E-Commerce Best Practice

Die digitale Strategie der Otto Group

12.03.2015 von Karin Quack
Rainer Hillebrand kennt sich aus mit E-Commerce: Seit 1999 treibt der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Otto Group den Online-Vertrieb voran. Die Trennung zwischen IT und Business hält er für überholt.

Was sind denn im Augenblick die Trends im E-Commerce? Offenbar geht es von "alles für alle" wieder in Richtung Vorauswahl für das Individuum, weil die Konsumenten von der riesigen Auswahl quasi erschlagen werden.

Rainer Hillebrand: Richtig, neben Megatrends wie dem "Internet of Things" und einer neuen Ära von digitalen Devices spielt das Thema personalisierter Angebote eine enorme Rolle für den künftigen Handel. Deshalb sind im Augenblick kuratierte Angebotsmodelle sehr interessant.

Unser neues Open-Commerce-Angebot Collins mit der Hauptmarke About you macht Shopping für eine junge Generation so individuell und inspirierend, wie es deren digitale Welt längst ist. Solche Sites sind konsequent Pull- statt Push-orientiert. Das heißt, sie leben davon, dass die Kunden im Zentrum stehen und zu ihnen kommen.

Rainer Hillebrand sieht eine Entwicklung des Handels hin zu kuratierten Angebotsmodelle.
Foto: Christian O. Bruch / laif

Was ist mit Social Media - so wie es beispielsweise Adidas mit seiner direkten Facebook-Anbindung an die Umkleidekabine versucht?

Rainer Hillebrand: Social Media hat bei unseren Konzerngesellschaften im Kontext von Kundenansprache und Kundenbindung eine hohe Relevanz. Wir haben auch mit Virtual Dressing Rooms experimentiert, weil es immer eine Gruppe von Fans für solche Anwendungen gibt. Aber ob das massentauglich ist, muss man erst noch abwarten. In der digitalen Transformation des Handels gilt grundsätzlich das Prinzip Trial and Error. Wir irren uns voran, aber eben voran. Wenn eine technische Lösung oder ein Angebot für den Kunden eine Problemlösung sein könnte, probieren wir es einfach aus.

Transformation des Kerngeschäfts

Welche Rolle spielen die von Ihnen unterstützten Startups dabei?

Rainer Hillebrand: Wir transformieren unsere Kerngeschäfte, bauen neue Angebote und Services wie Collins und Yapital auf und wir haben einen hohen dreistelligen Millionenbetrag in Corporate-Venture-Aktivitäten von e.ventures und Project A investiert. Durch dieses Engagement in über 100 Startups in zehn Ländern bekommen wir einen guten Überblick über die weltweiten Trends und Köpfe im Digital-Business. Das Know-how bringen wir in den Konzern hinein und unterstützen mit unserem Wissen die Startups. Corporate Ventures sind keine Einbahnstraße.

Die Startups sind ja eigenständige Unternehmen. Das heißt, sie könnten ihre Entwicklungen auch Ihren Mitbewerbern anbieten. Wie gehen Sie damit um?

Rainer Hillebrand: Das sehe ich gelassen. Wir pflegen vollständige Transparenz und müssen einfach besser sein als die Konkurrenz. Der Beste gewinnt am Ende. Zu ärgern brauchen wir uns doch nur, wenn wir etwas hätten nutzen können, es aber nicht getan haben.

Es ist großartig, dass die IT mittlerweile auf der Vorstandsebene angekommen ist. Aber auch bei Ihnen gibt es ja einen dedizierten IT-Bereich, der einbezogen werden sollte. Haben Sie eigentlich einen Chief Digital Officer?

Rainer Hillebrand: Auch bei uns gibt es eine Konzern-IT, die unter dem Begriff Transformations-Management bei einem meiner Vorstandskollegen angesiedelt ist. Einen Chief Digital Officer gibt es bei uns nicht, weil das Thema Technologie alle Geschäftsbereiche prägt und sich mithin alle Führungskräfte als Digital Officer fühlen müssen. Die stärksten Impulse kommen vermutlich aus dem Transformations-Management und aus meinem Bereich, aber das hießt nicht, dass Andere nichts damit zu tun hätten.

