Digital Dexterity

IT-Organisationen und Änderungsdruck

29.02.2016 von Werner Kurzlechner
"Digital Dexterity ist die Fähigkeit, sich rasch an Veränderungen anzupassen", definiert Capgemini. Diese Fähigkeit sei für die digitale Transformation genauso wichtig wie technologisches Know-how.
  • Historische Analogie zur Elektrizität: Organisation ebenso wichtig wie Technik
  • Nur 7 Prozent der Firmen sind auf der höchsten Stufe angekommen
  • Digitalisierte Praktiken und Schulung sind wichtige Instrumente
  • Collaboration-Tools und der verstärkte Einsatz von Echtzeit-Daten empfehlen sich
Inhaltlich beinhaltet der Weg hin zu einer digitalen Organisation laut Capgemini vier Ebenen. Die Grafik zeigt diese.
Foto: Capgemini Consulting

Kunst kommt von Können, sagt man. Diese alte Regel gilt auch für die Digitalisierung, wie Capgemini Consulting meint. Eine Studie der Berater betont unter anderem, dass Unternehmen für den digitalen Erfolg entsprechende Fertigkeiten mitbringen müssen - und zwar auf zweierlei Ebenen. Um das richtig zu verstehen, muss man aber zunächst in sprachliche Übersetzungs-Tiefen tauchen. Für CIOs gibt es dabei ein neues Schlagwort zu lernen: "Digital Dexterity".

Technologische Fertigkeiten, hohe Anpassungsfähigkeit

Digitalisierung muss man also können, sagt Capgemini. Und das meint zweierlei. Die englischsprachige Studie nennt als Pole "Digital Capability" und eben "Digital Dexterity". Ins Deutsche lassen sich beide Begriffe mit "Fertigkeit" übersetzen, und doch meinen die Berater zwei unterschiedliche Dinge. Zur besseren Unterscheidung empfiehlt sich für "dexterity" die alternative Übersetzung mit "Geschicklichkeit" oder "Gewandtheit". Es geht um einen gewandten Umgang mit den digitalen Technologien, während der CIOs vertrautere Begriff der "capability" ihre praktische Beherrschung im Sinn hat.

Roundtable: Was Digitalisierung für Mitarbeiter bedeutet
Was ändert sich durch die Digitalisierung für die Mitarbeiter?
Antworten suchten diese IT-Chefs in einer Diskussion mit COMPUTERWOCHE-Redakteuren. Unser Bild zeigt von links: Hans Königes (CW), Edgar Kirchmann von Transearch, Dieter Loewe von NTT Data, Daniel Krauss von Flixbus, Axel Kummer von Metafinanz, Frank Engelhardt von Salesforce.com, Jürgen Renfer von der KUVB und Alexandra Mesmer (CW).
Axel Kummer, Metafinanz
„Wir müssen neu denken, ausgehend von den Geschäftsprozessen und den Endkunden. Dafür setzen wir auf kreative Köpfe, die auch aus anderen Branchen als der IT kommen.“
Daniel Krauss, Flixbus
„Unsere größte Herausforderung ist es, mit permanentem Change und der damit einhergehenden Unsicherheit zurechtzukommen.“
Dieter Loewe, NTT DATA
„Wir brauchen eine Arbeitskultur, in der Mitarbeiter ein Privatleben haben dürfen und nicht immer erreichbar sind.“
Edgar Kirchmann, Transearch
„Wer ­Digitalisierung ernst nimmt, braucht mehr als einen neuen Posten wie den Chief Digital Officer. Topmanagement wie Führungskräfte müssen das Thema ­treiben und vorleben.“
Jürgen Renfer, KVUB
„Digitale Veränderungen sind derart disruptiv, dass wohl niemand genau weiß, wo die Reise ­endet. Der CIO ist als Lotse gefordert.“
Frank Engelhardt, Salesforce.com
„Es motiviert die Mitarbeiter, wenn sie eine reelle oder auch gefühlte Autonomie ­haben.“

"Digital Capability bedeutet den Einsatz digitaler Technologie, um das Kundenerlebnis, die internen Abläufe oder das Engagement der Mitarbeiter zu verbessern", definiert Capgemini. Gemeint sind damit eher technologische Fertigkeiten, die beispielsweise nötig sind, um Services via mobile Apps bereitzustellen. Laut Studie nutzen etwa 36 Prozent der Firmen digitale Technologien, um Zusammenarbeit über organisatorische Grenzen hinweg zu ermöglichen. 31 Prozent der Unternehmen standardisieren nach eigenen Angaben mit Hilfe von digitaler Technologie ihren Betrieb. Wer das kann, kann immerhin etwas mit der Digitalisierung anfangen, ohne aber schon die ganze Kunst zu beherrschen.

