IT-Manager wetten

Die Digitalisierung demokratisiert die IT

22.01.2020
Helmuth Ludwig, ehemaliger CIO der Siemens AG und Juraj Dollinger-Lenharcik, Head of Digital Incubations & Execution bei Siemens wetten, dass sich in den nächsten fünf Jahren die Mach(t)verhältnisse zwischen IT-Profi und Anwender deutlich in Richtung der Anwender verschieben werden.
Helmuth Ludwig war bis Ende 2019 CIO der Siemens AG.
Foto: Siemens AG

Vielleicht erinnern Sie sich noch? Wer Anfang der 90er-Jahre eine Internet-Seite erstellen wollte, benötigte Programmierkenntnisse in HTML, PHP oder Perl und musste einen Webserver aufsetzen. Heute kann wirklich jeder innerhalb eines Tages einen Webshop erstellen und die eigenen Erzeugnisse - von den selbstgestrickten Socken bis zur High-tech-Lösung - einem weltweiten Markt zur Verfügung stellen.

Voraussetzung für den Siegeszug des Internets als Motor für die Schaffung von neuen Geschäftsmodellen war die Tatsache, dass auch Laien sehr einfach, schnell und kostengünstig im Web aktiv werden und individuelle (Geschäfts-)Ideen realisieren konnten.

Eine vergleichbare Entwicklung sehen wir für die digitale Transformation durch die Anwender von Enterprise-IT voraus. Den technologischen Boden hierfür bereitet zum Beispiel der Bereich Applikationsentwicklung mit Low-Code-Plattformen oder AI-"Demokratisierung" mit Hilfe von Machine Learning. Diese Technologien werden die bisherigen Wertschöpfungsketten der IT neu definieren und Veränderungen in Organisationen, Prozessen und Mindset erfordern.

Bei Siemens nimmt diese Zukunft schon heute Gestalt an. In der Vergangenheit sah die Schnittstelle zwischen Geschäft und IT etwa so aus: In den Geschäftseinheiten wurden Spezifikationen geschrieben und dann an die IT-Fachabteilung übergeben, um die beschriebenen Anforderungen in IT-Lösungen zu übersetzen und in einem PoC (Proof of Concept) zu realisieren.

Mit zunehmender Beschleunigung und Komplexität in den geschäftlichen Anforderungen und in den IT-Lösungen endet der Versuch, alle Einflussfaktoren zeitnah in einer brauchbaren Spezifikation zu "verewigen", immer öfter mit dem "Burnout" einer Geschäftsidee.

Agiles Projekt-Management beschleunigt den Prozess und hilft, Komplexität zu managen. Ein Schritt in die richtige Richtung. Um die Verheißungen der digitalen Transformation in Ergebnisse im Geschäft umsetzen zu können, braucht es aber noch mehr Schub.

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Foto: CIO.de

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Wir erstellen schon heute in gemischten Teams mit Hilfe einer Low-Code-Plattform innerhalb von zwei bis drei Tagen MVPs (Minimum Viable Products), um die Möglichkeiten und Business Cases direkt im jeweiligen Geschäftskontext zu erproben. Einzelne Sprints können dabei von zwei Wochen auf zwei bis drei Stunden verkürzt werden. So hat etwa ein Team, das die Zusammenarbeit von Data Scientists und Mitarbeitern der Finanz-Community verbessern wollte, mit Hilfe von Low Code ein MVP für eine innovative Collaboration-Plattform implementiert und diese direkt dem CFO vorgestellt.

Der CFO konnte auf dieser Grundlage den Ansatz und Mehrwert sofort nachvollziehen, hat ihn für wertstiftend befunden und das benötigte Budget für die Weiterentwicklung freigegeben. Über die traditionellen Powerpoint-Entscheidungsfolien wäre es aufwendig und langwierig gewesen, den Mehrwert zu vermitteln und auf einer abstrakten Ebene zu einer Entscheidung zu bringen. Ähnliche Beispiele beobachten wir inzwischen an vielen Stellen des Unternehmens.

Low Code bringt Agilität

Low Code macht uns agiler als nur AGIL. Schnell Ergebnisse zu sehen, macht Spaß, motiviert und setzt jede Menge kreative Energie frei. Mit zunehmender Erfahrung der Business-Kollegen im Umgang mit der Low-Code-Plattform sehen wir immer öfter MVPs auch ganz ohne Zutun der IT entstehen, zum Beispiel in Pro­zessen mit Digitalisierungspotenzial rund um Mergers & Acquisitions, Cybersecurity, Factory Shopfloor, Logistikplanung und Community-Management.

Weil die zur Verfügung gestellten Plattformen bereits grundlegende Funktionen wie Cybersecurity, saubere Schnittstellen etc. "eingebaut" haben, kommen die IT-Spezialisten oft erst dann wieder ins Spiel, wenn das MVP weiter skalieren soll, Back-Office-Systeme eingebunden werden müssen oder noch komplexere Anforderungen vorliegen.

