Hartmut Rosa

"Die eingesparte Zeit ist im Eimer"

11.03.2014 von Christopher Schwarz und Dieter Schnaas
Der Soziologe Hartmut Rosa über das große Rätsel der Moderne: Warum haben wir keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen?

Herr Rosa, Sie haben vor sieben Jahren eine Theorie der Beschleunigung vorgelegt, die von Ihnen immer wieder aktualisiert worden ist. Spricht die Dauerhaftigkeit des Themas, die Wertbeständigkeit seines Erfolgs nun für oder gegen Ihre Beobachtung, dass alles immer schneller alt wird?

Hartmut Rosa: Ich glaube eher dafür. Zumal ich immer betont habe, dass aller Beschleunigung auch ihr Gegenteil innewohnt. Denn einerseits vollzieht sich in unserer Gesellschaft der technische, soziale und kulturelle Wandel immer schneller. Andererseits bleiben die Prozessstrukturen dahinter stabil, etwa das eherne Gesetz des Wachstums. Hier sehe ich sogar Anzeichen der Erstarrung, der Kristallisation. Mittlerweile können wir uns ja eher das Ende der Geschichte vorstellen als eine Alternative zur Steigerungslogik des Kapitalismus. Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass Beschleunigung vor sieben Jahren ein Thema war, widerlegt nicht meine These, sondern sie ist die These.

Sind Erstarrung und Beschleunigung zwei Seiten einer Krise moderner Gesellschaften?

Ich bin kein Entschleunigungs-Guru. Langsamere Internetverbindungen oder langsamere Züge sind keine Lösungen. Allerdings glaube ich, dass eine Gesellschaft, die für immer mehr Wachstum und Innovationen sorgen muss, um sich strukturell zu erhalten, geradezu logisch auf eine Krise zuläuft. Wann reicht’s? Wann sind wir schnell genug? Nie.

Dass das soziale und ökonomische System einer Logik der dynamischen Stabilisierung folgt - es muss wachsen, damit es bleiben kann, wie es ist -, kann man gegenwärtig gut in Griechenland beobachten: Wenn die Wirtschaft schrumpft, verlieren wir Arbeitsplätze, machen Firmen zu, sinken die Staatseinnahmen, steigen die Ausgaben, kommt es zu einer Staatsschuldenkrise, verliert das politische System an Legitimation, bricht das soziale System zusammen.

Müssen wir wirklich immer schneller werden? Oder sollten wir nicht umgekehrt fragen: Welches Tempo ist gut für uns?

Doch, unbedingt. Es gibt nämlich Umgebungssysteme, die nicht Schritt halten können mit unserem Lebenstempo. Das Ökosystem zum Beispiel. Nicht dass wir Bäume schlagen und Fische fangen, ist das Problem, das haben wir schon immer gemacht. Aber wenn wir das in immer schnellerem Maße tun, kann sich das Ökosystem nicht mehr regenerieren.

Das Gleiche gilt für unsere Psycho-Systeme, die dem Lebenstempo nicht gewachsen sind – die Folgen sind Burnout und Depressionen. Oder denken Sie an das politische System: Je komplexer und pluralistischer die Gesellschaft, desto zeitaufwendiger sind die Verfahren der Entscheidungsfindung. Die Demokratie hinkt dann unvermeidlich hinter der Dynamik der ökonomisch-technischen Entwicklung her. Alle drei Phänomene können als krisenhafter Ausdruck einer sich verschärfenden Desynchronisation beschrieben werden.

Ihre Deutung der Moderne wäre demnach nicht nur eine Zeitdiagnose, sondern auch eine Zeit-Diagnose: Die Zeit selbst, sagen sie, sei aus den Fugen. Was meinen Sie damit?

Es gibt viele Beschreibungen der Moderne. Traditionell wird sie auf den Begriff von "Rationalisierung" und "Individualisierung" gebracht. In jüngerer Zeit wurde sie als Arbeits-, Freizeit-, Erlebnisgesellschaft, auch als Risiko-, Informations- oder Multioptionsgesellschaft gedeutet. Ich finde, dass diese Theorien in ihren Beschreibungen zu punktuell sind. Dass ihnen der Aspekt der Dynamik fehlt.

Darauf ist Joseph Schumpeter auch schon gekommen. Für ihn war der Kapitalismus eine gewaltige Maschine, die fortwährend Umwälzung, Fortschritt, Dynamik produziert.

Die soziologischen Klassiker hatten ein feines Gespür für die Wahnsinnsdynamisierung der Gesellschaft. Ich würde sogar sagen: Beschleunigung ist das verbindende Element ihrer Theorien. Nehmen Sie Karl Marx: Das Kommunistische Manifest ist nicht in erster Linie eine Klassenkampfschrift, sondern eine Beschleunigungsschrift: "Alles Ständische und Stehende verdampft", die Bourgeoisie jagt unwiderstehlich über den Globus… Oder Max Weber. Der zeigt mit seiner "Protestantischen Ethik", dass im Kapitalismus nicht Geldverlust, sondern Zeitverschwendung zur tödlichsten aller Sünden wird. Georg Simmel wiederum beschreibt die Großstadt als Tempophänomen, das uns kollektive Nervosität beschert. Und Émile Durkheim spricht von Anomie: Wenn die Normen der Lebensführung nicht Schritt halten mit dem sozialen Wandel, droht der Einzelne den Halt zu verlieren und es kommt zu Solidaritätsverlusten.

