Ehemaliger DHL-CIO

So erschließen sich Händler einen neuen Markt

27.12.2012 von Ralf Weißbeck
Online-Händler und Logistiker wollen Waren am Tag der Bestellung liefern. Stellenweise funktioniert das Konzept des "Same Day Delivery" in Amerika auch schon. In Deutschland könnte der Lebensmittelhandel Treiber der Entwicklung werden, meint Ralf Weißbeck, ehemaliger CIO von DHL und Teilnehmer am CIO Leadership Excellence Program (LEP).
Ralf Weißbeck ehemaliger CIO von DHL, jetzt LEP-Teilnehmer: "Es geht um das Ausfeilen des SoLoMo-Konzeptes, also um social, local und mobile."
Foto: Kai Myller

Eines vorweg: Zum Schreiben dieses Artikels hat mich die Frage motiviert, ob der deutsche Handel genügend innovationsfreundlich ist. Denn das, was die "Financial Times" als "Same-Day-Delivery-Blitzkrieg" beschrieben hat, ist mehr als nur das klassische Amazon-Modell. Es geht um das Ausfeilen des "SoLoMo-Konzeptes", also um social, local und mobile. Social Networks verknüpfen dabei Location-basierte Services und mobile Applikationen.

Das Konzept erlaubt Unternehmen, ihre traditionellen Stärken wie Kundennähe und Serviceorientierung auch in neuen Märkten auszuspielen - oder ganz neue Opportunities zu identifizieren. Amazon baut in Amerika bereits neue Auslieferzentren und Abholstationen für Same Day Delivery. eBay testet einen Abholservice, bei dem eigene Mitarbeiter die Waren aus den stationären Shops direkt zum Kunden bringen. In Deutschland sind Händler und Logistikpartner demgegenüber noch zögerlich - was sich jedoch bald ändern dürfte.

Status quo des Online-Handels

Grafik I: E-Commerce wächst beständig.
Foto: cio.de

Mit der Entwicklung des Internets ist auch in Deutschland ein kontinuierlicher Anstieg des E-Commerce zu verzeichnen (siehe Grafik I). Laut Bundesverband des Versandhandels (BvH) sind die Umsätze im ersten Quartal 2012 um 18 Prozent auf 6,34 Milliarden Euro gewachsen. Davon entfällt fast die Hälfte auf Kleidung und Schuhe. Es folgen Unterhaltungselektronik, Medien und Computer.

Die fünf umsatzstärksten Produktgruppen sind in Grafik II zu sehen. Dabei fällt auf, dass ein Markt mit riesigem Potenzial noch gar nicht gelistet ist - trotz zahlreicher Neugründungen sind laut BvH aus dem Online-Handel mit Lebensmittel noch keine auffälligen Steigerungsraten zu vernehmen. Er befindet sich erst in der Entstehungsphase. Nach einer Studie von A.T. Kearney und der Universität Köln wurden 2011 mit dem Vertrieb von Lebensmitteln auf dem Online-Weg gerade einmal 200 Millionen Euro umgesetzt, was einen Pro-Kopf-Umsatz von etwa zwei Euro ausmacht. Im Vergleich dazu sind es in Großbritannien 82 Euro pro Kopf. A.T. Kearney hat auch die Gründe für den Kauf von Online-Lebensmitteln untersucht (Grafik III).

Grafik II: Begehrte Waren im Internet.
Foto: cio.de

Obwohl die Nutzung in den vergangenen Jahren zugenommen hat, verfügen 82 Prozent der deutschen Verbraucher noch über keinerlei Erfahrung mit dem Online-Handel von Lebensmitteln. Dabei sind Lebensmittel ein Kernbereich des immer wichtiger werdenden Sektors Lifestyle & Convenience. Wer hat die Situation noch nicht erlebt: Nach einem anstrengenden Arbeitstag müssen noch schnell Lebensmittel eingekauft werden, weil der Kühlschrank leer ist. Wenn dann alle Läden geschlossen haben, bleibt am Ende nur noch der Gang zur Tankstelle oder der Anruf beim Pizzaservice. Und welche gestresste Mutter wäre nicht froh darüber, schnell Lebensmittel per App oder im Internet bestellen zu können? Nörgelnde Kinder ins Auto zu packen, im Verkehrsstau zu stehen und in überfüllten Supermärkten lange an der Kasse zu warten bliebe ihr dadurch erspart.

Auf iPhones und Android Smartphones existieren heute schon eine Vielzahl von Programmen, Lebensmitteleinkäufe zu planen. Die Services sind zwar mit einem hohen Aufwand verbunden und für keinen Retailer flächendeckend umzusetzen. Die Tatsache, dass der über Tankstellen abgewickelte Lebensmittelmarkt jährlich über zehn Milliarden Euro Umsatz bringt, macht diesen Bereich trotzdem interessant.

Mögliche Rolle der Logistikpartner

Grafik III: Gründe für Lebensmitteleinkauf im Web.
Foto: cio.de

Was müsste nun ein Logistiker tun, um diesen Markt für sich zu erschließen? Grundlage ist eine IT-Architektur, in die PCs und Smartphones integriert sind. Auf dieser Plattform können dann ausgewählte Supermärkte ihr jeweiliges Sortiment online anbieten. Sie sind verpflichtet, dieses Sortiment bezüglich Preisen und verfügbaren Mengen zu pflegen. Darüber hinaus werden geeignete Bezahlsysteme wie Paypal, Kreditkartenzahlung oder Abbuchung vom Bankkonto hinterlegt. Passwortmechanismen sorgen dafür, dass die Daten sicher und vor Missbrauch geschützt sind. Der Kunde hat die Möglichkeit, entweder einmalig eine Bestellung aufzugeben oder sich bei mehrmaliger Nutzung für den Service zu registrieren und gegebenenfalls Flatrates zu nutzen. Bei Registrierung kann er die gewünschte Bezahloption hinterlegen, ohne diese Daten dann bei Folgebestellungen nochmals neu eingeben zu müssen.