Abteilungen können sich schnell neu ausrichten

"Digital Dexterity ist die Fähigkeit, sich rasch an Veränderungen anzupassen", definiert Capgemini weiter: Anpassung an Veränderungen durch neue Technologien, veränderte Kundenerwartungen, Branchenverschiebungen und intern getriebene Ressourcenallokationen. Firmen mit einem ausgeprägten Gewandtheits-Niveau verfügen laut Studie über eine bemerkenswerte Flexibilität hinsichtlich ihrer organisatorischen Designs. Je nach aktueller Marktlage können sich die Abteilungen rasch neu ausrichten, und sie tun das nach Einschätzung von Capgemini in enger Zusammenarbeit mit ihren technologischen Partnern und Anbietern.

Fertigkeit und Gewandtheit
Bär und Hündchen
Diese Bild wählte Capgemini als Cover der Studie. Der Bär steht symbolisch für die "Digital Capability", die grundlegenden technischen Digitalisierungs-Skills. Das Hündchen veranschaulicht, dass dieses starke Fundament nicht ausreicht. Es braucht flexible Gewandtheit - "Digital Dexterity".
Beispiel aus Industriegeschichte
Die Grafik zeigt: Nicht die Einführung von Elektrizität sorgte für einen Produktivitätsschub. Der erfolgte erst mit organisatorischen Veränderungen.
Die Vorteile der Gewandten
Unternehmen, die beide Digitalisierungsebenen beherrschen, stellen ihre Wettbewerber in diversen Bereichen in den Schatten. Die Grafik zeigt, wo und in welchem Maße.
Der signifikante Unterschied
"Dexterity" und "Capability" lassen sich bei mit "Fertigkeit" ins Deutsche übersetzen. Das würde den Unterschied aber unzulässig nivellieren. Capgemini definiert hier kurz, was beide Begriffe bedeuten.
Spürnase für Fachkräfte
Das Bild des Hundes als Symbol für "Dexterity" greift auch hier. Firmen, die hier gut aufgestellt, finden leichter Experten als andere. Und sie entdecken Trends früher.

Die Berater betonen in ihrer Studie die zentrale Bedeutung der Digital Dexterity. Sie bemühen dafür einen historischen Vergleich. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde in den Fabriken Dampfkraft durch Elektrizität ersetzt - ein technologischer Wandel also. Zum bedeutenden Schub bei der Arbeitsproduktivität kam es aber erst ab 1915, als tatsächlich einzelne Maschinen und Maschinengruppen eigene Elektromotoren bekamen und nicht mehr eine ganze Anlage zentral mit Energie versorgt wurde. Es bedurfte also eine Reorganisation, um zum Durchbruch zu gelangen.

Die Vorteile für Unternehmen

"Digital Dexterity erlaubt es Firmen im Vergleich mit ihren Wettbewerbern sehr viel schneller, Chancen zu nutzen und auf Disruptionen und Veränderungen zu reagieren", heißt es in der Studie. Diese Wettbewerbsvorteile lassen sich konkretisieren: 80 Prozent der gewandten Unternehmen fällt es leicht, Partnerschaften zu etablieren. Jeweils 73 Prozent empfinden es als leicht, benötigte Fachkräfte zu finden und auf individuelle Kundenbedürfnisse einzugehen. Zwei Drittel entdecken nach eigenen Angaben mühelos neue Trends, zwei Fünftel organisieren sich mit Leichtigkeit schnell selbst. Im Durchschnitt aller Firmen liegen diese Werte bei höchstens 17 Prozent. Die Wettbewerbsvorteile erscheinen also immens.

Gleichwohl beziffert Capgemini den Anteil der Unternehmen mit hoher digitaler Dexterity auf lediglich 7 Prozent. Diese Firmen seien "Self-Reinforcing", mithin hochgradig flexible digitale Organisationen, die sich schnell selbst neu aufstellen können. 21 Prozent der Unternehmen verorten die Berater in einer fortgeschrittenen Phase auf den Weg dorthin, 56 Prozent zumindest in einer Anfangsphase. 16 Prozent der Firmen hinkten hinterher und litten unter ausgeprägter Inflexibilität.

Vier Ebenen des Erfolgs

Inhaltlich beinhaltet der Weg hin zu einer digitalen Organisation laut Capgemini vier Ebenen. Auf diesen profitiert man letztlich davon, sowohl über "Digital Capabilities" als auch über "Digital Dexterity" zu verfügen. Die vier Ebenen sind:

1. Eine "Digital zuerst"-Haltung: Diese Haltung bedeutet, dass digitale Lösungen stets Priorität genießen und dass digitale Chancen offen ausgelotet werden.

