Alle Macht der Avantgarde

Keine Angst vor Innovationen

31.05.2006 von Karl Ulrich
Um Innovationen in ihrem Unternehmen anzustoßen, müssen Führungskräfte ausgetretene Pfade verlassen. Doch welchen Weg sollen sie einschlagen? Lassen Sie sich von den Avantgarden in Kunst und Literatur inspirieren.

Die Klage über die Schärfe des Wettbewerbs sei in Wirklichkeit nur eine Klage über den Mangel an Einfällen, sagte einmal der deutsche Industrielle und Politiker Walther Rathenau. Der Schumpetersche Unternehmer ist längst zur Ikone geworden. Von Managern ist ständige Innovationsfähigkeit und -bereitschaft gefordert. Dennoch bescheinigte das European Innovation Scoreboard (eine Studie der Europäischen Kommission) den deutschen Unternehmen im Jahr 2005, dass ihnen Innovationsmotoren fehlen, also Menschen, die Innovationen vorantreiben.

Wie kommt das? Innovationsprojekte stehen ganz oben auf der Agenda der meisten Manager. Doch offenbar zeigen sie keine Wirkung.

Wo Effizienzkriterien, Produktivität und Null-Fehler-Toleranz das unternehmerische Handeln prägen, muss die kreative Leistung zwar nicht logisch zwingend leiden - sie tut es aber. Zudem lassen sich Innovationen kaum planen. Über stereotyp angewandte Schemata wie lineare Wirkungsketten von der Invention über Innovation zur Diffusion oder die Kategorisierung in Produkt-, Prozess- und Strukturinnovationen gehen die Konzepte meist nicht hinaus. So fragen sich Manager, was nun echte Umbrüche und was nur Moden sind. Die Neuerer prallen auf die Warner, diese wiederum werden von den Bewahrer-Kritikern gebremst.

Diese Missstände anzuprangern ist freilich leichter, als sie zu beseitigen. Wie können wir Unternehmen dazu bringen, gleichzeitig "outside the box" zu denken und "inside it" zu handeln? Ich möchte dazu anregen, das Problem einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten: der Perspektive der Genese und der Entwicklung von Avantgarden. Sie lehren uns Entwicklungsmuster und Eigenschaften, die in unterschiedlichsten Rahmenbedingungen zu Neuem führen. Sie zeigen, welche Rolle Energie gegen Widerstände spielt, und warum risikobewusstes Handeln von Managern wichtiger ist als minutiös geplante Projekte.

Der Begriff "Avant-Garde" kommt aus dem Militär und bezeichnet die Vorhut, also jene Truppenteile, die in vorderster Reihe stehen und als Erstes mit dem Feind in Berührung kommen. Im übertragenen Sinn sind Avantgarden "Vorreiter". Im modernen Kontext bildet die Avantgarde die Speerspitze des Fortschritts im Kampf gegen die Tradition. Sie versteht sich als Stoßtrupp des Neuen, Unerhörten, nie da Gewesenen, der Freiheit. Avantgarde bricht althergebrachte Regeln und steht für das Neue und Unerwartete, für Aufbruch und Engagement, für Mut und Risiko. Im Folgenden möchte ich die Größenverhältnisse (David und Goliath), die zeitliche Dimension (Vorreiter und Tross), die Wertigkeit (Abweichung und Unabhängigkeit), die Organisation (Tanker und Schnellboote) und die Kommunikationsstruktur (Analyse und Erzählung) von avantgardistischen Prozessen betrachten.

David und Goliath

Ästhetische und gesellschaftliche Avantgarden eilen der Masse weit voraus. Sie sind klein und flexibel wie David, der sich gegenüber dem Koloss Goliath behauptet. Ob in der bildenden Kunst, der Musik, der Mode, der Philosophie oder der Politik: Zu Beginn genügt ein Anstoß, der einzelne Personen oder kleine Gruppen dazu bringt, eine Position jenseits des von ihnen wahrgenommenen Mainstreams einzunehmen. Aus dem Stimulus entsteht eine eigenständige Einheit, ein Kern oder Nukleus, der zunächst so klein, in sich geschlossen bleiben möchte wie nur möglich. Es geht nicht darum, Wirkung zu erzielen, sondern autark zu bleiben. Je hermetischer sich dieser Nukleus jedoch abgrenzt, desto mehr Zulauf hat er in der Regel.

