Digitalisierung

In 7 Schritten zum digitalen Wandel

12.11.2015 von Michael Krebs
Unternehmen aller Branchen wollen beim digitalen Aufbruch dabei sein und profitieren. Aber wie lassen sich die Chancen der Digitalisierung identifizieren? Und wie gelingt die Umsetzung der Projekte oder gar der Umbau des Unternehmens?
  • Wer Digitalisierungsprojekte angehen will, sollte technische Fragestellungen vorerst zurückstellen
  • Zuerst geht es um Use Cases: Wie kann der Kunde nachweislich besser und effizienter bedient werden?
  • Warum IoT-Projekte kein Hexenwerk sind

Die erste Herausforderung besteht darin, konkrete Punkte zu identifizieren, an denen Kunden einen Mehrwert erhalten können, indem die Offline- und die Online-Welt besser vernetzt werden. Dazu drei Beispiele aus verschiedenen Branchen:

Die Digitalisierung in Banken leidet unter dem Konservativismus der Branche.

Online-Kontoeröffnung: In Banken ist es unmöglich, online innerhalb von wenigen Minuten ein Bankkonto zu eröffnen. Durchgesetzt hat sich stattdessen das Postident-Verfahren, in dem Kunden einen Brief erhalten und sich in einer der immer dünner gesäten Postfilialen ausweisen müssen, bevor sie zur Tat schreiten können. Das muss nicht mehr so sein. Innovative Ansätze setzen auf eine Authentifizierung mittels mobiler Endgeräte oder darauf, dass Kunden ihren Ausweis in die PC- oder Handy-Kamera halten.

Kleiderkauf: Wer hat nicht schon hoffnungsvoll Regalreihen nach attraktiven Kleidungsstücken durchforstet, nur um festzustellen, dass sie nicht in der passenden Größe oder gewünschten Farbe vorliegen? Bislang war an diesem Punkt Schluss: Man wählte ein anderes Kleidungsstück oder verließ den Laden unverrichteter Dinge. Was läge aus Kundensicht näher, als den Barcode einer Hose zu scannen und sich diese in der richtigen Größe zuschicken zu lassen? Und welches Umsatzpotenzial würde sich daraus für Ladengeschäfte ergeben? Bislang hat jedoch kaum ein Retailer einen Prozess etabliert, um nicht-vorrätige Produkt nachzusenden. Online- und Shops sind online und offline nicht wirklich vernetzt.

E-Government im Landesvergleich: Deutschland ist in Sachen Behörden-IT nicht gerade die Speerspitze der Innovation.

Behördengang: Bürger müssen in der Regel noch für einfachste Verwaltungstätigkeiten persönlich zum Amt gehen, das meist eingeschränkte Öffnungszeiten hat. Dort gilt es dann, eine Nummer zu ziehen. Technisch gesehen könnten Behörden hinsichtlich Parkausweisen, Wohnsitz-Ummeldungen, Beantragung von Dokumenten und ähnlichen Standardprozessen heute längst viel mehr Services online anbieten (hier mehr zu den Schwächen im Bereich E-Government).

Ideen, nicht Technik

Die Beispiele zeigen, dass es bei der Digitalisierung nicht primär um Technik, sondern um Ideen geht. Wie gelingt es, das eigene Geschäft von ineffizienten Offline-Prozessen, Medienbrüchen und unnötiger Warterei für den Kunden zu befreien. Es geht darum, klassische Geschäftsmodelle mit den Vorteilen mobiler Apps und Webanwendungen zu bereichern.

Unternehmen wollen vor allem im digitalen Marketing und in den Kundenprozessen vorankommen.
Foto: Crisp Research

IT-Abteilungen und IT-Dienstleister haben ihre Existenzberechtigung heute darin, die Wünsche des Business zu erfüllen. Fast alles, was man sich als End-to-End-Prozesse online vorstellen kann, ist prinzipiell auch machbar. Hilfreich ist es daher, in Projektschritten zu denken: In sieben Schritten ist es jedem Unternehmen möglich herauszufinden, wie es die Potenziale der Digitalisierung für sich nutzen kann:

1. Schritt: Workshop

Unternehmen sollten als Erstes einen Workshop zu den Chancen des digitalen Wandels für die eigene Firma einberufen. Hier geht es, darum das Potenzial zu identifizieren, zum Beispiel anhand von Fragen wie:

Am Tisch sollten die Geschäftsführung, die IT-Abteilung, vor allem aber die Verantwortlichen der Fachbereiche sitzen. Sie kennen die Bedürfnisse von Kunden und Mitarbeitern am besten und legen in diesen Gesprächsrunden oft die Finger in die Wunde. Impulse können möglicherweise auch IT-Dienstleister für Bereiche wie Consumer Experience, Managed Services, Infrastruktur, Prozesse, Middleware und Applikationen liefern. Möglicherweise haben sie schon Erfahrung mit Digitalisierungsprojekten und können den Workshop moderieren.

