Meyer Werft

Standards gibt's nicht

21.12.2007 von Christoph Lixenfeld
Die Papenburger Werft plant Produktion sowie Projekt- und Kapazitätsanalyse ihrer Kreuzfahrt-Riesen mit einer selbst entwickelten Lösung. Standard-Software ist zu unflexibel, wenn Reeder in letzter Minute noch Änderungen wünschen.
Günter Bahlmann, Infoyard-Verantwortlicher Meyer Werft: "Wenn man in unserem Anforderungsumfeld zu sehr auf Standardanwendungen setzt, muss man sich zeitaufreibend mit Hotlines herumschlagen."

Wer den Bau eines Schiffes noch nie aus der Nähe gesehen hat, der hält die Aufgabe für schier menschenunmöglich: Die Norwegian Gem, jüngster Kreuzfahrt-Riese der Papenburger Meyer Werft, ist ein fast 300 Meter langes, 32 Meter breites Monstrum aus High-Tech und Stahl. Das Schiff mit fast 1.200 Kabinen bietet Platz für mehr als 3.500 Menschen. Solch ein Wunderwerk entsteht - ohne Planung - in nur 18 Monaten: Am 17. Juni 2006 begann der Bau, am 15. September 2007 zogen Schlepper die Norwegian Gem von Papenburg in die 40 Kilometer entfernte Nordsee.

In dieser Zeit waren 25 000 Vorgänge von - im Tagesdurchschnitt - 4.000 Menschen zu erledigen. Damit es funktioniert, muss alles perfekt ineinandergreifen. Möglich wird das durch eine detaillierte Planung und die dazu geeignete Software. Klar. Würden große Schiffe aber heutzutage nicht auf eine sehr spezielle, für den Laien zunächst einmal überraschende Weise gebaut, nützte auch das beste Programm wenig.

Denn anders als die hölzernen Schoner aus den Zeiten eines Sir Francis Drake hämmern die Männer - und Frauen - auf der Meyer Werft nicht zuerst den riesigen Rumpf zusammen, um ihn dann von unten nach oben wie ein klassisches Einfamilienhaus auszubauen. Vielmehr entstehen moderne Ozeandampfer ziemlich exakt so wie ihre Miniatur-Pendants aus Lego: zusammengefügt aus einzelnen Blöcken, die erst übereinander und nebeneinander gestapelt allmählich das Bild des Schiffs erkennen lassen. Der Vorteil dieses Verfahrens: Viele verschiedene Vorgänge des Baus können gleichzeitig ablaufen. Würde erst der komplette Rumpf geschweißt, müssten die Kabinenbauer mit ihrer Arbeit so lange warten, bis sich die Rumpfmannschaft bis zum ersten Deck hochgearbeitet hat. Bei der Blockbauweise dagegen bauen die unterschiedlichsten Gewerke parallel mehrere Teile des Schiffs zusammen, die dann per Kran ins Trockendock gehievt und dort miteinander verschweißt werden.

Jeder Block wiederum besteht aus einzelnen, übereinandergestapelten Decksektionen. Die Arbeitsweise orientiert sich dabei an Ergonomie und Effizienz: Die Versorgungsleitungen in der Decke einer Kabine zum Beispiel werden eingebaut, wenn die Decksektion noch verkehrt herum liegt. Schließlich geht das wesentlich leichter und schneller, als über Kopf zu arbeiten. Das kann nur funktionieren, wenn genau zum richtigen Zeitpunkt sowohl die benötigten Teile als auch die erforderlichen Spezialisten zur Verfügung stehen.

Und genau hier kommt InfoYard ins Spiel, jene von der Meyer Werft auf SAS-Basis entwickelte Software für die operative Planung sowie die Projekt- und Kapazitätsanalyse. Die Visualisierung des Ganzen ist so gut gelungen, dass bei vielen der Schaubilder auch ein Laie erkennen kann, was sie ausdrücken: Ein Querschnitt zum Beispiel zeigt das Schiff und seine einzelnen Blöcke, und bei jedem dieser Blöcke ist genau zu erkennen, zu wie viel Prozent er fertiggestellt ist. Wer sich durch mehrere dieser Bilder scrollt, sieht die Fortschritte des Dampfers von Woche zu Woche. Und vorallem: Er sieht, wo etwas hinter dem Zeitplan zurückbleibt. "Sagt die Statusanzeige zum Beispiel 'Vorleistung kritisch', dann kann der für diesen Arbeitsgang Verantwortliche dem für die Vorleistung Zuständigen schon mal einen dezenten Hinweis geben", so Günter Bahlmann, der bei der Meyer Werft für Infoyard verantwortlich ist.