2. Digitalisierte Praktiken: Es wird automatisiert, wenn möglich. Daten-getriebene Entscheidungen sind etabliert. Kollaboratives Lernen und Arbeiten wird unterstützt.

3. Empowered Talent: Ziel ist die Erhöhung des digitalen IQs im Unternehmen. Als Maßnahmen dafür nennt Capgemini die unternehmensweite Entwicklung digitaler Skills und ein erhöhtes Engagement innerhalb und außerhalb des Unternehmens.

4. Data Access & Collaboration Tools: Kernmerkmale sind hierbei die Einführung von Collaboration-Tools und der verstärkte Einsatz von Echtzeit-Daten - sowohl im Kundenbereich als auch im Betrieb.

Im für CIOs selbstredend zentralen Segment der IT-Werkzeuge zeichnet die Studie, für die Capgemini zusammen mit dem MIT Center for Digital Business 274 Führungskräfte aus 28 Ländern befragte, folgenden Befund: 100 Prozent der digitalen Firmen nutzen Echtzeit-Finanzdaten, 90 Prozent haben Zugang zu Integrated Operational Performance. Die Vergleichswerte für alle Firmen liegen lediglich bei 58 beziehungsweise 40 Prozent. 80 Prozent der digitalen Firmen haben Zugang zu Echtzeit-Kundendaten, 70 Prozent zu integrierten End User-Daten. Die Vergleichswerte sind hier 29 und 36 Prozent.

Digitalisierung - der Status quo nach Branchen
Diese Branchen wurden befragt
Zehn vertikale Märkte wurden untersucht.
Strategische Bedeutung
Dass die Digitalisierung zu einem wichtigen Thema wird, wissen die meisten Unternehmen inzwischen.
Investitionen werden eingeplant
Erstaunlich viele Betriebe legen kein Geld für die digitale Transformation zur Seite.
Strategische Steuerung
Entweder die Geschäftsführungen werden tätig oder es gibt Initiativen in den Fachbereichen.
Nachholbedarf beim Change Management
Das Change Management beschränkt sich meist auf einzelne Organisationsbereiche.
Papierdokumente noch im Einsatz
Fast 30 Prozent der Befragten wickeln ihre Geschäfts- und Produktionsprozesse zu mehr als 50 Prozent auf Papier ab.
Medienbrüche bleiben ein Thema
immerhin sagt fast ein Drittel, die Zeit der Medienbrüche sei vorbei.
Mobile Business im Kommen
Mobile Arbeitsprozesse sind in zwei von drei Unternehmen ein Thema.
Das Social Web bleibt Randthema
Im Kommunikationsmix der Unternehmen spielt das Social Web eine Rolle. Sonst weniger.
Digitale Geschäftsmodelle werden wichtiger
Knapp 23 Prozent geben Vollgas in Sachen digitale Geschäftsmodelle.
ITK-Branche mit Vorsprung
Die ITK-Branche ist bei der digitalen Transformation viel weiter fortgeschritten als etwa die Logistiker.

Intel und Lloyds zeigen, wie es geht

Gespickt ist die Capgemini-Studie mit kurzen Fallbeispielen, die den Anwendern erfolgreiche Wege der digitalen Transformation aufzeigen. Im Talent-Bereich wird beispielsweise das Digital IQ-Schulungsprogramm für alle Mitarbeiter von Intel angeführt. Mehr als 20.000 Mitarbeiter absolvierten in den vergangenen Jahren ein derartiges Training. "Diese Art von Lernengagement kann Firmen auch dabei helfen, ihre wichtigsten Begabten im Unternehmen zu halten und eine Wertschätzung für digitale Initiativen aufzubauen", kommentiert Capgemini.

Die Lloyds Banking Group wird als Exempel für digitalisierten Betrieb genannt. Ein vierjähriges Technologie-Programm trieb dort die Automatisierung voran, vormals 700 Prozesse wurden auf lediglich 23 verschlankt. Veraltete Zugänge können die Mitarbeiter jetzt in 3 statt 30 Minuten schließen; für Kunden dauert der Geldtransfer jetzt noch höchstens 24 Stunden statt mehrere Tage. 352 Millionen britische Pfund spare Lloyds dank der Offensive jährlich ein, heißt es in der Studie.

"Schlüsselfaktor für das organisatorische Design"

Im organisatorischen Imperativ, den die Berater als Fazit ihrer Studie formulieren, steht schließlich erneut die Gewandtheit im Mittelpunkt. "Um die eigene Relevanz in einer veränderten Umwelt sicherzustellen, benötigen Organisationen die Agilität, auf Erschütterungen zu antworten oder sogar selbst ihr Kerngeschäft umzuwerfen", schreiben die Studienautoren. "In der unsicheren, volatilen und komplexen Welt von heute ist Digital Dexterity der Schlüsselfaktor für das organisatorische Design."