Digitalisierung in der Industrie - Spannende Projekte
Autobauer, Einzelhandel und sogar Tagebau
Wir zeigen gelungene Beispiele für die digitale Transformation deutscher und internationaler Unternehmen.
Red Tomato Pizza Dubai
Wer in Dubai Hunger auf Pizza bekommt, dem gereicht ein Knopfdruck zum Italo-affinen Gourmet-Glück. Der Red Tomato-Lieferdienst bietet einen Kühlschrank-Magneten an, der über die Koppelung an ein Smartphone dafür sorgt, dass die Lieblingspizza ofenfrisch und frei Haus schnellstmöglich anrückt.
Hamburger Hafen
Der Hamburger Hafen ist Europas zweitgrößter Containerhafen. Um die Effizienz der begrenzten Verkehrswege zu verbessern und größere Gütermengen umschlagen zu können, hat die für das Hafenmanagement zuständige Hamburg Port Authority (HPA) zusammen mit der SAP und der Deutschen Telekom in einem Pilotprojekt die IT-Logistikplattform "Smart Port Logistics" aufgebaut. Die IT-Lösung soll die Unternehmen, Partner und Kunden des Hafens enger miteinander vernetzen.<br /><br />Durch ein IT-gestütztes Verkehrsmanagement will man LKW-Fahrern Echtzeit-Informationen zu Frachtaufträgen und zur Verkehrslage bereitstellen. Dadurch sollen Staus im Hafen und auf den Zufahrtswegen sowie Wartezeiten minimiert und der Warenfluss optimiert werden. Die IT-Logistikplattform ist mit mobilen Applikationen ausgestattet, über die Lkw-Fahrer Verkehrsinformationen und Dienstleistungen rund um den Hafen mithilfe mobiler Endgeräte wie Tablet-PCs oder Smartphones abrufen können.
Drive Now
In kaum einem Industriezweig vollzieht sich die Digitalisierung so vielschichtig wie im Automotive-Sektor. Einen besonderen Stellenwert nehmen dort seit einigen Jahren die "individuellen Mobilitätsleistungen" ein - besser bekannt unter dem Schlagwort Carsharing. Der Münchner Autobauer BMW hat gemeinsam mit seiner Tochter Mini und dem Autovermieter Sixt das DriveNow-Programm ins Leben gerufen. Gefunden und gebucht wird ein Fahrzeug in der Nähe per Smartphone-App, bezahlt wird per Kreditkarte.
SK Solutions
SK Solutions koordiniert mithilfe einer neuen Plattformlösung Kräne und andere Maschinen auf Baustellen. Eingebaute Sensoren sammeln Echtzeit-Daten für die Live-Analyse; Bewegung und Steuerung der Baustellenperipherie werden daraufhin automatisch angepasst, um Unfälle und Kollisionen zu verhindern, die sonst - möglicherweise auch erst in einer Woche - passieren würden.
Xbox Live
Disketten und Cartridges sind längst passé - nun wendet sich die Gaming-Industrie langsam aber sicher auch von der Disc ab. Wie Sonys PlayStation Network bietet auch der Xbox Live-Service inzwischen viel mehr als nur Multiplayer-Schlachten. Games- und Video-on-Demand-Dienste machen physische Datenträger nahezu überflüssig. Zahlreiche Apps wie Youtube, Netflix oder Skype verwandeln die aktuellen Spielkonsolen in Multimedia-Stationen.
Novartis & Google
Der Schweizer Novartis-Konzern gehört zu den wenigen großen Playern der Pharma-Industrie, die die Digitalisierung vorantreiben. Zu diesem Zweck haben sich die Eidgenossen die Lizenz gesichert, Googles Smart Lens-Technologie für medizinische Zwecke nutzen und vermarkten zu dürfen. Konkret arbeiten die Wissenschaftler derzeit an neuartigen Kontaktlinsen. Diese sollen sowohl Diabetikern als auch Menschen die auf eine Sehhilfe angewiesen sind, zu mehr Lebensqualität verhelfen. Das funktioniert mittels Sensoren und Mikrochip-Technologie sowie der Koppelung an ein smartes Endgerät. Zum einen soll die Kontaktlinse so in der Lage sein sollen, den Blutzuckerspiegel eines Menschen über die Augenflüssigkeit zu messen, zum anderen die natürliche Autofokus-Funktion des menschlichen Auges wiederherstellen.
Dundee Precious Metal
