Nearshoring in Osteuropa

Offshore - der Weg weist nach Osten

05.10.2005 von Marita Vogel
In Sachen Sourcing spielt Osteuropa für deutsche Unternehmen eine immer größere Rolle. Doch sie stoßen auf einen unübersichtlichen Markt. CIO bietet Orientierung.

Werner Toennessen hatte es leicht: Als er bei der Düsseldorfer Charterfluggesellschaft LTU einstieg, lief die Zusammenarbeit mit dem lettischen Offshore-Anbieter Dati bereits. Und Toennessen kam um ein Problem herum, mit dem sich Nearshore-Interessierte IT-Leiter herumschlagen müssen: die Auswahl des richtigen Partners.

Der osteuropäische Offshoring-Markt boomt. Immer mehr IT-Dienstleister drängen in den Markt. Auch wenn keine zuverlässigen Zahlen existieren: "Wir rechnen mit jährlichen Wachstumsraten von 25 bis 30 Prozent", sagt Andreas Burau, Research Director der IT-Unternehmensberatung Experton-Group. Besonders hohe Nachfrage erwartet Timm Bayer, Geschäftsführer der Berliner Unternehmensberatung Skilldeal, vor allem für Rumänien und die Ukraine.Dieses Wachstum erschwert gleichzeitig die Auswahl des richtigen Dienstleisters: "Der Markt ist stark fragmentiert", sagt Stefan Meyerolbersleben von IT-Offshoring.de.

Viele kleine Dienstleister sind unterwegs

Anders als etwa in Indien, wo die Top-10-Unternehmen mehr als 2000 Mitarbeiter beschäftigen, sind in den neuen EU-Mitgliedstaaten sowie Russland und Ukraine unzählige kleine Dienstleister aktiv. In Russland bieten nach Auskunft des dortigen Branchenverbandes Russsoft mehr als 250 IT-Dienstleister Offshore-Leistungen an. Den rumänischen Markt decken etwa 400 Dienstleister ab, von denen kaum einer mehr als 50 Mitarbeiter beschäftigt.

Trotzdem steigt die Nachfrage - auch aus Deutschland. "Osteuropa macht gegenüber Indien immer mehr an Boden gut", erläutert Jürgen Schaaf, Senior Economist der Deutsche Bank Research, das Ergebnis einer Befragung unter 570 deutschen Unternehmen. Besonders groß sei das Interesse an Dienstleistungen aus Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei.

Diese Präferenzen bestätigt auch das Beratungshaus Capgemini mit seiner EU-Standortanalyse für Business Process Outsourcing. So böten die Städte Budapest, Krakau, Warschau, Posen, Prag und Breslau gute Infrastruktur, qualifiziertes Personal und niedrige Kosten. Zudem können diese Staaten, wie auch Rumänien, mit vielen deutschsprachigen Mitarbeitern werben.

Aufbruch Ost: IT-Chefs sind zufrieden

Auftrieb erhält der Osten durch positive Berichte von Unternehmen, die bereits Nearshoring in Osteuropa betreiben: Sie sind mit den erbrachten Leistungen zufriedener als die Indien-Erfahrenen, ergab 2004 eine Umfrage von CIO unter IT-Chefs. Das bestätigte eine Studie von Ernst & Young. Danach waren 76 Prozent der 246 befragten deutschen Unternehmen mit ihren osteuropäischen Softwareentwicklungspartnern "sehr oder eher zufrieden", während das nur 66 Prozent der in Asien Aktiven aussagten.

Marktforscher Schaaf: "Viele Unternehmen sind von indischen Dienstleistern enttäuscht. Das beginnt mit der langen Anbahnungszeit bis zur Vertragsunterzeichnung und geht mit sprachlichen und kulturellen Unterschieden weiter." Ausreichende Deutsch-Kenntnisse seien dann besonders wichtig, ergänzt Skilldeal-Manager Bayer. LTU-CIO Toennessen sieht diese Frage pragmatisch: "In jedem Unternehmen gibt es Mitarbeiter, die in Fachenglisch nicht ganz so fit sind. Für die ist die Sprachbarriere höher, das muss nicht sein." Für LTU waren die deutschen Sprachkenntnisse der Offshore-Mitarbeiter letztlich der auslösende Faktor.

Allerdings steht der Wunsch nach Deutsch-Kenntnissen nicht für alle auf der Agenda. "Dieser vermeintliche Nutzen wird oft maßlos überschätzt", sagt Michael Heym von der Hamburger Unternehmensberatung Navisco AG. In global aufgestellten Firmen werde dies nicht berücksichtigt. Englisch sei in vielen IT-Abteilungen die geläufige Sprache. Das Gleiche gelte für kulturelle Unterschiede: "Wenn Sie ohnehin ständig internationale Kontakte haben, nehmen Sie die kulturellen Eigenheiten des Geschäftspartners allenfalls noch am Rande wahr", so Heym.

Langfristige Zusammenarbeit ist unsicher

Großunternehmen und große Mittelständler sind in Osteuropa ebenfalls aktiv - auch wenn sie es anders angehen: "Sie kaufen direkt den Dienstleister auf oder gründen ein Joint Venture, um unmittelbaren Einfluss zu haben", so Heym. Für Konzerne sei es zu riskant, "IT-Leistungen an eine Bude mit 150 Leuten" zu geben. Laufe bei einem Großprojekt etwas schief, sei schnell die Existenz der Dienstleister gefährdet, das Projekt müsse neu aufgestellt werden. Darüber hinaus sei die langfristige Zusammenarbeit zu unsicher.

