, ist der Stapel 2159-mal höher als der Mount Everest - etwa. E-Mail ist eine Erfolgsgeschichte, die "Killer-Applikation" des Internets. Wo wären wir heute ohne E-Mail?

Wesentlich weiter, hat sich der IT-Dienstleister Atos gedacht und eine Zero-Mail-Policy eingeführt. Bis Ende 2013 sollen alle E-Mails aus der internen Konzernkommunikation gelöscht sein. Laut Atos-CEO Thierry Breton, der das Thema persönlich angestoßen hat, sind nur 15 Prozent der täglichen Eingangspost nützlich - der Rest belaste die Effizienz. Die Frage ist nur: Welche Mail zählt zu den 15 Prozent? Insgeheim mag Breton viel Zuspruch erhalten haben, stört doch die elektronische Post seit Jahrzehnten unseren geregelten Tagesablauf im Büro durch plötzliches und unerwartetes Erscheinen sowie durch die Verbreitung unnützer Informationen und unverlangt zugeschickter Werbung. Nach einem Urlaub ist es besonders schlimm: Hunderte, gar Tausende Mails forderten uns umgehend Entscheidungen von enormer Tragweite ab.

Ausgerechnet die Berater steigen aus

Winfried Holz Deutschland-Chef von Atos und E-Mail-Aussteiger: "Wenn externe Partner noch per E-Mail kommunizieren wollen, werden wir dies auch können."
Foto: Atos

Winfried Holz, Deutschland-Chef von Atos, hat seine Zero-E-Mail-Schulung schon absolviert, schließlich begann die Umstellung ganz oben im Executive Committee mit seinen über 30 Top-Managern. Der Schritt sei ein gewaltiger "Kulturwandel", sagt Holz, der anfängliche Skepsis einräumt und nun "begeistert" ist angesichts der Möglichkeiten, die ihm die soziale Vernetzung und eine neue Mobility-Strategie bieten können. Und angesichts der Effizienzsteigerung ohne E-Mail, obwohl die bei Atos noch gar nicht gemessen wird.

"Dafür brauchen wir künftig noch KPIs", sagt Holz. Für den Manager ist die Umstellung der internen Kommunikation auch primär keine Frage von eingesparten Cents, sondern des generellen Umdenkens der Mitarbeiter und einer Verhaltensänderung in der Zusammenarbeit. Kann man die E-Mail bis 2021 komplett abschalten? "Das glaube ich schon", sagt Holz, "aber wenn externe Partner dann noch per E-Mail kommunizieren wollen, werden wir dies auch können."

Die E-Mail ist nicht das erste Medium, dessen Nutzen in Zweifel gezogen wurde. Georg Steinhausen, der Pionier der deutschen Briefforschung, konstatierte schon um 1890 in seinem Standardwerk von der "Geschichte des deutschen Briefes" das Ende der Briefkultur. Damals hatten die Postkarte und die Telegrafie ihren Siegeszug angetreten.

Der Sozialphilosoph Theodor W. Adorno bezeichnete den Brief 1962 als "anachronistisch", und eines Tages kam dann auch die Idee des papierlosen Büros auf die Welt. Dagegen wird in der Regel das "Rieplsche Gesetz" angeführt, was eigentlich kein Gesetz, aber immerhin schon 99 Jahre alt ist: "Kommt ein neues Nachrichtenmedium hinzu, sterben die alten Medien nicht aus, sondern sie ändern nur ihre Funktion", erläutert Joachim Höflich, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Erfurt, den Grundsatz.

Die heutige Relevanz von Telegrammen ist in der Tat limitiert, doch hat sich der Bedarf an schneller, asynchroner und schriftlicher Kommunikation nicht geändert, im Gegenteil - "E-Mail, Chat und SMS haben das unterstrichen", sagt der Professor. Zudem treffe man sich immer noch persönlich, schreibe gelegentlich Briefe von Hand und telefoniere. Allerdings: "Bei jedem neuen Medium braucht es eine gewisse Zeit, bis man herausgefunden und festgelegt hat, wann man über welchen Kanal kommuniziert." In dieser Lernphase sei auch die elektronische Post, konstatiert Höflich: "Der Glaube, dass man alle Aufgaben in kürzester Zeit über die E-Mail abwickeln kann, wird nun zurechtgestutzt."

Der Reifeprozess

Professor Joachim Höflich Kommunikations-wissenschaftler, Uni Erfurt: "Der Glaube, dass man alle Aufgaben in kürzester Zeit über die E-Mail abwickeln kann, wird nun zurechtgestutzt."
Foto: Universität Erfurt

Das Telefon hat diesen Schritt schon lange hinter sich - vor dem Ersten Weltkrieg wurden Nachrichten über das Telefon vorgelesen und Gottesdienste übertragen, in halb Europa gab es Theatrophone, in München bis 1930 das Operntelefon. Dann kam das Radio. Das Telefon musste sich eine andere Nische suchen, die, wie sich Jahrzehnte später herausstellte, riesig war. Neue Medien bauen auf alten Medien auf. "Wir müssen lernen, mit einem neuen Medium umzugehen - nicht im technischen, sondern in einem sozialen und kommunikativen Sinn", so der Erfurter Wissenschaftler Höflich.

Zu diesem Reifeprozess gehöre auch, dass man nicht um Mitternacht einen Bekannten anrufe, "um über Nietzsche zu diskutieren". Und bei Mails? Einige Unternehmen haben bislang halbherzige Versuche gewagt: Keine Mails nach 18:00 Uhr, keine Mails an kranke Mitarbeiter, ein Arbeitstag pro Woche ohne Mail.