Die kanadische Minengesellschaft Dundee Precious Metal setzt unter Tage klassische Netztechnik wie WLAN oder 10-Gigabit-Glasfaser ein, um den Bergbau zu automatisieren und Edelmetalle effizienter zu fördern. Laut CIO Mark Gelsomini arbeitet das Unternehmen dank der neuen Technik nun 44 Prozent effizienter.<br /><br />Im ersten Schritt wurden klassische Kommunikations-Devices auf Voice over IP und Voice over WLAN umgestellt sowie neue Sensorsysteme verbaut. Fernziel ist, dass die Geräte unter Tage künftig ferngesteuert von der Oberfläche gesteuert werden, um so die Zahl der Bergleute, die einfahren müssen, zu reduzieren.
Axel Springer
Beim größten deutschen Medienhaus Axel Springer nimmt die Digitalisierung einen hohen Stellenwert ein. Im Jahr 2012 erwirtschaftete Springer mit den digitalen Medien erstmals mehr als mit seinen Print-Erzeugnissen. Doch nicht nur Paid-Content-Modelle wie "Bild Plus" sorgen für klingelnde Kassen - auch das Jobportal Stepstone.de, die Beteiligung an der Fitness-App Runtastic, die Etablierung des Reisemagazins travelbook.de, sowie zuletzt die Übernahme der Plattform Immowelt zeugen von dieser Entwicklung.
General Motors
General Motors hat eine eigene Software-Entwicklungsabteilung mit 8000 Developern aufgebaut und damit einen Outsourcing-Vertrag mit HP abgelöst, der den Konzern drei Milliarden Dollar im Jahr kostete. Der Autobauer entwickelt die Software-Lösungen für seine Autos und den internen Gebrauch nun komplett selbst, um besser auf Kundenwünsche eingehen zu können.
Deichmann
Wenn es um Schuhe geht, ist derzeit kein Unternehmen in Deutschland erfolgreicher als Deichmann. Das dürfte auch daran liegen, dass das Familien-Unternehmen als erster Schuhhändler Deutschlands einen Online-Shop installierte - im Jahr 2000. Inzwischen fährt Deichmann eine Omnichannel-Strategie und möchte den Online-Handel konsequent mit klassischen Einzelhandels-Geschäftsmodellen verknüpfen...
Deichmann
... Konkret sollen im Herbst die beiden Modelle "Ship2Home" und "Click&Collect" starten: Kunden sollen Schuhe, die im Laden nicht auf Lager sind, bequem nach Hause ordern können oder - andersherum - online in die Filiale. Social Networking, Blogging und Apps gehören ebenfalls zum Konzept von Deichmann. Dabei scheut man sich auch nicht davor, neuartige Konzepte zu testen. So bot das Unternehmen für einige Zeit auch virtuelle Schuhanproben an - die sich allerdings nicht durchsetzten.
Kreuzfahrtschiff "Quantum of the Seas"
Satelliten-Wifi auf Hochsee, Cocktails an der Bionic-Bar, digitaler Meerblick in der Innenkabine, bargeldloses Zahlen an Bord mit RFID-Armbändern und lückenloses Gepäck-Tracking: Die "Quantum of the Seas" von Royal Carribean kreuzt als schwimmendes High-Tech-Paradies in der Karibik und lässt keinen Geek-Wunsch offen.
Rewe
Die Frankfurter Allgemeine bescheinigt dem Lebensmittel-Konzern, es sei "wie kein anderes in seiner Branche dem Zeitgeist gnadenlos auf der Spur". Dabei ist die Rewe Group im Vergleich zum Konkurrenten Tengelmann erst recht spät auf den Digitalisierungszug aufgesprungen. Der erste Schritt war die Einführung von Online-Bestellungen, ...
Rewe
... inzwischen erlauben viele Rewe-Kassenterminals auch die Bezahlung per Smartphone. Überraschend hat sich das Unternehmen Anteile am Online-Möbelhändler Home24 gesichert. Warum? Rewes E-Commerc-Chef Lionel Sourque verrät: "Wir müssen von diesen Verrückten lernen, denn uns fehlt das Online-Gen in unserer Händler-DNA."
Commonwealth Bank of Australia
Die Commonwealth Bank of Australia ist das beste Beispiel dafür, dass es sich lohnt, beim Thema Digitalisierung Early Adopter zu sein. Im Jahr 2008 lief die digitale Umstrukturierung an - inzwischen hat das australische Finanzinstitut alle Privat- und Unternehmenskonten in ein einheitliches digitales System übertragen und ist dank neuer Strukturen laut den Management-Beratern von Bain&Company die Nummer 1 in Australien beim Online-Banking. In der Gunst der jungen Kunden liegt das nahezu vollständig digitalisierte Finanzinstitut ebenfalls an erster Stelle.

