Hans-Jürgen Cramer, Vattenfall Europe

Befreier der IT

08.03.2004 von Andreas Schmitz
Der IT-Vorstand des Energiekonzerns Vattenfall Hans-Jürgen Cramer ist Psychologe und Betriebswirt. Seine Unabhängigkeit von der IT sei sehr förderlich, denn sie würde ihn aus einer oft engen Betrachtungsweise herausholen, so Cramer.

Eine Hand voll Baukräne ragt über den Firmenhauptsitz des Energiekonzerns Vattenfall Europe in den Himmel - Neubau, Aufbau, Umbau in Berlin. Das ist wie die IT bei Vattenfall Ende 2002. "Unterschiedliche IT-Landschaften kompatibel machen", sagt der Vorstand für IT, Wärme und Vertrieb Hans-Jürgen Cramer, "ohne einen bestimmten Prozess zu oktroyieren." Das sei die erste und wichtigste Aufgabe gewesen - weit mehr als eine rein technische Aufgabe. Nicht nur Daten sollten heute über SAP eine gemeinsame Sprache sprechen, sondern auch die Mitarbeiter des derzeit 19700 Mitarbeiter umfassenden Tochterunternehmens der Holding Vattenfall AB.

Die Verschmelzung der Lausitzer, Hamburger und Berliner Energieunternehmen, der Laubag, HEW, Bewag und Veag, zu Vattenfall Europe wurde erst vor knapp anderthalb Jahren verkündet. Schon heute spricht Cramer gerne von einer "Einheit in Vielfalt". Mitarbeiter der Bewag und der HEW säßen nun mittags an einem Tisch. Das ist auch sein Verdienst.

Die Beine lässig übereinander geschlagen, die Arme über dem Kopf verschränkt, schaut der Zwei-Meter-Mann Cramer aus der Fensterfront seines Büros im sechsten Stock in den Innenhof. Sein Blick fällt auf den gläsernen Aufzug gegenüber, in dem Besucher wie Mitarbeiter in der Regel hinauf fahren, auf den großzügigen Flur, auf gegenüber liegende Büros. Wer will, soll ruhig schauen, mit wem sich Vorstand Cramer trifft. Da möchte er keine Privilegien gegenüber anderen Mitarbeitern im Konzern. Und das Angebot, dem Vorstand anders als bei den Mitarbeitern Vorhänge vor seine Bürofenster zu montieren, erübrigt sich.

Cramer etablierte ein interessantes Machtgefüge. Er nennt es eine "Trinität" - eine Dreiteilung der IT-Macht. Da ist die im Herbst letzten Jahres gegründete IT-Tochter Vattenfall Europe Information Systems (VE IS), entstanden aus den jeweiligen IT-Abteilungen von Bewag, Veag, HEW und Laubag. Sie soll das IT-Geschäft im Konzern möglichst komplett mit seinen Dienstleistungen abdecken und hat derzeit 230 Service Level Agreements mit den Business Units im Konzern vereinbart - "2500 Seiten Papier", wie Cramer bemerkt. Da ist Hans Rösch, seit Oktober 2002 CIO, der mit seinem zehnköpfigen Stab "Richtlinienkompetenz" besitzt. Er setzt die IT-Standards, schafft globale IT-Sicherheit und sitzt im Lenkungsausschuss. IT-Vorstand Cramer ist als dritte und mächtigste Instanz im Bunde der Mann, der auch mal die Finger in die Wunde legt und den Nutzen von neuen Projekten abfragt und einfordert.

Kein neues Projekt ohne Business Case verspricht Cramer daher. "Klar, hier gibt es auch mal Differenzen über Mittel- und Zeitaufwand", so Cramer, der die Reizfragen für einen CIO kennt. Etwa das Zehn-Prozent-Budgetreduktions-Szenario, für das er Rösch bittet, einmal darzulegen, wo er dann was einsparen würde. "Was ist das Ziel des Projektes in einem Satz?", fragt Betriebswirt Cramer. Die drei Kriterien "wirtschaftlicher Effekt, personeller und zeitlicher Aufwand" stehen am Anfang eines jeden Vorhabens.