Verzögerungen früh erkennen

Ganz ausschließen lassen sich einzelne Verzögerungen bei einem Produkt, das zu drei Vierteln von Zulieferern gefertigt wird, natürlich nicht. Entscheidend ist, über den Status jedes Arbeitsgangs ständig informiert zu sein, um bei Problemen rechtzeitig gegensteuern zu können. Und Schwierigkeiten bei einem Bau können sich auch auf andere auswirken: Im August arbeitete die Papenburger Werft an sechs dicken Pötten parallel - wobei nur vier Schiffe bereits als solche erkennbar waren. Vorprodukte muss das Unternehmen zwei Jahre im Voraus bestellen. Möglich wird das auch durch die bei Infoyard integrierte Bedarfslogistik. Sie gibt einen Überblick, was bestellt ist und was wann geliefert wird.

Langfristig wird auch der Personaleinsatz geplant. An einem Ozeanriesen werkeln insgesamt etwa 10.000 Menschen, nur etwa ein Viertel davon sind eigene Leute. Der Bedarf an Kräften ist je nach Bauphase höchst unterschiedlich, und es gilt, dafür zu sorgen, dass immer genau so viele Leute auf der Werft sind, wie gebraucht werden. Infoyard zeigt die Personalplanung als buntes Flächengebirge, das die Kapazitäten auf Jahres-Zeitachsen darstellt. Sogenannte Meilensteinpunkte zeigen an, wann was zu passieren hat. Da steht dann zum Beispiel "Einbau Hauptmaschinen", "Start Fertigkabinen" oder "Rudermontage". Das System berechnet genau, wie viel Arbeitszeit wofür notwendig war, was wichtig ist für die Kalkulation des nächsten Schiffes. Sämtliche Funktionen und Analysen werden einmal am Tag durchgerechnet; was nicht im Plan ist, erscheint "in verschämtem Rot", wie Bahlmann sagt.

Kontrolle durch Feedback-Schleifen

Der Einsatz von Fremdfirmen wird zwar über das System gesteuert, Zugriff auf seine teils sensiblen Informationen bekommen sie jedoch nicht. Für die Eingabe der Rückmeldedaten sind die Meister und Vorarbeiter zuständig. Die ganze Planung funktioniert nur, wenn sie das auch regelmäßig und gewissenhaft tun, was sich kontrollieren lässt. Bahlmann: "Wenn es beispielsweise an irgendeiner Stelle seit 14 Tagen kein Feedback mehr gab, dann fällt das natürlich auf."

300 Menschen arbeiten mit Infoyard, für die Administration sind 20 Mitarbeiter in Papenburg und sechs auf der Neptun-Werft in Rostock-Warnemünde zuständig, die zum Unternehmen gehört. Die Grundphilosophie der Produktionsplanung stammt bereits aus den späten 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Bei der 2002 lizenzierten SAS-Plattform handelt es sich um die mittlerweile dritte Softwaregeneration. Was darauf aufbaut, ist ebenso modular geschichtet wie die Schiffe: Vieles an der Lösung haben die Spezialisten um Bahlmannselbst entwickelt, anderes als Komplettlösungen anderer Softwarefirmen integriert. Die Qualität der Technik ist bei all dem nach Ansicht von Bahlmann nur ein Baustein: "So ein System nützt nur etwas, wenn man sich vorher genau überlegt hat, wie man es einsetzenund administrieren will."

Fakten zur Meyer-Werft.

Infoyard ist integraler Bestandteil des ERP-Umfelds auf der Meyer Werft. Wie das im Detail aussieht, darüber schweigt man sich zwar aus, aber Bahlmann verrät immerhin, dass die Meyer Werft kein klassischer SAPAnwender ist und lediglich im Finanzbereich ein Produkt betreibt, dessen Hersteller in der Zwischenzeit von SAP übernommen wurde. "Wir brauchen Flexibilität", so Bahlmann, "und wenn man in unserem Anforderungsumfeld zu sehr auf klassische Standardanwendungen setzt, dann muss man sich zum Teil zeitaufreibend mit irgendwelchen Hotlines herumschlagen, was unsere Terminsituation nicht zulässt. Wir müssen sofort reagieren und können nicht bei jeder organisatorischen oder strukturellen Veränderung auf das nächste Update hoffen."

Änderungen bis zur letzten Minute

Die Kunden der Meyer Werft tun das auch nicht, im Gegenteil. Ein Wettbewerbsvorteil der Papenburger im hart umkämpften Schiffbau ist die Flexibilität, Änderungswünsche des Reeders sind praktisch bis zur letzten Minute umsetzbar. Und die Pünktlichkeit natürlich: "Wir haben noch nie ein Schiff zu spät abgeliefert", sagt Günter Bahlmann stolz. Das gilt natürlich auch für die brandneue Norwegian Gem: Pünktlich am 1. Oktober 2007 wurde sie im niederländischen Eemshaven an die Reederei Norwegian Cruise Line übergeben.