Die Avantgarde entwickelt sich, definiert sich immer klarer, trägt kreative Neuerungen in den eigenen Kosmos hinein und, weil sie Beachtung findet, auch hinaus in die äußere Welt. Aber - Ironie der Entwicklung - mit zunehmender Strahlkraft und Ausbreitung nähert sie sich zwangsläufig einer kritischen Masse, sie wird groß wie ein Goliath. So wird die Avantgarde Opfer ihres eigenen Erfolgs; ihre kreativen Ideen, Konzepte und Umsetzungen werden integriert, ausdifferenziert und schließlich wieder Teil des Mainstreams. Die alte Ordnung hat sich verändert - sie hat sich tatsächlich substanziell erneuert oder die Avantgarde schlicht geschluckt.

Dafür gibt es in der Unternehmenswelt Beispiele - etwa User-Netzwerke als Organisationsform neuartiger Produktentwicklung und -bereitstellung. Ihr Lebenszyklus findet sich analog in der Entstehungsgeschichte der Web-Server-Software Apache wieder: Mainstream-Software-Unternehmen stellen zunächst die notwendigen Produkte für den Internet-Betrieb bereit. Nun der Stimulus: Jemand anderes macht eine neu entwickelte Server-Software im Netz zugänglich. Eine Hand voll User fängt an, Programme zur Behebung von Fehlern und Dokumentationen zu sammeln - wir sind in der Phase der Definition des Nukleus.

In der Folge entwickelt sich Schritt für Schritt ein Netz von Usern, die dann den Source-Code entwickeln - die eigentliche Innovation. Aus den Individuen bildet sich eine kohärente Gruppe, die eine Plattform für die mittlerweile immer breitere Nutzer-Community zur Verfügung stellt. In der Integrationsphase schließlich wird Apache zur populärsten Webserver-Software im Internet.

David-gegen-Goliath-Effekte lassen sich nutzen, um auf neuartige Ideen, Konzepte, Produkte und Organisationsformen zu stoßen. Was für Apache gilt, lässt sich problemlos auf andere Produkte und Services übertragen - man denke dabei nur an die Erfolgsgeschichte von Linux oder an das Bilden neuer verschworener Konsum- und Eventgemeinschaften durch Guerilla-Marketing-Aktivitäten. Ein Beispiel dafür ist das Modelabel Comme des Garçons. Die Shops, die diese Marke verkaufen, haben keinen festen Standort, sondern öffnen immer für ein paar Wochen und werden dann wieder geschlossen.

Vorreiter und Tross

Die Herkunft des Begriffs aus dem Militärjargon lässt es schon vermuten: Die Arbeit der Avantgarde ist zeitlich begrenzt. Über kurz oder lang wird sie vom Heer eingeholt, ihre Aufgabe ist zu Ende.

Sie hat einen furiosen Start, lebt äußerst intensiv und endet nach kurzer Zeit. Sie kann nie mehr sein als ein Projekt. Warum aber ist Avantgarde nicht beständig? Sie ist ihres Erfolgs wegen attraktiv und nimmt durch ihre magnetische Wirkung selbst Zug um Zug Mainstream-Charakter an. Mit ihrer Nähe zur Mode aber macht die Avantgarde ihre Ideen, Konzepte und Gegenstände selbst modisch - und entzieht sich damit langfristig ihre eigene Existenzgrundlage.

Ein Beispiel dafür, wie schnell Ideen eingeholt werden, waren die Fotos des Fotografen Oliviero Toscani für die Imagekampagne des italienischen Modeherstellers Benetton Anfang der 90er Jahre. Sie zeigten sterbende Aids-Kranke, ölverschmierte Enten und küssende Nonnen. Damit beging Benetton Tabubrüche und nahm eine provokative Gegenposition zum bis dahin braven Mainstream-Marketing ein.

Die Kampagne wurde später nicht nur in der Werbebranche in vielen entschärften Varianten nachgebaut. Auch Benetton selbst hat - nach dem Abgang Toscanis - das Konzept mit dem Foto einer Afghanin, die mit und ohne Burka gezeigt wird, in Mainstream-Manier fortgeführt.

Avantgarde definiert sich ausschließlich über die Neuerungen, die sie leistet. Ihr gelingt es nicht, ihre Innovationskraft zu perpetuieren. Bevor ein Reifeprozess einsetzen kann, hat sie sich schon wieder aufgelöst. Die Intensität, mit der Avantgarden ihre Ideen vertreten, lassen oft keine Kompromisse zu. Avantgarden haben gelegentlich Letztgültiges zu erkennen geglaubt und in Manifesten verkündet. Dieser Dogmatismus besiegelt ihr schnelles Ende.

Avantgarden besitzen damit natürlich eine Eigenschaft, die Controller in Unternehmen lieben: Sie existieren nur für eine begrenzte Zeit, verkommen nicht zum institutionalisierten Wasserkopf. Ganz im Gegenteil: Sie bieten die Chance, aus dem gängigen System der verwalteten Innovationen auszuscheren. Avantgarden leisten nicht allein radikal Neues; langfristig machen sie auch neue Denkkulturen hoffähig.

