Hersteller- und Plattformunabhängig

Industrie- und Handelskammern mit SOA-Lösung

23.07.2008 von Riem Sarsam
Ein Mammut-Projekt mit allem, was dazu gehört: Open-Source, J2EE, .Net, Web-Services, Offshore-Entwicklung und Zentralisierung. Weil es kein Standardsystem gab, hat die IHK Gesellschaft für Informationsverarbeitung eine eigene Komplettlösung für sämtliche Geschäftsprozesse einer IHK etabliert. Das System läuft in 56 Kammern mit rund 6000 Anwendern und erfüllt die SAGA-Richtlinien für E-Government.

Hinter dem schlichten Namen EVA (= erweiterte Verwaltungsanwendung) verbirgt sich eine Produktsuite mit serviceorientierter IT-Infrastruktur, die bundesweit 56 von 80 Industrie- und Handelskammern sowie 40 Delegationen und Repräsentanzen der Deutschen Wirtschaft im Ausland bei ihren Kernprozessen unterstützt. Gestartet im Jahr 2000, konnte die Migration im Februar dieses Jahres abgeschlossen werden. Damit löst EVA lange Jahre genutzte Host-Systeme sowie lokal installierte Anwendungen ab.

Die vier Kernmodule der Branchenlösung - "Firmendaten", "Beitrag", "Beruf" und "Rechnungswesen" - unterstützen die IHK-Mitarbeiter bei ihren beratenden und verwaltenden Tätigkeiten. Über das WAN der Dortmunder IHK Gesellschaft für Informationsverarbeitung (IHK-GfI) stehen die Daten für alle Kundenkontakte online bereit. Mitgliedsbeiträge können tagesaktuell berechnet werden, Ausbildungsverhältnisse lassen sich prozessorientiert managen.

In alle Vorgänge ist ein .Net-basiertes Standard-Rechnungswesen integriert und gibt Auskunft über die betriebswirtschaftlich relevanten Kennzahlen. Und die weltweit ansässigen Delegationen und Repräsentanzen der Deutschen Wirtschaft brauchen vor Ort nur noch einen Web-Browser, der sie via Internet auf die Anwendung in Dortmund zugreifen lässt.

Da für IHK-typische Prozesse wie Beitragsberechnung oder Ausbildungsmanagement keine Standardlösung existierte, stand die IHK-GfI im Jahr 2000 vor der Herausforderung aber auch Chance, ein komplett neues System zu entwickeln. Oberste Maxime war für die Verantwortlichen die Unabhängigkeit von einzelnen System- und Anwendungslieferanten.

EVA wurde stufenweise und in überschaubaren Einheiten entwickelt. Zunächst wurde jedes Modul im engen Austausch mit repräsentativ ausgewählten Pilot-Kunden in einer Standard-Version konzipiert und erstellt. Kriterium für die Auswahl der IHKs der Startphase war deren Anzahl der Mitarbeiter und Ausbildungsverträge sowie ihr Mustercharakter für die nachfolgenden Kammern.

Axel Opava, EVA-Projektleiter bei der IHK-GfI und Verbindungsmann zu den IHKs: "Im ersten Migrationsjahr sammelten wir mit unseren Kunden die für die Zukunft erforderlichen Erfahrungen aus kleinen, mittleren und großen IHKs. Die damit gewonnene Prozesssicherheit ermöglichte es, die Standardmigration der einzelnen Module zunehmend schneller und enger getaktet durchzuführen."

Der Erfolg dieses Vorgehens hing auch von der Vorbereitung jeder einzelnen Kammer ab. Da die Migration bereits weit vor der eigentlichen Datenumstellung begann, waren sie gefordert, ihre zu migrierenden Daten im Altsystem so früh wie möglich zu bereinigen. Eine wesentliche Voraussetzung für die aktuelle Qualität der Daten in EVA. "Ohne den herausragenden Einsatz der IHK-Mitarbeiter wäre dieses Großprojekt nicht möglich gewesen", würdigt Opava das Engagement auf Seiten der Kunden.

Bei der Softwareentwicklung schlugen sich deren Anforderungen zunächst in der Konzentration auf grundlegende Funktionen nieder. "Darüber hinausgehende Anforderungen, die in einem standardisierten Change-Request-Verfahren an uns gerichtet wurden, realisierten wir in den folgenden Projektstufen", erklärt Entwicklungsleiter Oliver Marohn das Vorgehen. Dank dieser Strategie ließ sich EVA stetig weiterentwickeln und rasch an die sich wandelnden Anforderungen der IHKs anpassen. Aktuell umfasst der Sourcecode der Anwendung rund 1,6 Millionen Zeilen Code - inklusive der Kommentarzeilen sind es rund 3,5 Millionen Zeilen - die sich auf 10500 Klassen verteilen.

