Schwarmintelligenz

Warum sich Ameisen nicht optimieren lassen

09.09.2015 von Christoph Lixenfeld
Gunter Dueck war Mathematik-Professor und Cheftechnologe bei IBM. Sein Buch "Schwarmdumm – So blöd sind wir nur gemeinsam" ist überaus schlau und lesenswert.

Kein Team ist so perfekt wie ein Ameisenvolk. Jedes Tier macht ihren Job - und nur den. Es gibt Nestbauerinnen, Nahrungsbeschafferinnen, Wächterinnen, Reinigungskräfte, Lagerarbeiterinnen und vieles mehr (Ameisenvölker bestehen zum weitaus größten Teil aus weiblichen Tieren).

Gunter Dueck war Mathematik-Professor und Chief Technology Officer bei IBM. "Alles, was Manager vor sich sehen, ist Eskalation, Priorisierung wird unmöglich, weil sie ausschließlich Feuerwehr spielen, also von morgens bis abends ausschließlich Probleme lösen. Innovation und Nachhaltigkeit fallen hinten runter."
Foto: Jörn Wolter - Campus Verlag

In solchen Staaten leben 300.000 und mehr Individuen zusammen. Trotzdem funktioniert das Team wie ein Uhrwerk. Brutpflegerinnen füttern den Nachwuchs, der Hofstaat kümmert sich um die Königin. Und die Kommunikation läuft über unterschiedliche Duftstoffe.

Zwar kennen auch Ameisenvölker Konflikte und Streit, aber niemals gerät dabei das Teamwork aus dem Gleichgewicht und erst recht nicht die gemeinsam Vision - Erhalt und Vergrößerung des Staates - in Gefahr.

Bis - wie Gunter Dueck in seinem Buch "Schwarmdumm" anschaulich und unterhaltsam erzählt - bis eine neu ernannte "Beschleunigungs- und Effizienzameise" die Bühne betritt.

"Ihr müsst die Extrameile gehen"

Ameisen - und vor allem ihre Staaten - lassen sich nicht weiter optimieren. Auch wenn es immer wieder versucht wird.
Foto: Andrey Pavlov - shutterstock.com

Die verkündet als erstes: "Ameisen, ihr müsst jetzt jedes Jahr zehn Prozent mehr Nahrung anschaffen."
"Aber wir holen doch alles, was es gibt. Mehr ist nicht da."
"Wir werden in einem weiteren Umkreis als bisher sammeln."
"Dann kostet das Heranbringen prozentual viel mehr."
"Ihr müsst die Extrameile gehen."
"Wir schaffen es nicht, alles aus weiterer Entfernung bis zum Bau zu bringen."

"Wir organisieren Schichtdienste und Bereichszuständigkeiten, Futterübergabepunkte und Kontrollen. Es gibt einen räumlich definierten Futterinnenring und einen Außenring."
"Haben die Ameisen weiter draußen dann nicht viel mehr Arbeit mit der Beute als die, die näher zum Bau schaffen?"

"Wir werden die Futterstrecken messen und Vergleiche anstellen. Wir werden jede Ameise bewerten und Ranglisten aufstellen. Wir werden Ameisen belohnen, die noch viel mehr Extrameilen gehen als die normalen Ameisen…"

Auf wen oder was der Autor mit dieser Geschichte abzielt, ist leicht zu erraten. Gunter Dueck weiß, wovon er spricht, 24 Jahre lang arbeitete er bei IBM, unter anderem als Chief Technology Officer.

"So blöd sind wir nur gemeinsam"

Die Geschichte mit den Ameisen verdeutlicht besser, worum sich das Buch dreht als sein Titel. Zwar geht "Schwarmdumm - So blöd sind wir nur gemeinsam" hart mit der irrsinnigen Meetingkultur ins Gericht, aber der Autor betrachtet sie nicht als Ursache, sondern als Folge eines Übels. Und zwar eben jenes Optimierungswahns, den ‚Beschleunigungs- und Effizienzameisen‘ gepeinigten Angestellten in immer größeren Dosen verabreichen.

Nervtötende Meetings sich nach Ansicht von Gunter Dueck oft nicht Ursache, sondern die Folge anderer Fehlentwicklungen.
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Gunter Dueck: "Die Systeme, in denen wir leben und arbeiten, werden permanent überlastet, dadurch entstehen Fehler und Kommunikationsprobleme, die man dann mit Hilfe stundenlanger Meetings auszubügeln versucht. Weil dabei aber so viel Zeit verplempert wird, können die Mitarbeiter nicht mehr sorgfältig ihren eigentlichen Job machen, beispielsweise in der Entwicklung. Also entstehen weitere Fehler, wieder gibt es Meetings, um darüber zu sprechen und so weiter und so fort."

Dueck lehnt Gruppenprozesse keineswegs ab, im Gegenteil: "Natürlich gibt es so etwas wie Schwarmintelligenz. Ein agiles Software-Entwicklungsteam zum Beispiel ist ein intelligenter Schwarm. Aber die meisten Prozesse laufen eben noch immer nach dem traditionellen Wasserfallmodell ab. Und wenn man solche Systeme übermäßig unter Druck setzt, dann bewirkt man genau das Gegenteil dessen, was man eigentlich will."

Lernen von der Supermarktkasse

Dueck, in den 1980er-Jahren fünf Jahre lang Mathematikprofessor an der Uni Bielefeld, hat ein verblüffendes Beispiel auf Lager, das jeder kennt: die Supermarktkasse. Weil mal mehr und mal weniger Kunden den Laden besuchen, sind die Kassierer nie ganz ausgelastet.