Die Auswahl der Produkte muss intuitiv und einfach sein. Alle Produkte werden in einem Warenkorb gesammelt und in einer Bestellung an den jeweiligen Supermarkt und Logistikpartner übermittelt. Aufträge, die am gleichen Tag ausgeliefert werden sollen, sind bis zu einer fest definierten Uhrzeit (zum Beispiel 15 Uhr) aufzugeben. Der Logistikpartner wird bei der Auslieferung Routenoptimierung nutzen (GPS) und die Produkte zuverlässig zustellen (Rückverfolgung über Web). Anhand verschiedener Kriterien wie Postleitzahl des Bestellers oder „zuständigem“ Supermarkt wird vom Programm sichergestellt, dass dem Kunden immer die nächste Filiale angeboten wird. Sollte der Kunde besondere Wünsche hinsichtlich Filiale, Produktangebot oder Service haben, erfolgt ein Preisaufschlag.

Convenience Shops als Lieferstelle

Bei der Lieferadresse kann es sich entweder um die Privatanschrift des Bestellers oder um fest vorgegebene Stationen handeln. Hierfür bieten sich Convenience Shops (Tankstellen, Bahnhofskiosks) oder feste Ablieferstellen (beispielsweise Shopping Boxes) als Ablieferpunkte an. Beim Preissystem herrscht ein SLA-Denken vor. Bei späterer Anlieferung sollte der Preis niedriger sein, während stunden- oder minutengenaue Lieferungen dementsprechend mehr kosten. Auch ein Service am Sonntag wäre denkbar. Hierfür können Märkte an Flughäfen und Bahnhöfen oder etwa bestehende Pizza-Services genutzt werden. Dadurch würden aufwendige Fahrten am Wochenende wegfallen.

Das Geschäftsmodell der Transportbranche sieht vor, dass am Vormittag Zustellfahrten erfolgen und am Nachmittag mit derselben Fahrzeugflotte Abholprozesse durchgeführt werden. Diese Optimierung der Lager- und Transportkapazitäten wird über die bei Same Day Delivery notwendige Kombination von Zustellungen und Abholungen am Nachmittag sicherlich komplexer, da zusätzliche Kapazitäten notwendig sind.

Um Zusatzkosten, die letztendlich der Kunde zu tragen hat, zu minimieren, sind hier neue Anwendungen notwendig. "Collaborative Supply Chain Management" muss über die Filiale bis zum Kunden ausgedehnt werden, um in noch kürzeren Intervallen über die gesamte Transportkette Transparenz herzustellen. Alle involvierten Supply-Chain-Unternehmen brauchen die Informationen über die aktuelle und prognostizierte Endkundennachfrage.

Durch die Zulieferung am Nachmittag und Abend kann ein ganz neuer Servicebereich im Transportumfeld entstehen. Wo heute schon Applikationen wie MyTaxi exakt und online über die jeweilige Position des bestellten Taxis informieren, können in Zukunft diese Zustellfahrten bei registrierten Zustellern gebucht werden. Ein Routenoptimierungsprogramm muss zentral auf den jeweils am besten platzierten Zusteller zugreifen, der dann die Ware am Markt abholt und zum Endkunden oder zur Ablieferstation bringt. Wo heute Pizzazusteller oder auch Taxen Leerkapazitäten haben, könnten diese in Zukunft durch Zustellaufträge genutzt werden. Ein völlig neuer Servicebereich kann hier entstehen.

Fazit

"Heute bestellt, heute geliefert", bietet Amazon auch in Deutschland über den sogenannten "Evening Express" gegen Aufpreis an. Allerdings ist dieser Service auf bestimmte Postleitzahlengebiete und spezielle Produkte beschränkt. Die logistischen Herausforderungen für Produktgruppen wie Elektronikartikel oder Bücher sind regional also schon heute bewältigt. Es ist somit nicht mehr die Frage, ob Same Day Delivery auch im Lebensmittelbereich kommt, sondern wann es sich durchsetzen wird und wer die Keyplayer sein werden. Auch wenn der Online-Lebensmittelhandel nach der Studie von A.T. Kerney derzeit nur rund 0,2 Prozent des Lebensmittelumsatzes entspricht, sieht die Studie große Potenziale und eine mögliche Steigerung in den nächsten drei bis fünf Jahren auf 1,5 Prozent im Jahr 2016 (rund 1,9 Milliarden Euro).

Mit dem Online-Lebensmittelhandel werden sich dann die Business-Modelle des Handels insgesamt wandeln - schneller, als sie es heute schon tun. Retailer werden sich auf eine digitale Revolution einstellen müssen, in der die IT immer mehr Bedeutung bekommt. Auch wenn in Zukunft die "stationäre" Welt mit dem Einkauf im Shop weiterexistieren wird, das Geschäft in der virtuellen Welt wächst. Händler im Lebensmittelbereich sollten sich besser nicht darauf verlassen, dass ihnen das Schicksal der stationären Schuhläden erspart bleibt.

LEP - CIOs schreiben für CIOs

Ralf Weißbeck ist nur noch bis Ende des Jahres bei DHL und somit "in transition". Er nutzt diese Phase, um im Rahmen des Leadership Excellence Program (LEP) seine Erfahrungen aufzuschreiben. LEP sieht explizit vor, dass CIOs Veröffentlichungsraum und Lektorat gestellt bekommen. Weitere Infos zu LEP, auch zum anstehenden Auslandsmodul in Indien: www.leadership-excellence-program.de