Abweichung und Unabhängigkeit

Mit den Begriffen Abweichung und Unabhängigkeit lässt sich beschreiben, was Menschen mit dem Neuen verbinden und wie Unternehmen sich darauf einstellen müssen, wenn sie Innovationen anregen wollen. Die Bedeutung dessen, was als innovativ gilt, wandelte sich im Laufe der Geschichte mehrmals.

Vor der Aufklärung stand Innovation für Abweichung - Abweichung von dem, was sich eigentlich niemals ändern durfte: Das Gute war per definitionem stabil und verlässlich, ein religiöses und weltanschauliches Dogma. Veränderungen galten als gefährlich oder verdächtig. Politisch stand Innovation in der Nähe von Aufruhr und Revolution.

In der zweiten Phase, der Industrialisierung, traten Theologie und Philosophie gegenüber Naturwissenschaft und Technik in den Hintergrund. Zunehmend entstand das Bewusstsein, dass Innovationen die entwickelte Welt reich gemacht haben. Die negativen Konnotationen wurden durch positive ersetzt. Die Gleichung der öffentlichen Meinung drehte sich um: Jetzt galten Veränderungen als progressiv, Stabilität als reaktionär. Innovationen standen nun für epochale und nützliche Erfindungen. Neuerer beriefen sich auf den Fortschritt, um ihre Sichtweisen zu untermauern.

In der dritten Phase ist Innovation zu einer Art positivem Terror geworden. Auf den Produkt- und Servicemärkten drängen Anbieter ihre Kunden in immer schnelleren Wellenbewegungen dazu, Altes aufzugeben, um das Neueste zu besitzen, das wiederum nur einen Moment lang das Neueste bleibt. Der Chor sich gegenseitig überlagernder Werbebotschaften nährt zusätzlich die Verunsicherung. Innovationen müssen immer lauter und mit höherer Frequenz angepriesen werden, damit die überfütterten Konsumenten sie überhaupt noch wahrnehmen. Aus Unternehmersicht - wie in der Einführung beschrieben - eine Dauerbaustelle.

Avantgarde hingegen nimmt keine Bewertung vor und ist damit unabhängig und ergebnisoffen. Sie braucht den Mainstream lediglich als Spiegelfläche. Anstatt etwas im Labor des eigenen Systems und seiner Gesetze zu erfinden, richtet sie sich ausschließlich nach außen, beobachtet, macht das Gefundene zu ihrem eigenen Inneren, führt die Revolution und trägt sie wiederum nach außen - in den Mainstream.

Tanker und Schnellboote

Mit ihrer bewussten Differenzierung entsteht in der Avantgarde eine kollektive Identität, die durch gemeinschaftliche Projekte, Initiativen und Events gefestigt wird. Stellen Sie sich das Unternehmen als Tanker vor, der von einer Schar Schnellboote begleitet wird. Genau so müsste eine innovative Organisation strukturiert sein. Die Tanker unterstützen ihre Schnellboote mit Ressourcen, aber auch, indem sie sie von Regeln befreien, die auf dem Tanker gültig bleiben müssen. Warum?

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine brillante unternehmerische Idee, die Lösung für ein Problem in der bestehenden Organisation auftaucht, erhöht sich in dem Maße, wie Regeln dieser Organisation gebrochen werden. Um diese Lösung erfolgreich umzusetzen, bedarf es allerdings einer gewissen Abstimmung zwischen Tanker und Schnellboot, also eines flexiblen Netzes synchronisierter Aktivitäten.

Innovation ist auf flexible, dynamische Handlungsformen und auf dezentrale und kulturübergreifende Strukturen angewiesen. Im Zuge der Globalisierung ist kulturelle Identität kein passiv übernommenes, einheitliches Schema mehr, sondern eine produktive, offene Einstellung, die fortwährend neue Identifikationen entstehen lässt.

Transkulturalität bildet einen Gegensatz zur Einheitlichkeit und fördert eine neue Vielfalt von Ideen und Konzepten zu Tage. Es entstehen Überschneidungen zwischen den Kulturen, die in sich von Differenzen gekennzeichnet sind - eine eigene Lebenswelt mit einem außerordentlich innovationsfreundlichen Klima. Harmonisch und angenehm muss dieses Klima keineswegs sein. Auch hier stehen die kulturellen und sozialen Avantgarden Pate für unterschiedlichste Ausprägungen.