2. Schritt: Definition von Anwendungsfällen

Im Rahmen des Workshops identifizieren Unternehmen konkrete Anwendungsfälle (Use Cases): Wo kann Digitalisierung das Unternehmen voranbringen? Die Szenarien können interne Prozesse betreffen wie zum Beispiel eine vereinfachte elektronische Datenerfassung oder die Datenintegration zweier Unternehmenssoftware-Umgebungen. Häufiger werden die Use Cases aber den Kunden im Fokus haben. Wie lässt sich der Kundenservice verbessern? Kann ein Produkt durch Vernetzung und Datenaustausch digitalisiert werden? Was wäre der Nutzen? Der wichtigste und zugleich schwierigste Teil der Digitalisierung ist die Entwicklung solcher Ziele. Das kreative Nachdenken über Use Cases muss daher ungestört von Fragen der Umsetzung und der verwendeten Technologien bleiben.

3. Schritt: Priorisierung

In einem gut geführten Digitalisierungs-Workshop entstehen meist fünf bis sechs Anwendungsszenarien, mit denen das Unternehmen seine Geschäftstätigkeit weiterentwickeln kann. Diese gilt es im nächsten Schritt zu priorisieren. Hier sollten die Techniker am Tisch helfen, den zu erwartenden Aufwand richtig einzuschätzen. Kriterien für die Priorisierung sind die Fragen: Wo ist der Nutzen am größten und sichersten? Wo ist der Aufwand am geringsten und kalkulierbarsten?

4. Schritt: Realisierung von erfolgsversprechenden Kurzprojekten

Im Zuge dieser Priorisierung kristallisieren sich die Use Cases heraus, die das Unternehmen vergleichsweise einfach und schnell testen kann. Typisch ist etwa die Einführung mobiler Technologien: Unternehmen schaffen Tablets oder Mobiltelefone an oder rüsten sie so nach, dass sie die Kommunikation mit dem Kunden vereinfachen, die Datenerfassung beschleunigen oder helfen, die Leerlaufzeiten in Prozessketten reduzieren. Zum Beispiel wird ein Außendienst flexibler und schneller, wenn er unterwegs besseren Zugriff auf Dokumente erhält oder Kundenverträge ausdrucken kann. Tablets für die Mitarbeiter am Point of Sale können für bessere Beratung oder eine Vernetzung mit dem Online-Shop dienen.

Andere klassische "Quick wins" lassen sich mit dem Internet of Things (IoT) realisieren, das technisch oft näher liegt, als vielfach gedacht wird. Nicht selten geht es einfach nur darum, Daten, die bestimmte Maschinen oder Geräte ohnehin zur Verfügung stellen, auch zu nutzen. Oder man fügt den selbst hergestellten Produkten Sensoren oder Schnittstellen hinzu, um die Wartung zu vereinfachen oder den Kundenservice zu verbessern. Dann erhält der Kunde ein Ersatzteil oder Akku, bevor das noch eingesetzte seinen Dienst quittiert.

Auch Cloud-Technologien lassen sich in solchen Projekte meist erstaunlich schnell testen und einsetzen. Es ist ein unschätzbarer Vorteil, dass man heute für ein Pilotprojekt nicht von vornherein teure Hard- und Software kaufen muss, sondern erst einmal mit einer Cloud-Lösung herausfinden kann, ob das Vorhaben die Erwartungen erfüllt. Die Quick Wins dienen meist der Beschleunigung oder der Automatisierung eines bereits bestehenden Prozesses.

5. Schritt: Interne Vermarktung der Erfolge

Die ersten Erfolge sind im besten Fall ein interner Weckruf: Wenn das so einfach ist, warum haben wir es dann nicht schon viel früher gemacht? Was gibt es noch für Ideen? Es ist wichtig, dass Fachbereichsleiter die erzielten Fortschritte intern erklären und bei allen Mitarbeitern dafür werben, das eigene Unternehmen weiter digital umzubauen.

6. Schritt: Realisierung grundlegender Projekte

Zielen die ersten Kurzprojekte noch eher auf Effizienz ab, kann ein Unternehmen, das bereits einen Schritt weiter ist, Projekte angehen, die seine Durchschlagskraft am Markt verbessern. Erst hier sprechen wir von digitaler Transformation im eigentlichen Sinne. Hier geht es um die Transformation des Geschäftsmodells und das Schaffen neuer, lukrativerer Wertschöpfungsketten. Oft bedeutet das, Offline- und Online-Angebote stark zu vernetzen. Durch eine nahtlose Kundenerfahrung über alle Kanäle hinweg gilt es, mehr Umsatz zu erzielen.

Für Banken könnte das zum Beispiel die Authentifizierung der Kunden mithilfe eines elektronischen Personalausweises bedeuten oder die Einführung eines Kontos, das komplett auf die Nutzung durch Mobilgeräte abgestimmt ist. In Ladengeschäften könnte eine App eingeführt werden, die das Einkaufserlebnis vor Ort mit dem Online-Handel verbindet oder die den Kunden vom ausgewählten Hemd zur dazu passenden Hose führt. In Behörden könnte das bedeuten, nicht mehr die bestehenden Formulare eins zu eins ins Netz zu stellen, sondern die Prozesse verständlich und nutzerfreundlich zu gestalten, zu personalisieren und Ausfüllhilfen bereitzustellen. Im herstellenden Gewerbe könnte es die Ausstattung von Produkten mit geeigneten Sensoren sein, die helfen, die Lebensdauer zu verlängern.