Platz 10: Bürokratie
Es könnte alles so schön sein: Die Tür ist zu, das Telefon klingelt nicht und das Projekt läuft. Aber immer wieder hindert die Verwaltung den Mitarbeiter daran, effizient zu sein. Acht Prozent der Befragten gaben an, jeden Tag ein bis zwei Stunden mit Bürokratie und Verwaltungsangelegenheiten zu kämpfen. Hier ein Formular, dort ein Antrag - da geht schnell viel Zeit drauf. Nur ein Viertel der Befragten gab an, sich überhaupt nicht damit befassen zu müssen.
Platz 9: SMS und Nachrichten schreiben
Vrrmvrrm vibriert das Smartphone in der Tasche. Darauf will geantwortet werden, egal, ob die erhaltene Nachricht beruflich oder privat ist. Das frisst Zeit: Jeder zehnte gab an, täglich ein bis zwei Stunden mit SMS oder anderen Nachrichtendiensten zuzubringen. Und genau so viele verbringen sogar mehr als zwei Stunden täglich damit, Nachrichten zu tippen. Natürlich verzichten viele auch während der Arbeitszeit nicht auf die Kommunikation per SMS. Und das frisst jede Menge Zeit.
Platz 8: Facebook und Co.
Ohne Social Media geht es nicht mehr, da sind sich alle Entscheider einig. Aber mit Social Media geht jede Menge Zeit drauf: Elf Prozent der Befragten verbachten ein bis zwei Stunden auf Facebook, Twitter und Co. Und satte drei Viertel der Befragten waren bis zu zwei Stunden aktiv in Sozialen Netzwerken unterwegs. Natürlich ist Netzwerken auf diese Art auch wichtig für die Karriere. Aber der Umgang mit Xing und anderen sollte nicht den aktuellen Job gefährden.
Platz 7: Pendeln
Wer nicht gerade das Glück hat, zuhause arbeiten zu dürfen, der muss jeden Tag ins Büro pendeln. Auch das kostet Zeit: 13 Prozent der Befragten sagten, dass sie jeden Tag viel Zeit mit Pendeln zubrächten. Da kann es hilfreich sein, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Wer schon unterwegs seine Mails sichtet, kann sich im Büro selbst auf Wichtigeres konzentrieren. Oder man kommt einfach mal ohne Stau und entspannter an. Das macht jeden produktiver.
Platz 6: Kollegen
Es gibt Tage, da muss man sich im Büro ganz genau auf die Arbeit konzentrieren und kommt kaum mit der Arbeitszeit aus. Die gesprächige Kollegin hat aber nichts anderes zu tun, als uns fesselnd die kurze Pause zu stehlen.
Platz 5: Meetings
Spätestens, wenn das Meeting bei Tagesordnungspunkt 27 angekommen ist, weiß man, warum Meetings auf Platz 5 der größten Zeitfresser gelandet sind. Sie ziehen sich hin, sind oft überflüssig und bringen meist wenig Problemlösendes mit sich. Fast jeder Fünfte (18 Prozent) hockt über eine Stunde am Tag in einem Meeting, 70 Prozent sogar bis zu zwei Stunden. Da hilft nur: Entweder die Meetings selbst reduzieren oder die Zahl der Teilnehmer. Oft genug sitzen einfach die falschen Menschen im Raum, die mit der Sache nur am Rand zu tun haben.
Platz 4: Vor-sich-Herschieben
Auf Platz 4 landet die Prokrastination, auch das Vor-sich-Herschieben genannt. Fast jeder Vierte (19 Prozent) packt die Dinge nicht sofort an und verbringt jeden Tag ein bis zwei Stunden damit, eben nicht in die Excel-Tabelle zu schauen. Laut Studie gingen zehn Prozent der Befragten Probleme und Herausforderungen sofort an. Dass die Prokrastination nur begrenzt hilfreich ist, wissen alle Beteiligten selbst am Besten. Wie man den inneren Schweinehund besiegt und Zeit spart, verrät die Studie leider nicht.
Platz 3: Fernseh gucken
Platz 3 frisst nun nicht gerade Zeit im Job, zugegeben. Es gibt wohl nur wenige Berufe, in denen es erlaubt ist, fernzusehen. Aber ausgiebiger Fernsehkonsum wirkt sich trotzdem aus. 26 Prozent sagten, dass sie jeden Tag ein bis zwei Stunden vor dem Fernseher verbrachten und immerhin 16 Prozent sogar mehr als zwei Stunden. Das frisst Zeit für andere, persönliche Dinge wie E-Mails schreiben, online shoppen und Netzwerken. Stattdessen fällt das dann in die Arbeitszeit. Wer auf den Plasma häufiger verzichten kann, der ist im Job garantiert auch effizienter.
Platz 2: Surfen
Wie viele Katzenvideos kann man sich an einem Tag anschauen? Hier noch eine Witz-Seite, dort noch mal schnell Nachrichten und Fußball-Ergebnisse checken: Schon surft man an einem einzigen Tag mehr als zwei Stunden im Netz. 80 Prozent gaben an, so viel Zeit mit Surfen zu verbringen, der Rest immerhin noch ein bis zwei Stunden. Wer sich hier disziplinieren kann, der arbeitet schneller und konzentrierter. Aber was ist der Zeitfresser Nummer Eins?
Platz 1: E-Mail-Flut
Im Minutentakt kommen sie hereingeflattert, reißen aus der Konzentration und stören den geregelten Ablauf: E-Mails. Ein Drittel der Befragten bearbeitet jeden Tag ein bis zwei Stunden die Post, und 22 Prozent sogar mehr als zwei Stunden. Dabei sind viele E-Mails unwichtig, bestehen aus langen Konversationen, die unüberlegt kopiert werden oder enthalten kaum Infos. Da hilft nur noch Zero-Email. Oder einfach mal das Postfach schließen.

