SAP-Expertise

Wie Stada IT-Fachkräfte in Belgrad an sich bindet

14.02.2018 von Horst Ellermann
Die Finanzinvestoren Bain und Cinven haben im August 2017 den Pharmakonzern Stada übernommen. 5,4 Milliarden Euro haben sie für 65 Prozent des Generika-Herstellers auf den Tisch gelegt. Mit dabei: Bestes serbisches SAP-Know-how.
  • Weshalb Stada ein Corporate Shared Service Center gegründet hat
  • Wieso die Wahl für den Standort von Stada IT Solutions auf Belgrad fiel
  • Weshalb sich die Ausbildung von IT-Fachkräften in Serbien lohnt
  • Warum die Systemlandschaft nur auf SAP s/4 Hana vereinheitlicht werden soll

CIO Angela Weißenberger schlendert zu ihrem zweiten Arbeitsplatz im Herzen von Belgrad - vorbei an Gründerzeitbauten mit bröckelndem Putz, Cafés mit Plüschsesseln, der polnischen Eurobank, der österreichischen Ersten Bank, dem Lacoste-Laden, H&M und Zara. Das Zara-Gebäude ist das Ziel. Hier arbeitet die CIO des ursprünglich deutschen Pharmakonzerns Stada in Etagen über dem Mode-Shop mindestens einmal im Monat bei der Stada IT Solutions.

Shared-Service-Center in der Fußgängerzone

Dieses Shared-Service-Center ist wahrscheinlich das einzige weltweit, das mitten in einer Fußgängerzone residiert. Beste Lage in ganz Serbien. Die Airbnb-Preise schwanken hier zwischen 12 und 34 Euro pro Bett. Wie ist Stada dorthin geraten? "2012 sind wir unsere Sourcing-Strategie angegangen", erklärt Weißenberger, die seit 2010 die IT von Stada leitet: "Wir hatten im Brot-und-Butter-Geschäft viel zu viele Externe."

Weißenberger entwickelte daher den Vorschlag, diese Aufgaben nearshore in ein Corporate- Shared-Service-Center auszulagern, möglichst in ein Land, in dem Stada auch selbst vertreten ist und in dem es schon eine ausbaufähige IT-Abteilung gab. "Da blieben nur noch Russland und Serbien", sagt Weißenberger. Und hier, mitten in der Fußgängerzone von Belgrad, hatte die serbische Firma eine Immobilie, die genutzt werden konnte.

Angela Weißenberger mit Novica Bosnic, Abteilungsleiter des Competence Center SAP.
Foto: Stada Arzneimittel AG

Internationale Treffen lassen sich einfach organisieren

Stadas Produktion in Nischni Nowgorod, 400 Kilometer östlich von Moskau, liegt fern vom Headquarter in Bad Vilbel bei Frankfurt. Und Moskau selbst kostet mehr als die meisten anderen Metropolen. Serbien und Belgrad sind da näher und günstiger. Knapp zwei Stunden dauert der Flug von Frankfurt. Gut sieben Millionen Serben sind ein relativ kleiner Einflussfaktor auf die Weltwirtschaft - viele von ihnen emotional immer noch hin und hergerissen zwischen Russland und der EU. "Für uns ergibt sich der Vorteil, dass internationale IT-Treffen am einfachsten in Belgrad stattfinden können", sagt Weißenberger: "Weder die EU-Bürger noch die Russen brauchen hier ein Visum."