In den letzten anderthalb Jahren seit Bestehen von Vattenfall Europe wurden wichtige Projekte abgeschlossen: Im SAP-nahen Vattenfall-Verbund bildet SAP R/3 nun konzernweit das zentrale System. "Inzwischen haben über zwei Millionen Kunden Zugriff auf das neue Abrechnungssystem SAP IS-U, das ebenfalls konzernweit eingeführt wurde", sagt Cramer, "mit 99,9 Prozent Zuverlässigkeit bei der Datenmigration." Doch die technischen Spezifika kommen Cramer nicht so leicht über die Lippen wie einem CIO. Sein großes Ziel, die IT-Integration bis Anfang 2004 abzuschließen, hat Cramer erreicht. 23 Millionen Euro will CIO Rösch dadurch laut Business Case ab 2005 jährlich sparen. 30 Millionen Euro hat Vattenfall Europe allein für die Vereinheitlichung auf SAP R/3 in die Hand genommen.

Wenn Cramer auch dezidierte Rechnungen und Analysen einfordert, so ist er doch kein Sanierer, kein Zentralisierer auf Biegen und Brechen, sondern jemand, der den Mut hat, Verantwortung in den Fachbereichen zu belassen und auch Synergieeffekte in Zweifel zu ziehen. Jede Business Unit hat ihren Verantwortlichen für IT, den Business Information Officer (BIO). "Über dessen Kopf hinweg wollen wir möglichst keine Entscheidungen treffen", sagt Cramer. Erst wenn Chancen und Risiken ausgelotet sind, treffen Cramer und Rösch eine Entscheidung. So hat Vattenfall alle Fachbereiche über SAP in einem globalen Standard miteinander verbunden, andererseits tritt Vattenfall mit einer Drei-Marken-Strategie beim Kunden auf - als HEW in Hamburg, als Bewag in Berlin und sonst als Vattenfall.

Ein Risiko sieht Cramer allerdings darin, dass die Fachbereiche oft eine andere Sprache sprechen als die IT-Führung. "Manchmal erkennt der CIO den Wert einer Lösung nicht, manchmal ist es umgekehrt", so Cramer. Diese unsichtbaren Grenzen zwischen den Fachbereichen und der IT möchte der Psychologe auflösen und das sprachliche Niveau auf eine Ebene bringen. Hier kommt ihm seine Erfahrung zugute, die er als Leiter der Organisations- und Personalentwicklung bei der Bewag in den 90er-Jahren gemacht hat.

Um diesem Anspruch gerecht zu werden, werden nun Fragen gestellt - von beiden Seiten. Fordert beispielsweise der Bereich "Mining and Generation" Geld für eine neue Lösung, muss die IT verstehen, wozu das gut ist und ob an anderer Stelle im Konzern bereits eine vergleichbare Lösung vorhanden ist. "Unabhängig vom Unternehmenszweig stellen wir zunächst die Frage nach dem wirtschaftlichen Nutzen einer Lösung. Soll etwa eine neue Software implementiert werden, geschieht dies unter Beachtung der organisatorischen und strategischen Aspekte, nicht allein im Kämmerlein der IT-Experten", so Cramer.

Die Konsequenz: Die Fachbereiche behalten ihre Unabhängigkeit. Verhandelt ein BIO, wie kürzlich geschehen, etwa mit dem hausinternen Dienstleister VE IS über SLAs im Bereich von TFT-Flachbildschirmen, kann er sich auch selbst informieren, ob er die gleichen Leistungen woanders günstiger bekommt. Im Endeffekt reduzierte er den Preis um ein Drittel - ein erwünschter Effekt.

Die aufwendige Aufklärungsarbeit - forciert von Cramer - bei Vattenfall hat einen weiteren nützlichen Nebeneffekt: Jene Black Box zerbröselt, als die die IT in vielen Köpfen der Mitarbeiter lange Zeit vorhanden war. "Die IT ist erklärungsbedürftig, hat aber eine Support-Funktion für alle Abteilungen", erläutert Cramer den Unterschied zwischen dem Bereich IT und anderen Fachbereichen wie Generation, Heat oder Transmission. "Wenn Sie die Heizung aufdrehen, wird es nach einer Zeit warm, da gibt es nichts zu erklären." Das könnte ruhig auch eines Tages bei der Informationstechnik so sein.