In der Regel kassieren sie nur 85 Prozent ihrer Arbeitszeit, zwischendurch warten sie auf Kunden. Der zuständigen ‚Effizienzameise‘ würde diese Zahl gar nicht gefallen, sie würde mindestens zehn Prozent der Kassierer entlassen, damit die anderen besser ausgelastet sind.

Die Folge? Sobald der Laden voll ist, entstehen an den Kassen lange Schlangen, weil es zu wenige Kassierer gibt. Passiert das oft, geht ein Teil der Kunden wegen der langen Wartezeiten beim nächsten Mal in einen anderen Laden. Die Maßnahme wäre also, salopp gesagt, der klassische Schuss in den eigenen Fuß.

Ständige Überlastung

Gunter Dueck nennt noch ein Beispiel: Krankenhaus, Notaufnahme. Die Station ist randvoll, Betten stehen auf den Fluren. Trotzdem werden immer neue Fälle eingeliefert, viele bluten. Wen behandelt der diensthabende Notarzt zuerst? Den, dem es am schlechtesten geht? Wie will der Arzt das bei dem Stress und den vielen Fällen in wenigen Sekunden beurteilen? Den, der am lautesten schreit vor Schmerz?

In jedem Fall, das ist die Quintessenz der Geschichte, kann der Arzt durch seine ständige Überlastung keine medizinisch fundierte Entscheidung mehr treffen. Er hat keine Zeit mehr, über den Tag hinaus nachzudenken, zum Beispiel über notwendige Anschaffungen auf der Station oder über Personalplanung.

Vor sich nichts als Eskalation

Unzählige Manager, sagt Gunter Dueck, fühlen und handeln genau wie dieser Arzt: "Alles, was sie vor sich sehen, ist Eskalation, Priorisierung wird unmöglich, weil sie ausschließlich Feuerwehr spielen, also von morgens bis abends ausschließlich Probleme lösen. Innovation und Nachhaltigkeit fallen hinten runter."

Gunter Duck zweifelt die Intelligenz von Kollektiven nicht grundsätzlich an. Als Beispiel für Schwarmintelligenz nennt er agile Softwareentwicklung.
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Gerade hoch Qualifizierte sollten seiner Ansicht nach höchstens zu 85 Prozent ausgelastet sein, damit sie Luft haben, strategisch zu denken. "Das Optimum ist etwas völlig anders als das erzielbare Maximum. Das erzielbare Maximum ist dumm."

Die Ursache des schädlichen Optimierungswahns sieht Dueck bei großen Konzernen im Shareholder-Value, im Druck, den Aktionäre und Analysten auf das Management ausüben. Ändern lässt sich das seiner Meinung nach nur durch radikale Maßnahmen. "Wer die ständige Überlastung beenden will, muss das ganze System ändern, dass den Druck erzeugt. Anders geht es nicht."

Sektempfang als Belastungstest

Wobei: Unternehmen, die diesen Zwängen nicht ausgesetzt sind, können durchaus gegensteuern, wenn der Chef das Problem begriffen hat.

Gunter Dueck kennt einen Mittelständler, bei dem es freitags um halb sechs immer ein Glas Sekt gibt. Wenn dabei nur wenige Mitarbeiter erscheinen, weiß der Chef, dass seine Leute überlastet sind. Dann reduziert er das Arbeitspensum.

Offen kommuniziert wird die Tatsache, dass der kleine Empfang auch ein Belastungstest ist, allerdings nicht. Sonst käme der eine oder andere Mitarbeiter noch auf die Idee, nicht hinzugehen, um überlastet zu wirken.

"Das ist aber keineswegs selbstverständlich", sagt Gunter Dueck. "In ganzen vielen Unternehmen sind die Chef so unbedarft, den Leuten ihre Tricks auch noch auf die Nase zu binden."

10 Tipps für bessere Meetings
Niemand muss erscheinen
Mitarbeitern, die sich sichtbar langweilen, sollte für die Zukunft Abstinenz empfohlen werden.
Kekse auch weg!
Unterernährung ist in deutschen Büros selten. Kekse braucht niemand, die machen nur dick und schläfrig.
Kühl und frisch
Ist der Konferenzraum schlecht geheizt, verkürzt sich die Dauer des Meetings spürbar.
Klare Moderation
Klare Moderation hilft und strafft. Vorne stehen muss dabei aber nicht immer der Chef. Es kann auch eine Praktikantin sein, die sich gerade in das Thema eingearbeitet hat.
Kleine Gruppen
Jedes Meeting mit mehr als sieben Menschen gilt als ineffektiv.
Zwei Themen sind genug
Wer fünf Themen ansetzt, lockt potenziell 30 Leute in den Konferenzraum, von denen die meisten nur ein Thema kennen, aber trotzdem zu allen fünf ihren Senf abgeben.
Bei der Sache bleiben
Von Hölzchen auf Stöckchen zu kommen und wieder zurück, kann amüsant sein, führt aber nirgendwo hin.
Auch mal stehen bleiben
Schnelle Meetings im kleinen Kreis sollten ohne Stühle stattfinden. Das erhöht die Konzentration, außerdem kann dabei niemand mit seinem Smartphone spielen, ohne krass desinteressiert zu wirken.
Smartphones weg!
Der Kollegin mal eben den neuen Hund zeigen? Derartigen Quatsch während des Meetings sollte der Moderator schon im Vorfeld unterbinden.
Pünktlich vorne und hinten
Meetings sollten pünktlich beginnen und enden. Wer immer zu spät kommt, sagt damit: "Mich interessiert Euer Kram nicht."

Gunter Dueck
Schwarmdumm
So blöd sind wir nur gemeinsam
Campus Verlag
324 Seiten, 24,99 Euro, als E-Book 20,99 Euro.