Zur Komplettierung der Anwendung um ein kaufmännisches Rechnungswesen fiel die Entscheidung für eine Standardsoftware. Ein wesentliches Kriterium war der Integrationsgrad in EVA. Herkömmliche Dateischnittstellen kamen schon wegen des Datenvolumens und des extremen Stoßgeschäftes bei Massenverarbeitungsläufen nicht in Frage. So müssen etwa jedes Frühjahr in sehr kurzer Zeit drei Millionen IHK-Mitgliedsbeiträge im Rechnungswesen als offener Posten (OP) gebucht werden. "Man kann solche Datenmengen nicht über Schnittstellen in andere Anwendungen übermitteln, wenn man ein schnelles und transaktionssicheres Verfahren haben will", erklärt Projektleiter Opava.

IHK-Engagement für den Nachwuchs: Auf einer Jobmesse lassen sich Jugendliche erklären, was sie in der Ausbildung lernen.

Ausgewählt wurde das auf der Microsoft .Net-Technologie basierende Rechnungswesen Diamant / 3 des Herstellers Diamant Software in Bielefeld. Damit stieg man zwar in eine völlig andere Software-Welt ein, blieb dennoch unabhängig von Herstellern und Plattformen. "Für uns war es wichtig, Erfahrungen mit der Java-.Net-Integration zu sammeln, denn die Microsoft-Welt kann man nicht ignorieren", so Opava. "Künftig steht uns auch Microsoft als Plattform-Option offen."

Der Dienstleister integrierte EVA und Diamant mithilfe von Webservices und schuf damit eine Möglichkeit, das Rechnungswesen ohne Dateischnittstellen als EVA-Modul zu integrieren sowie systemübergreifende Echtzeitverarbeitung und Plausibilitätskontrollen umzusetzen. EVA-Anwendungen rufen Webservices von Diamant auf, umgekehrt holt sich Diamant aus EVA Adressen, die sie selbst nicht führt. Die Daten müssen somit nicht redundant angelegt, gepflegt oder in Batchläufen abgeglichen werden und: die bestehende Adress-Datenbank konnte beibehalten werden.

Auch aus Sicht der Anwender hat die Webservice-Integration ihre Vorteile: Jeder Arbeitsplatz erlaubt eine einheitliche Sicht auf alle Geschäftsvorfälle. Die IHK-Mitarbeiter können einem Mitglied bereichsübergreifend Auskunft erteilen ohne in eine andere Anwendung zu wechseln.

Um auch das CRM "SERVICEPoint" planmäßig an EVA anzubinden, lagerte die IHK-GfI erstmals einen Teil der Entwicklungsarbeiten nach Indien aus. Binnen vier Monaten wurden dort 15 komplexe Anwendungsfälle mit rund 40 Masken entwickelt und angepasst. Die komplette Migration des Datenzugriffs im Altsystem auf EVA erfolgte via Webservice. "Das Ergebnis dieser Deutsch-Indischen Projekt-Premiere kann sich sehen lassen: Das Projektziel wurde erreicht - Offshoring im Mittelstand funktioniert", resümiert Matthias Ritter, Geschäftsführer der IHK-GfI.

Zentrum der IHK-IT: Bei der IHK-GfI in Dortmundd laufen die Fäden für EVA zusammen.

Beendet ist die Arbeit damit noch immer nicht. Die Verantwortlichen machen sich nun daran, die externe Kommunikation mit Dritten vorzubereiten. Die Öffnung mittels Services ist vorbereitet, zudem entspricht EVA den vom Bundesinnenministerium definierten Kriterien des E-Government-Standards "SAGA" (Standards und Architekturen für E-Government-Anwendungen). Damit stellt der Bund sicher, dass E-Government-Anwendungen interoperabel, plattformunabhängig und, investitionssicher sind und insofern eine Grundlage für den reibungslosen Datenfluss im deutschen E-Government bilden.

In Dortmund wird nun für die Industrie- und Handelskammern eine E-Government-Architektur errichtet, die einen rechtssicheren Datenaustausch mit dritten Institutionen erlaubt. Ziel ist die vollautomatische Kommunikation über das Internet etwa zwischen Registergerichten oder Gewerbeämtern auf Basis einheitlicher Austauschformate und Infrastrukturen. Die Chancen, dass dies gelingen kann, stehen nicht schlecht: In ersten E-Government-Lösungen hat sich die EVA-Architektur bereits bewährt.