Deshalb geraten inländische Dienstleister unter Druck, weil potenzielle Kunden auf eigene Kapazitäten zugreifen. DHL gründete in Prag ein Servicecenter, in dem bald 1000 Mitarbeiter beschäftigt sein sollen, die Citibank baut in der Warschauer Umgebung Kapazitäten auf. Gleichzeitig können IT-Dienstleister wie Accenture oder IBM durch ihre osteuropäischen IT-Center Manntage für 500 Euro anbieten. "Sie geben den Druck an deutsche IT-Dienstleister weiter, sich selbst Kapazitäten in Osteuropa zu sichern", sagt Skilldeal-Mann Bayer. Seit einem Jahr steige die Nachfrage dieser Interessentengruppe drastisch.

Auch osteuropäische Anbieter haben das Potenzial in Deutschland erkannt. Meyerolbersleben: "Immer mehr gründen Vertriebsniederlassungen oder gehen Vertriebskooperationen ein." Zu den langjährigen Routiniers gehören neben der lettischen Dati auch die polnische ComArch in Frankfurt und die slowenische Hermes Softlab in Böblingen. Diese Niederlassungen sichern Deutschsprachigkeit vom ersten Kontakt an zu.

Doch wie finden deutsche Auftraggeber den idealen Dienstleister in Osteuropa? Nicht in allen Staaten existieren Branchen- oder Interessenverbände, die entsprechende Firmeninformationen bereitstellen können - wie Russland mit Russsoft oder Ungarn mit Hungarian Software Alliance. Wichtige Anlaufstellen sind Außen- und Handelskammern.

Die Qual der Wahl: Qualität kontra Preis

Oberste Priorität sollte laut Meyerolbersleben nicht der Preis haben, sondern die Qualifikation des Anbieters: "Gehen Sie vor wie bei einer klassischen Mitarbeitersuche - den stellen Sie ja auch nicht wegen der niedrigen Lohnforderung ein." Neben Erfahrungen, die der Offshore-Aspirant in internationalen, gleichartigen Projekten in der gleichen Branche gesammelt haben sollte, kommt es auf die "gleiche Augenhöhe" - eine ähnliche Unternehmensgröße - an. Weiteres Kriterium sollte sein, wo bereits Absatzmärkte mit eigenen Niederlassungen oder engen Geschäftskontakten bestehen. Dieser Weg werde zunehmend genutzt, hat Bayer beobachtet: "Die vorhandenen Kenntnisse und Kontakte werden bei der Suche auch eingesetzt."

Diese Suche wird dadurch erschwert, dass sich die Unternehmen bisher wenig spezialisiert haben. So gilt Russland als SAP-orientiert, doch sind dort auch etliche Legacy-Experten zu finden. Das SAP-Ticket besitzen zudem Polen und Tschechien, weil bereits viele deutsche Unternehmen dort sind, die SAP einsetzen. Als erfahren gelten Polen im Business Process Outsourcing, nicht jedoch im Software Development.

Auch wenn das Preisniveau nicht das Hauptargument für einen Vertrag sein darf, muss dessen Entwicklung beobachtet werden. So erwarten die Experten, dass sich die Preisschraube in den neuen EU-Ländern schneller drehen wird als in den Kandidatenländern Rumänien und Bulgarien. Uneinig sind sie darin, wie stark die Kosten steigen werden: Die Schätzungen reichen von fünf Prozent jährlich (Navisco-Mann Heym), so dass die Preisvorteile in einigen Jahren aufgelöst seien, bis hin zu "keine nennenswerten Steigerungen in den nächsten Jahren" (Meyerolbersleben). In Russland ist die Situation anders, so Burau von Experton: "Nach enormen Preissteigerungen in Indien sind russische Dienstleister günstiger als Inder. Deshalb hätten indische Offshore-Anbieter wie Wipro, Infosys und Tata bereits eigene Kapazitäten in Russland aufgebaut, "um diese günstige Ressource zu bekommen.

Für die osteuropäischen Länder geht Deutsche-Bank-Researcher Schaaf von einem relativ hohen Lohnsteigerungstempo aus, speziell in Polen und Slowenien. Grundsätzlich sollten Interessenten um die Großstädte einen Bogen machen, auch wenn dort das Arbeitskräftepotenzial höher ist. "Prag und Bratislava etwa boomen so sehr, dass sie schon nicht mehr EU-förderungswürdig sind. Das wirkt sich nicht nur auf die Lebenshaltungskosten und Mieten aus - auch die Preise sind von vornherein höher."

Urheberschutzfrage in Russland noch nicht geklärt

Dagegen sind in den Nicht-EU-Staaten die Rechtsvorschriften genau unter die Lupe zu nehmen. So ist etwa in Russland die Urheberschutzfrage noch nicht abschließend geklärt. Und kaum ein deutsches Unternehmen denkt daran, dass ukrainische Mitarbeiter nur mit einem Visum nach Deutschland einreisen können, dessen Erteilung bis zu vier Wochen dauern kann.

Trotz vieler Fragezeichen sind die meisten deutschen Offshore-Nutzer mit ihrer Wahl zufrieden, ergab die Studie von Deutsche Bank Research. So wollen fast alle Unternehmen ihren Offshore-Etat in den nächsten Jahren aufstocken - jedes dritte Unternehmen sogar um mehr als 30 Prozent.