Allen gemeinsam ist das Infragestellen und Brechen von Produktkonzepten, von Erwartungen der Kunden und Konkurrenten sowie daraus abgeleiteten Strategieperspektiven. Ein Beispiel dafür ist der spektakuläre Erfolg von Nicolas Hayek. Als er die schrillen bunten Plastikuhren der Marke Swatch auf den Markt brachte, lief das allen Denkmustern zuwider, die man mit der Schweizer Uhrenindustrie verbindet. Billiguhren zu produzieren, widersprach nicht nur dem Selbstbild der Edelmanufakturen, es galt in dem Hochlohnland schlicht als unmöglich. Es ist deshalb fast schon eine Ironie, dass die Swatch-Group mittlerweile mit Uhrenmarken wie Blancpain, Breguet, Longines, Omega und Tissot auch auf dem Markt für hochpreisige Schweizer Uhren eine dominierende Stellung errungen hat.

Analyse und Erzählung

Entscheidend ist es auch, die Sprech- und Denkweisen der Beteiligten zu berücksichtigen; diese können innovationsfördernde Kommunikation unter Umständen lähmen. Ein Übermaß an Analyse kann Unternehmen paralysieren: Verantwortliche sezieren Probleme intensiv. So rechtfertigen sie, die Herausforderung erst gar nicht anzugehen. Abstrakter technischer Fachjargon dient de facto als Bollwerk: "Strukturen", "Prozesse" und "Systeme" bilden den Grundwortschatz - all das sind Ausdrucksformen eines intellektuellen Sicherheitsdenkens, das Innovation und Kreativität unendlich behindert.

Die Avantgarde erzählt und visualisiert die Zukunft, weckt Emotionen und spielt mit ihnen. Die Avantgarde-Bewegungen der bildenden Kunst als politische Gruppen wie die Futuristen, Freundeskreise wie ZEN 49 (eine Gruppe abstrakter Künstler, die im Jahr 1949 gegründet wurde) oder aber beinahe esoterische Zirkel wie die russische Avantgarde-Bewegung - alle suchten ganz bewusst den Widerspruch zur rationalistischen Leistungsorientierung der jeweils aktuellen Gesellschaftsform. Die klassische avantgardistische Technik ist das Erzählen. Trotz aller Zäsuren und Frakturen erlebt das Erzählen als kulturelle Praxis gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Renaissance - auch im wirtschaftlichen Kontext.

Erzählungen eignen sich gut, denn sie sind nicht systematisch, folgen keiner Methode. Innovation in der Avantgarde verbindet so gut wie immer einen radikalen, utopischen und umfassenden Anspruch mit dem Denken und Handeln in konkreten Kontexten. So schafft sie es, in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken, was sich außerhalb des nahe Liegenden und Erwartbaren befand. Erzählungen gewinnen insbesondere bei elektronischen Medien an Bedeutung. Mobilfunknetze werden mit einer SMS-Flut gefüttert, obwohl das jeglichem technischen Verständnis von Nutzerfreundlichkeit widerspricht. Das Internet als Kommunikationsform erfordert ganz neue Formen des Inhalteschöpfens und -vermittelns.

So wie sich in der Literatur der Moderne die Funktionsbedingungen des Erzählens verändert haben, so erleben wir heute veränderte Ausdrucksformen in interaktiven Netzwerken. Einige Ansatzpunkte: Blogs, so genannte Tagebücher anonymer Erzähler, kursieren im Internet, interaktive Plattformen mit verteilter Autorenschaft werden zum Beispiel in der wissenschaftlichen Forschung genutzt. Man klickt sich durch Erzählstrukturen in Online-Communities, die hypertextuell, über Links vernetzt sind. Innovative Prozesse finden in virtuellen Denkräumen statt, und sie sind offen, flüchtig, interdisziplinär, multimedial, diskursiv und interaktiv.

Nutzen wir doch avantgardistische Erzählstrategien mit ihren ästhetischen und sonstigen Qualitäten viel stärker im Unternehmen. Müssen Firmen zum Beispiel in schöner Einheitlichkeit ihre Kommunikation überwiegend im analytisch strukturierten Powerpoint-Modus führen?

Fazit

Wer nach den Regeln der Avantgarde gestaltet, muss sich bewusst sein, dass er lediglich Impulse setzen kann, die im besten Fall eine Eigendynamik entfalten. Das verlangt Unternehmern, die bislang glaubten, Projekterfolge durch Planung programmieren zu können, eine gehörige Portion Demut und Geduld ab. Dennoch sollten Unternehmen mehr avantgardistische Innovationsprojekte wagen. Avantgarden im eigenen Unternehmen gedeihen zu lassen, ist noch ein Luxus, vielleicht aber bald eine Bedingung, ohne die Innovation kaum mehr möglich ist.

Und noch etwas wird damit deutlich: Ein Begriff und eine Praxis des Unternehmerischen, die ohne die Ideen und Ideale der Avantgarden auskäme, wird in der aktuellen Unternehmenswirklichkeit immer schwerer vorstellbar.