Die Top CIOs der Chemie- und Pharma-Branche
Markus Schümmelfeder
Seit April 2018 ist Markus Schümmelfeder neuer CIO des Pharmakonzerns Boehringer Ingelheim in Ingelheim am Rhein. Er war zuvor Corporate Vice President IT im Unternehmen. Schümmelfeder berichtet an seinen Vorgänger im CIO-Amt, den CFO Michael Schmelmer.
Martin Richtberg
Seit 1. Januar 2022 bekleidet Martin Richtberg die Position des Senior Vice President Information Technology, CIO und CDO von Wacker Chemie. Zuletzt war er dort Leiter des globalen Project-Engineering.
Annette Hamann
Annette Hamann ist seit 2020 CIO bei der Hamburger Beiersdorf AG. Ihre Vorgängerin Barbara Saunier ist im Ruhestand.
Dirk Ramhorst
Seit dem 1. Mai 2022 ist Dirk Ramhorst, ehemaliger IT-Chef von Wacker Chemie, CIO beim Spezialchemiekonzern Evonik. Seine Vorgängerin Bettina Uhlich ging in den Vorruhestand.
Michael Nilles
Henkel hat Michael Nilles am 1. Oktober 2019 zum Chief Digital & Information Officer (CDIO) ernannt. Er berichtet direkt an Carsten Knobel, CEO von Henkel. In seiner Position ist Nilles für die Bereiche Digital, IT, Geschäftsprozessmanagement und Corporate Venture Capital verantwortlich.
Abel Archundia-Pineda
Abel Archundia-Pineda ist seit Mai 2017 Head of IT Business Partnering Pharmaceuticals bei Bayer im Geschäftsbereich Pharma bei Bayer. Zuvor war er Head of IT for Novartis Technical Operations and Global CIO der Sandoz Division, Novartis AG.
Michael Jud
Michael Jud ist seit April 2017 Leiter IT beim Pharmahersteller InfectoPharm Arzneimittel und Consilium GmbH in Heppenheim im südlichen Hessen. Jud kommt vom Anlagenbauer Schenck Process in Darmstadt. Er berichtet bei seinem Arbeitgeber an den kaufmännischen Geschäftsführer. Neben dem Fokus-Thema IT-Sicherheit baut der gelernte Diplom Ingenieur SAP weiter aus und unterstützt das internationale Wachstum von InfectoPharm.
Alessandro de Luca
Alessandro de Luca war bisher Interims-Group CIO beim Pharmakonzern Merck. Der Konzern hat sich entschieden, de Luca dauerhaft in dieser Position zu beschäftigen.
Hermann Schuster
Seit 1. September 2021 ist Hermann Schuster Head of Information Technology bei der Lanxess AG. Er folgt auf Kai Finke. In seiner neuen Position will Schuster im Chemiekonzern ein Konzept für den Modern Workplace umsetzen und sich auf Cybersicherheit konzentrieren. Daneben steht der Rollout eines SAP S/4 Hana-Templates auf seiner Agenda. Schuster berichtet an den Lanxess-Finanzvorstand Michael Pontzen.
Bijoy Sagar
Bijoy Sagar ist ab Juni 2020 neuer Leiter IT und Digitale Transformation der Bayer AG. Er löst den bisherigen CIO und CEO der IT-Tochter Bayer Business Services (BBS) ab, der seine Konzernkarriere beendet. Die BBS wird aufgelöst. Sagar soll die Digitalisierung des Pharmakonzerns vorantreiben und die begonnene Neuaufstellung der IT ans Ziel führen. Er berichtet an den Finanzvorstand Wolfgang Nickl.
Martin Wiedenmann
Martin Wiedenmann ist seit Februar 2019 Head of Global IT/CIO der Atotech Group, einem weltweit agierenden Marktführer für Spezialchemie. Zuvor war er war seit Juli 2016 CIO bei Ledvance in München.
Andreas Becker
Andreas Becker ist seit April 2017 Vice President Information Technology/CIO beim Pharmakonzern Daiichi-Sankyo Europe in München. Im Oktober 2014 kam der Diplom-Kaufmann mit Schwerpunkt Wirtschaftsinformatik & EDV als Head of IT Strategy & Service Delivery ins Unternehmen.
Sandeep Sen
Sandeep Sen ist CIO der Linde Group. In dieser Funktion hat er Büros in Singapur und München. Weltweit führt Sen rund 1.100 Mitarbeiter. Er kam 1993 zu Linde Indien (vormals BOC India). Zuvor war er in der IT auf dem Finance-Sektor tätig. Dabei arbeitete er sowohl in Indien als auch in Großbritannien.
Peter Buchmüller
Seit Mitte Juni 2017 ist Peter Buchmüller IT-Leiter der Aenova Group, einem pharmazeutischen Auftragshersteller mit Sitz in Starnberg bei München. Der genaue Titel lautet: Senior Vice President Corporate IT Aenova Group. Buchmüller wechselte von der Molkerei Meggle in Wasserburg, wo er zuvor als Leiter IT tätig war.
Berthold Kröger
Berthold Kröger hat im Juli 2015 die IT-Verantwortung bei der K+S AG in Kassel übernommen. Der neue Leiter Corporate IT berichtet an den Vorstand Thomas Nöcker. Der promovierte Informatiker hat sein Studium an der Universität-Gesamthochschule Paderborn absolviert. Er arbeitete danach mehr als drei Jahre im Forschungs- und Technologiezentrum der Deutschen Telekom und war später in verschiedenen Positionen bei der Hochtief AG und der Hochtief Solutions AG in Essen beschäftigt.
Alexander Bode
Im Juli 2014 hat Alexander Bode den CIO-Posten beim Farbenhersteller DAW SE angetreten. DAW (Deutsche Amphibolin-Werke) ist vor allem bekannt durch Farbenmarken wie Caparol und Alpina. Bode kommt vom Pharmahändler Celesio, wo er seit 2013 als Global Head of IT Governance tätig war. Davor arbeitete der Wirtschaftsinformatiker viele Jahre bei der Freudenberg-Gruppe, wo er auch seine berufliche Laufbahn 2002 begann. Zuletzt verantwortete er dort von 2008 bis 2013 als Director ERP Europe das SAP Competence Center von Freudenberg Sealing Technologies.
Torsten Müller
Seit November 2018 ist Torsten Müller Head of Information Technology (CIO) beim Pharma- und Laborzulieferer Sartorius AG mit Sitz in Göttingen. Zuvor war er Chief Digital Officer und Chief Information Officer sowie Mitglied der Geschäftsleitung der Versicherung Helvetia Deutschland in Frankfurt.
Stephan Heinelt
Stephan Heinelt ist seit September 2018 Group CIO beim Spezialchemiekonzern Altana AG mit Sitz in Wesel. Der Diplom-Wirtschaftsinformatiker Heinelt war zuletzt Leiter Service Management Global IT Services bei der Evonik Industries AG in Essen.
Martin Kinnegim
Martijn Kinnegim ist seit März 2019 CIO der STADA Arzneimittel AG mit Sitz im hessischen Bad Vilbel. Kinnegim arbeitete zuvor bei Jacobs Douwe Egberts (JDE). Dort war er als Global CIO tätig und leitete die Integration der Gesellschaften DE Masterblender 1753 und Mondelez International in den weltweit führenden Kaffeekonzern.
Walter Grüner
Walter Grüner ist seit Mai 2019 Head of Information Technology beim Chemie-Unternehmen Covestro in Leverkusen. Zuvor war Grüner seit 2013 als Group CIO bei der KION Group AG tätig, einem Anbieter von Gabelstapler und Lagertechnik.
Tobias Günthör
Der Pharmakonzern Stada hat mit Tobias Günthör seit Anfang April einen neuen IT-Chef. Der Titel des 53-Jährigen lautet CIO/Senior Vice President IT at Stada Group.
Carsten Priebs
Zum 01.01.2024 wurde Carsten Priebs zum Digitalchef der Biesterfeld AG berufen.