Eine vergleichbare Entwicklung sehen wir auch im Bereich AI (Artificial Intelligence) und ML (Machine Learning). Wer bisher eine Idee für eine ML-Anwendung hatte und erproben wollte, musste sich einen der sehr gefragten Data Scientists erkämpfen, eine entsprechende Infrastruktur aufbauen und die Datenintegration sicherstellen - ein zeitaufwendiges und mitunter auch nervenaufreibendes Unterfangen. Zugleich eine Hürde, bei der viele Chancen auf der Strecke blieben.

Vortrainierte Modelle

Eine Lösung bieten ML-Bibliotheken mit vortrainierten Modellen, die einfach "per Klick" und ohne Programmierkenntnisse zu bedienen und zu nutzen sind - von wirklich jedem. Das läuft dann so ab: Der Anwender bereitet die Daten auf, lädt sie hoch und beauftragt eine AI, für diese Daten und die jeweilige Fragestellung den besten ML-Algorithmus zu finden und diesen anschließend hinsichtlich der Ergebnisse zu bewerten.

So entstehen schnell Modelle und Ergebnisse und die Lösung oder der Ansatz sind auf das ganze Unternehmen skalierbar. ML wird so einfach wie die Excel-Makros von heute. Voraussetzung hierfür sind gut in die bestehende IT-Landschaft integrierte Plattformen. Dabei ist uns auch wichtig, dass dem Anwender die genutzten Modelle transparent und nachvollziehbar bleiben, also was die AI mit den Daten macht und warum. Das trägt zur wichtigen Vertrauensbildung bei der Anwendung von AI-Methoden bei.

KI in der Praxis

Ein Anwendungsszenario: Unternehmen wie Siemens haben weltweit oft mehrere Hundert Fertigungsstätten. In all diesen werden während des Fertigungsablaufs immer wieder visuelle Qualitätskontrollen durchgeführt. Eine zentral gesteuerte Digitalisierung dieser Kontrollen und ihre Betreuung im Lebenszyklus wäre extrem zeit- und ressourcenaufwendig.

Durch die Demokratisierung des ML könnte jeder IT-affine Fertigungsmitarbeiter solche Digitalisierungs-Potenziale ad hoc identifizieren, Bilder zum Training des Systems bereitstellen, den ML-Algorithmus generieren lassen und produktiv schalten. Das heißt, fast jeder Mitarbeiter hat die Möglichkeit, seine Verbesserungsideen direkt umzusetzen. Darüber hinaus können die lokalen Kollegen auch nötige Änderungen (zum Beispiel aufgrund von Produkt- oder Zuliefererwechsel) innerhalb weniger Stunden dem ML-Modell direkt in der Fabrik antrainieren und dann aktiv schalten.

Was wird aus der IT?

Wenn sich immer mehr IT-Wertschöpfungsanteile ins Geschäft verlagern, was macht dann die IT noch? Haben die CIOs ausgedient? Wie gestalten sich die Schnittstellen zwischen Business und IT in der Zukunft? "Die beste Möglichkeit, die Zukunft vorherzusagen, ist sie zu gestalten" - im Sinne dieses Zitats von Abraham Lincoln haben progressive Unternehmen in den letzten Jahren ihre Organisation systematisch umgestaltet: weg von einer stark zentralisierten und effizienzfokussierten Aufstellung, hin zu mehr Geschäftsnähe, Globalität und Agilität in einer dezentralen und vernetzten Organisation. Leitmotive dieser Veränderung: Kundenmehrwert schaffen - und zwar schnell, Innovation und Wachstum ermöglichen, Verantwortung neu verteilen.

Produkte und Services werden dann mit "Ende-zu-Ende"-Verantwortung gesteuert, was es ermöglicht, ganz neue Wege in der Zusammenarbeit mit dem Kunden zu gehen. Wir selbst haben dabei interessante Beobachtungen und Erfahrungen gemacht. Auch dazu ein paar Beispiele.

Statt Demand-Management: Co-Inkubation, Influencer und Communities

In Zukunft werden keine Spezifikationen mehr geschrieben. Selbst User Stories werden in der Frühphase von Innovationsprojekten nur rudimentär verfügbar sein. Stattdessen werden Innovationen und Anforderungen als sogenannte Co-Inkubationrealisiert. Co-Inkubation bedeutet, gemeinsam mit dem Partner aus dem Geschäftsfeld und teilweise auch mit dem Technologieanbieter, die Möglichkeiten einer viel­versprechenden Technologie zu erproben und herauszufinden, welcher Mehrwert für das Unternehmen in einem spezifischen Kontext realisiert werden kann.

Mit Hilfe von MVPs werden auch die Anforderungen hinsichtlich Skalierbarkeit (im Unternehmen, nicht nur technisch), Sicherheit, Datenschutz, Ausfallsicherheit etc. geprüft und bei Bedarf die nötigen Voraussetzungen gemeinsam geschaffen.