Nun wird es ernst: Während der IT-Dienstleister Atos lediglich die interne Kommunikation bereinigen will, geht Bayer-CIO Hartert in seiner Wette einen kleinen Schritt weiter und weist der E-Mail 2021 in der generellen Unternehmenskommunikation nur noch eine Nebenrolle zu. Ted Schadler, Principal Analyst bei Forrester Research und Mitautor des Facebook-Ratgebers "Empowered - Die neue Macht der Kunden", hält das für übertrieben: "Die E-Mail wird in Unternehmen sicherlich nicht aussterben." Seiner Meinung nach würden die Vorteile der E-Mail alle Nachteile aufwiegen: "Sie ist allgegenwärtig, hat demnach eine große Reichweite und gewährleistet als universelle Inbox, dass eine Person erreicht werden kann."

Auch Hanns Köhler-Krüner, Research Director bei Gartner Deutschland im Bereich Content, Collaboration & Social, würde kein Geld auf das Ende der E-Mail setzen: "Es ist derzeit nicht realistisch, dass Unternehmen sowohl die interne als auch die externe Kommunikation vollständig ohne E-Mails leisten können." Die Experten sind sich darüber hinaus einig in der Einschätzung, dass die E-Mail vor Veränderungen steht. "Das Medium wird durch andere Technologien wie Instant Messaging und soziale Netze ergänzt", prognostiziert Marktforscherin Radicati, und Forrester-Analyst Schadler sieht eine neue Bedeutung der alten Mail: "Präsenzanzeigen, die Integration von Kontakten und Chats, Social Feeds, RSS Feeds und Workflows fließen in die Inbox und nutzen ihre Allgemeingültigkeit - die Inbox erhält soziale Features und gewinnt an Wert."

Die Kommunikation

Ulrich Kampffmeyer DMS-Urgestein: "Irgendwo muss es eine Stelle geben, an der die Informationen auf sinnvolle Art für den Mitarbeiter zusammenlaufen."
Foto: DMS

Auch Ulrich Kampffmeyer, Pionier des Dokumenten-Managements, sieht eine große Herausforderung darin, die neuen, zersplitterten Kommunikationskanäle zusammenzuführen: "E-Mail wird nur noch ein Medium unter vielen sein, und Unternehmen brauchen dringend einen einheitlichen, konsolidierten Posteingang." Kommunikation über Apps, über Aggregatoren, über Direktnachrichten etwa bei Xing, über Support-Portale - gerade im B2C-Bereich und im Handel wehren sich viele Firmen vehement gegen die Kontaktaufnahme mittels einer E-Mail. Hinzu kommen Sonderformen wie DE-Mail oder der E-Postbrief. "Irgendwo muss es eine Stelle geben, an der die Informationen auf sinnvolle Art für den Mitarbeiter zusammenlaufen", fordert Kampffmeyer. "Niemand hat bis jetzt eine Vision gezeigt, wie das komplett ohne E-Mail funktionieren kann", ergänzt Gartner-Experte Köhler-Krüner.

Dass intern effizienter ohne E-Mail kommuniziert werden kann, davon ist DMS-Experte Kampffmeyer überzeugt. Genau 20 Jahre nach der Gründung seiner Beratungsgesellschaft stellt er Mitte 2012 die internen Mails ab. "Es gibt heute schon diverse Möglichkeiten, die Kommunikation umzustellen", sagt der Berater. Die entscheidende Frage jedoch sei, wie weit die großen Social Networks in die Unternehmen eindringen können, etwa als Software-as-a-Service (SaaS). An der Stelle werde sich entscheiden, wie E-Mail künftig im Unternehmen genutzt wird. "In der jetzigen Form", prognostiziert Kampffmeyer, "stirbt die E-Mail bis 2021 auf jeden Fall."

Die Wette - E-Mails so häufig wie Postkutschen

"Ich wette, dass in zehn Jahren ein Großteil der Unternehmen E-Mails als Kommunikationsmedium verbannt haben wird. Kommunikation wird neue Technologien nutzen, etwa Wikis, Chats, Communities, Blogs, Foren und Videokonferenzen.“

Daniel Hartert, CIO bei Bayer
Foto: Bayer

Hartert gründet seine Wette auf den technischen Fortschritt, hier der "digitalen Revolution". Durch diese verändere sich die Kommunikation – zwar im Augenblick nicht sichtbar, aber kontinuierlich und unaufhaltsam. Die These des CIOs: „Bereits in zehn Jahren (2021) wird in einem Großteil der Unternehmen die Kommunikation völlig anders aussehen." Heute kaum vorstellbar, werde die E-Mail nur noch eine Nebenrolle spielen.

Laut Hartert will Bayer die Arbeitsumgebung aller Büroarbeitsplätze im Unternehmen auf eine neue Qualitätsstufe heben: Mit dem Programm „Personalized WorkPlace“ (PWP) werden neue Technologien eingeführt, darunter mehrere auf den Business-Bereich zugeschnittene Social-Media-Elemente. Bis Ende 2012 sollen alle 109.000 Computeranwender mit der neuen interaktiven Umgebung arbeiten. Sein Plädoyer für den Wandel: „Wir sollten ohne Scheuklappen die Ideen aufgreifen. Soziale Medien mit echtem Nutzen werden sich dann durchsetzen und die E-Mail als heute noch führendes Kommunikationsinstrument ablösen."