Seit 2012 hat Serbien den Status eines EU-Beitrittslandes, genauso wie Montenegro und Albanien. Slowenien und Kroatien sind bereits Mitglieder der Europäischen Union. Serbiens Präsident Aleksandar Vucic fordert deshalb auch einen baldigen Beitritt, denn die meisten der EU-Forderungen habe man ja schon umgesetzt. Der für die Erweiterung zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn bemängelt jedoch Unzulänglichkeiten bei der Gewaltenteilung, der Pressefreiheit und unentschlossenes Vorgehen gegen Korruption und organisierte Kriminalität. Mit einem Beitritt sei deshalb frühestens zwischen 2019 und 2025 zu rechnen.

Drei Gründe für Serbien

Junge Serben frustriert diese vage Ansage natürlich. Zwölf Prozent von ihnen sind arbeitslos. Und auch die sehr gut Ausgebildeten können nicht das tun, was sie eigentlich könnten. Tamara Radivojevi? ist so eine: Sie bereitet gerade ihren zweiten Studienabschluss in Mathematik an der Universität von Belgrad vor, während sie studienbegleitend bei Stada IT Solutions arbeitet - und dabei tief ins Innere von SAP-Software vordringt. Bereits die dritte Generation von Studenten bildet Stada gerade in der eigenen "Juniorakademie" aus. Fast alle stellt das Unternehmen anschließend auch ein. "Tamara ist einer unserer Stars", sagt Weißenberger. Die junge Serbin lächelt verlegen.

Fachkräfte auszubilden lohnt sich für Stada in Serbien aus drei Gründen:

  1. Die Studenten bringen eine solide Grundausbildung mit. Die Universität von Belgrad mit ihren 90.000 Studenten genießt einen guten Ruf. Aber auch die anderen Hochschulen der Zwei-Millionen-Metropole müssen sich nicht verstecken.