Wenn neue Technologien und digitale Plattformen im vernetzten Unternehmen skalieren und deren maximales Potenzial ausgeschöpft werden soll, dann geht das nur über aktive Communities. In diesen werden erworbenes Wissen und Erfahrungen ausgetauscht und über Influencer Aufmerksamkeit für die Potenziale der Lösungen geschaffen. Beide gemeinsam helfen Neueinsteigern und Interessierten schnell und zielgerichtet, neue MVPs in ihrem Kontext zu realisieren. Sie werden damit zu Treibern der Weiterentwicklung und Nutzung einer Technologie beziehungsweise digitalen Plattform.

Statt Portfolio-Management: Digitale Plattformen und Citizenship

Durch den Einzug von zentral durch die IT bereitgestellten digitalen Plattformen - vergleichbar mit Plattformen im privaten Kontext wie Facebook & Co - geht der Trend zur "Citizenship" des Anwenders. Citizenship ist die Befähigung der Unternehmensanwender, über die neuen und intuitiv bedienbaren Plattformen selbständig ihre Anwendungsfälle umzusetzen.

Wer eine Idee hat, bekommt die Möglichkeit, diese schnell und zielgerichtet zu erproben und mit Gleichgesinnten in der Community zu diskutieren. Dadurch wird sich das klassische IT-Portfolio-Management nach und nach in Richtung einiger weniger, aber mächtiger Plattformen und zahlreicher Enterprise App Stores und API/ML-Stores verschieben.

Statt servicegetriebener IT: Zurück zur datengetriebenen IT

Heute basiert die Planung und Steuerung der Unternehmens-IT noch häufig auf IT-Services inklusive ihrer kompletten "Technologie-Stacks". Wie bereits beschrieben, wird dieser Ansatz zukünftig durch die Bereitstellung und das Management von Plattformen mit Enterprise App Stores und Tausenden von den Anwendern bereitgestellten Apps ersetzt. Eine ähnliche Entwicklung sehen wir auch für APIs (Application Programming Interfaces) und ML.

Durch diese Plattformen, die den Anwendern schnell und einfach Out-of-the-Box-Lösungen anbieten, wird die umständliche Entwicklung von spezifischen Modellen überflüssig und der Fokus der IT wird sich (wieder) zum Rohstoff "Daten" verschieben. Hier kommt das Stichwort "Data-driven Enterprise" ins Spiel, denn die schönen neuen Technologien nutzen nur, wenn man auch die entsprechende Datenbasis hat. Die Nutzung von Internet-of-Things-(IoT-)Plattformen, an die wirklich alle IT-Assets und die abgeleiteten Geschäftsprozesse angebunden sind, ist Voraussetzung, um sich diese Welt zu erschließen.

Erfindergeist "unlocked"

Plattformen mit niedrigen fachlichen Zugangsschwellen werden monolithische Services ersetzen. Durch Co-Inkubation und Communities verschwimmen die Grenzen zwischen Business und IT immer weiter. Anwender-Communities ersetzen Steuerungsgremien und werden zu Treibern für die Adaption und Skalierung der digitalen Technologien.

Exponentielles Wachstum von digitalen Plattformen, wie wir es im privaten Umfeld erlebt haben, wird zunehmend auch in der Enterprise-IT Einzug halten - davon sind wir überzeugt. Die IT bereitet dabei den Boden in Form von Plattformen und Community-Management - und die Anwender säen ihre Ideen ein, stellen Inhalte und Domänen-Know-how in Form von Apps bereit.

Keine Frage, mit den neuen Chancen werden sich auch neue Risiken ergeben. Wo alte Rollen wegfallen, werden neue entstehen müssen. Wer stellt die Transparenz und Angemessenheit der angewendeten Machine-Learning-Modelle sicher? Wie werden wir die Flut an Apps kanalisieren, um in Summe nicht nur effektiv, sondern auch effizient zu bleiben?

Die Schnellen gewinnen

Justin Trudeau, der kanadische Premierminister, sagte 2018 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos: "Noch nie war die Geschwindigkeit der Veränderung so schnell (...) und doch wird sie nie wieder so langsam sein." So wie bei der Internet-Revolution wird es auch in der digitalen Revolution nicht nur Sieger geben. Wer aus der Pole Position starten will, muss sich etwas einfallen lassen - und das schnell.

Der oder die CIO der Zukunft muss Visionär, Enabler und Influencer sein, muss die disrup­tiven Potenziale rechtzeitig erkennen, den Transformationsprozess aussteuern und das Ausschöpfen der Potenziale durch die neuen Technologien forcieren.

"Ingenuity" (Erfindergeist) ist seit über 170 Jahren Teil unserer Unternehmens-DNA. Die hier beschriebenen Lösungen werden es uns ermöglichen, das ganze kreativ-innovative Potential unserer Kollegen in aller Welt - sozusagen in Echtzeit - zugänglich und nutzbar zu machen. Das ist für uns ultimative Wertschöpfung - und Wertschätzung!

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