7. Schritt: IT der zwei Geschwindigkeiten

Solche grundlegenden Projekte zur digitalen Transformation stehen unter Zeitdruck. Jahrelange Großbaustellen sind inakzeptabel. Die geeignete Form sind "Transformation Sprints" innerhalb eines größeren Rahmens. Unternehmen erhalten so regelmäßig produktiv nutzbare Entwicklungsergebnisse und neue Funktionen.

Die meisten Unternehmen sehen in der Digitalisierung in erster Linie eine neue Ära der Bereitstellung von Diensten und Apps.
Foto: CEMA/Crisp Research AG

Digitalisierung ist kein einmaliger Wandel, der zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen ist, sondern ein ständiger Veränderungsprozess. Industrie und Services werden immer weiter von der Digitalisierung durchdrungen werden. Neue Technologien bieten innovativen Unternehmen immer neue Möglichkeiten, ihre Dienstleistungen und Produkte zu verbessern oder weiter zu personalisieren.

Unternehmen, die sich auf die Digitalisierung als andauernde Herausforderung einlassen, werden sich daher für eine "IT der zwei Geschwindigkeiten" entscheiden. Das heißt, sie trennen organisatorisch und weitgehend auch technisch den Bereich der langfristigen Entwicklung der IT-Infrastruktur und der geschäftskritischen IT-Systeme von den innovativen, schnelllebigen Anwendungen.

Während sich der eine Teil der IT-Abteilung im gewohnten Tempo weiterentwickelt, Projekte nach dem Wasserfall-Modell vorantreibt und sich um Architekturen, Sicherheit und Grundlagen kümmert, beschäftigt sich eine zweite Abteilung separat mit den agilen Anwendungen. Dort geht es darum, schnell und Business-getrieben zu entwickeln, um Geschäftschancen durch mobile Lösungen, IoT und Digitalisierung zeitnah zu nutzen.

Die Komplexität in den Griff bekommen

Der oft vorherrschende Respekt vor dem digitalen Wandel ist unbegründet. Jedes Unternehmen sollte hier mehr Phantasie wagen. Wahr ist allerdings auch: Gerade da, wo im Vordergrund, zum Beispiel auf der Nutzeroberfläche einer App, alles einfach und intuitiv aussieht, ist im Hintergrund oft eine hohe Komplexität vorhanden. Unterschiedlichste Systeme und Anwendungen müssen reibungslos zusammenarbeiten, damit der Zusatznutzen entsteht.

Die gängige Abwicklung von IT-Projekten mit einem einzelnen IT-Dienstleister kommt da schnell an ihre Grenzen. Selbst die größten und renommiertesten Systemhäuser können nicht alle Herausforderungen hinsichtlich so verschiedener Bereiche wie Hardware, Datenbanken, Integration und Middleware, Individualsoftware oder Standardanwendungen in der nötigen Tiefe meistern. Im Rahmen der digitalen Transformation ist also die Zusammenarbeit von Spezialisten erforderlich. Ein Trupp aus gezielt ausgewählten Schnellbooten wird das Ziel schneller erreichen als ein Riesentanker.

Woran erkennt man die richtigen Dienstleister für das eigene Unternehmen? Ein Aspekt ist sicherlich das eigene IT-Ökosystem: Wer zum Beispiel auf Oracle, SAP oder Microsoft festgelegt ist, braucht Dienstleister mit entsprechenden Kenntnissen. Dennoch sollte man sich einen Ansprechpartner suchen, der alle Themen übersehen und das gesamte Projektteam koordinieren kann. Ein gutes Zeichen ist es, wenn die beteiligten Dienstleister schon eingespielt sind und auch für andere Kunden zusammenarbeiten und gemeinsame Lösungen anbieten. Die Dienstleister sollten zudem eine offene Preispolitik verfolgen und die Übernahme überschaubarer Arbeitspakete akzeptieren. Für Anbieter, die es auf ein jahrelanges Großprojekt abgesehen haben, wird die Luft damit dünner.

Auch in der Umsetzungs- und Entwicklungsphase gilt sowohl für den Auftraggeber als auch für den Digitalisierungsdienstleister: Entscheidend ist die Zielvorgabe! Es geht immer um die Anwendungsszenarien und die Ideen, die man gemeinsam verwirklichen will. Kein Geschäftsführer oder Abteilungsleiter wird einfach Budget für Digitalisierung freigeben. Das ist zu abstrakt. Wer sein Unternehmen fit für die Zukunft machen will, sollte zuletzt über Technik sprechen. Zuerst muss es um handfeste Anwendungsfälle gehen. Dann kommt der Wandel fast von alleine. Und schneller als man denkt.