  2. Sprache ist kein Problem. Die Studenten sprechen fließend Englisch, einige auch Deutsch. Allen ist klar, dass sie mit ihrer Muttersprache allein nicht weit kommen. Die ganze Stadt hat sich schon darauf eingestellt: Kyrillische Schriftzeichen stehen noch auf den Straßenschildern, aber kaum noch auf Werbetafeln.

  3. Junge Talente bleiben dem Unternehmen treu. Die Stada IT Solutions verzeichnet in Belgrad eine Fluktuation von gerade mal sieben Prozent pro Jahr. Die Zahl an an­deren attraktiven Arbeitgebern ist begrenzt. "Wir haben hier noch ein Alleinstellungsmerkmal", sagt Weißenberger: "Selbst die SAP in Serbien kann nur regionale Projekte anbieten. Bei uns können die Kollegen dagegen internationale Projekte machen."

Zum Beispiel die Integration von Thornton & Ross. 2014 hat Stada das englische Unter­nehmen gekauft. Inzwischen sind weitere in Australien, Argentinien und anderswo dazugekommen. Mehr als 100 Unternehmen gehören heute zu Stada. Wenn es nach Weißenbergers Willen ginge, sollten alle so schnell wie möglich ins zen­trale SAP-System integriert werden.

Seit 1986 internationalisiert Stada. Die 11.000 Mitarbeiter arbeiten mittlerweile in 125 Ländern. Der Hauptmarkt ist zwar nach wie vor Deutschland mit rund 30 Prozent vom Umsatz. Aber die anderen Länder ziehen nach. Zuletzt glänzte Italien in puncto Wachstum. Aber auch Länder wie Vietnam schaffen es mit Generika und eigenen Marken mittlerweile unter die Top Ten der Umsatzbringer. Seit 2001 ist Stada im deutschen Aktienindex MDax gelistet. Seitdem hat es seinen Umsatz vervierfacht.

SAP-Systemlandschaft soll auf S/4HANAlaufen

Durch Akquisitionen vor mehr als zehn Jahren und das schnelle Wachstum sind drei regionale SAP-Systeme innerhalb der Firma gewuchert: eines für Westeuropa, eines für Südosteuropa und eines für die Länder der ehemaligen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), also Russland und Co. Der Vorstand denkt darüber nach, eine einheitliche SAP-Landschaft zu schaffen. "Ich halte das für eine sehr gute Idee", sagt Weißenberger. "Und wenn wir diese SAP-Systemlandschaft schaffen, dann auf Basis von S/4HANA, denn die richtigen Innovationen finden nur noch auf S/4 statt."

Die IT-Kennzahlen der Stada Arzneimittel AG.
Foto: cio.de

Mit dem zweiten Release (16/10) sei ein Wechsel für Stada schon interessant geworden. Jetzt wäre Weißenberger froh, wenn sie auf das dritte Release (17/09) aufspringen könnte. Seit mehr als einem Jahr beschäftigen sich die Belgrader IT-Leute zusammen mit den Kollegen aus Bad Vilbel und Nischni Nowgorod mit dem Thema S/4. Tamara Radivojevi? und ihre Mentoren arbeiten trotzdem daran, Thornton & Ross auf den westeuropäischen Stada-Standard auf Basis von ERP ECC 6.0 zu heben. "Wir nutzen jetzt erst einmal das westeuropäische System für Thornton & Ross - natürlich, UK gehört zu Europa", sagt Weißenberger. "Dieses System wäre aber auch die Basis für das Global S/4, da es das größte System ist und das, das am meisten in Line mit den Corporate-Business-Prozessen ist."

Das serbische Fernsehen berichtet bereitwillig über Stada IT Solutions. Zu gerne hätten die Belgrader mehr solche Erfolgsgeschichten.
Foto: Stada Arzneimittel AG

Von R/3 zu S/4HANA - ein fundamentaler Architekturwechsel

Weißenberger hält diesen Architekturwechsel für ähnlich fundamental wie den Sprung von R/2 zu R/3: "Performante Realtime-Verarbeitung war überfällig. Wenn man CO-PA (Ergebnis- und Marktsegmentrechnung, Anm. d. Red.) betrachtet, kommt das eigentlich 20 Jahre zu spät." Zudem sei bei Stada eine Harmonisierung und Standardisierung der Prozesse auf Basis einer einheitlichen Systemlandschaft wichtig. Vermutlich wird Weißenberger in den nächsten Jahren noch öfter als einmal im Monat durch Belgrads Fußgängerzone schlendern. Immerhin arbeiten dort jetzt schon mehr ITler als in Bad Vilbel. Und vielleicht werden ja auch mal die Gründerzeitbauten neu verputzt.