Wie spielt der IT-Bereich da hinein?

Rainer Hillebrand: Technologie, und IT ist ein Teil davon, hat eine enorme Aufwertung erfahren. Wir erinnern uns doch alle, wie vor vielen Jahren Business-Verantwortliche eine Anforderung an die IT formulierten, sie in die Hauspost gaben und sich die IT-Kollegen im Keller zwei Jahre daran abarbeiteten. Die IT wurden als die "Nerver" betrachtet, die nie pünktlich fertig wurden und sich auch so fühlten - nicht wertgeschätzt.

Und wie ist das heute?

Rainer Hillebrand: Das hat sich fundamental geändert. Die Vorstände und Führungskräfte sehen IT heute als strategischen Erfolgsfaktor. Infolge der Digitalisierung ist die Technologie so stark aufgewertet worden wie nie zuvor und wächst mit dem Business zusammen.

"Umarme des Business"

Aber ist damit auch die Bedeutung des IT-Bereichs gewachsen?

Rainer Hillebrand: Das kommt auf den CIO an. Ich würde ihm immer raten: Bleib nicht in deiner technischen Ecke, geh auf das Business zu, umarm es und sag ihm: Wir beide schaffen es nur gemeinsam. Das Denken in Silos, Macht und Zuständigkeiten ist ohnehin überholt. Heute müssen Entwickler und Businessleute nebeneinander arbeiten. Bei Collins etwa arbeiten 50 Prozent Entwickler. Die setzen sich immer wieder mit den Business-Leuten zusammen, um zu prüfen, zu ändern und zu verbessern. Wir befinden uns auch hier in einer Transformationsphase.

Meine Rolle beispielsweise besteht gar nicht mehr darin, den Leuten zu sagen, was sie tun sollen. Ich muss vielmehr die besten Leute finden, sie für ein Thema begeistern, sie miteinander vernetzen und ihnen den Rücken freihalten, damit sie arbeiten können. Und diese Arbeit vollzieht sich nicht in jahrelangen Projekten, sondern in Time-Boxen und agilen Arbeitsrhythmen.

Wie manifestiert sich die höhere Bedeutung der IT denn in der Geschäftsstrategie?

Rainer Hillebrand: Wir haben IT eindeutig als strategischen Erfolgsfaktor ausgerufen. Wir haben drei Treiber für die künftige Entwicklung des Konzerns identifiziert: Der erste betrifft die Kultur, die wir schaffen, um das digitale Geschäft noch besser abbilden zu können. Der zweite Enabler ist Business Intelligence: die intelligente Nutzung von Daten, um den Konzern erfolgreicher zu machen. Und der dritte ist Technologie einschließlich der IT.

Zehn Thesen zur Digitalisierung
Zehn Thesen zur Digitalisierung
In Zusammenarbeit mit dem IT-Dienstleister Dimension Data hat Crisp Research Ende letzten Jahres die unabhängige Studie "Digital Business Readiness" umgesetzt. Ziel war es, ein Stimmungsbild deutscher Unternehmen zum aktuellen Stand ihrer digitalen Transformation zu zeichnen. Hier finden Sie Zehn Thesen, die sich aus dieser Studie ableiten lassen
1. Die digitale Transformation ist bereits in vollem Gange ...
... und hat mittlerweile sämtliche Branchen mehr oder minder fest im Griff. Dennoch steht die Wirtschaft noch am Anfang eines langen Transformationsprozesses.
2. Die digitale Transformation wird die Unternehmen ...
... in den kommenden Jahren in Gewinner und Verlierer spalten.
3. Das Gros der deutschen Unternehmen hat erkannt, ...
... welche weitreichenden Implikationen der digitale Umbruch nach sich zieht. Die absolute Mehrheit sieht sich gut bis sehr gut dafür aufgestellt. Allerdings haben nur 42 Prozent bislang eine funktionierende Digitalstrategie.
4. 39 Prozent der befragten Unternehmen sehen sich als Profiteure ...
... und Gestalter des digitalen Wandels. 61 Prozent bezeichnen sich als Mitläufer und Skeptiker.
5. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Digital Excellence ...
... und der erfolgreichen Implementierung einer Digitalstrategie. So haben bereits zwei Drittel (67 Prozent) der Digital Champions (Profiteure und aktive Gestalter) ihre Strategie erfolgreich implementiert und mit der Umsetzung in die Praxis begonnen.
6. Die IT-Abteilungen sind die entscheidenden Akteure, ...
... wenn es gilt, die Strategie zu entwerfen und die Aktivitäten im Prozess der digitalen Transformation zu steuern und umzusetzen. Allerdings wirkt das Thema weit über die Grenzen der IT-Abteilung hinaus.
7. Die Kunden sind Treiber der digitalen Transformation.
Von ihnen gehen die Veränderungen aus.
8. Das Rechenzentrum ist das Epizentrum der Digitalisierung.
Für mehr als zwei Drittel der Befragten (68 Prozent) ist es die alles entscheidende Basis der Digitalisierung.
9. Für eine zukunftssichere Infrastruktur ...
... sind Investitionen nötig, die über das Rechenzentrum hinausgehen.
10. Mehr als 80 Prozent der Unternehmen glauben, ...
... dass sie für eine konsequente Umsetzung der digitalen Transformation professionelle Partner brauchen. Diese sollten eine hohe Kompetenz bei der IT-Integration sowie umfangreiches Prozess- und Branchen-Know-how mitbringen.