Techniken zur Zeitersparnis

Und doch hat keiner je das große Rätsel gelöst: Warum gewinnen wir mit Hilfe der Technik ständig Zeit, nur um sie unterm Strich wieder zu verlieren?

Das ist in der Tat die große Frage. Fast jede Technik dient der Zeitersparnis. Das Auto, das Flugzeug, die Mikrowelle, der Fahrstuhl, der Rasierapparat, auch die Waschmaschine. Die wäscht zwar langsam, aber ich spare enorm viel Zeit. Wo diese Zeit bleibt? Das war der Ausgangspunkt meiner Überlegungen: Wie kann man die moderne Parallelgeschichte des Zeitwohlstands und der Zeitknappheit erzählen? Denn knapp war die Zeit ja bereits in traditionellen Kulturen, etwa wenn ein Unwetter heranzog und die Ernte noch nicht im Schober war. Aber Zeitknappheit als Lebensgefühl, das ist ein durch und durch modernes Phänomen, ein Rätsel, über das wir uns viel zu wenig wundern.

Lösen Sie’s auf!

Mein Lieblingsbeispiel ist der Vergleich von E-Mails mit Briefen. Wenn ich heute statt zehn Briefen zehn E-Mails schreibe, spare ich etwa die Hälfte der Zeit: Früher habe ich eine Stunde gebraucht, heute eine halbe. Macht eine halbe Stunde mehr Freizeit. Das Problem besteht nun darin, dass die Wachstumsrate meiner Kommunikation über ihrer Beschleunigungsrate liegt - dass ich statt zehn Briefen heute zwanzig Mails schreibe, das heißt: Ich brauche wieder eine Stunde. Aber auch in dieser Rechnung steckt schon ein Fehler, denn ich muss jetzt nicht mehr über zehn, sondern über 20 Vorgänge nachdenken, das heißt: ich brauche sogar mehr als eine Stunde. Kurzum, die eingesparte Zeit ist im Eimer. Jetzt habe ich nur noch die Wahl: Entweder ich brauche mehr Zeit für E-Mails als früher für Briefe. Oder ich muss mich beeilen. Dann lasse ich die Anrede weg, lese nicht mehr so genau - und komme unter Zeitdruck.

Jede neue Technik verspricht uns Zeitgewinne, um uns die Zeit zu rauben?

Nehmen Sie das Auto. Wir sind sieben Mal schneller mit dem Auto unterwegs als zu Fuß. Aber wir sind eben auch sieben Mal weiter weg von unserer Arbeitsstelle gezogen, raus ins Grüne. Wir haben uns auch an Anfahrten von mehreren hundert Kilometern gewöhnt, um einen Termin wahrzunehmen. Auf die Idee wären wir früher nie gekommen. Es ist immer das Gleiche: Der Horizont dessen, was man mit Hilfe neuer Techniken pro Stunde, Tag und Woche erledigen kann, wächst und schrumpft zugleich.

Okay, das erklärt unser Gefühl, ständig Zeit zu verlieren. Aber es erklärt noch nicht unser schlechtes Gefühl, ständig Zeit zu verlieren. Warum fühlen wir uns der Beschleunigung nicht gewachsen?

Weil uns die Synchronisation von Alltagszeit, Lebenszeit und historischer Zeit zunehmend schwer fällt. Unsere Alltagszeit ist von Routinen und Rhythmen geprägt: Aufstehen, Kinder in die Schule bringen, Abendessen, Tatort gucken. Aber natürlich entwickeln wir auch eine Perspektive auf unser Leben als Ganzes, stellen uns die Frage nach unserer Lebenszeit, also danach, wie wir unsere "biografische Zeit" verbringen wollen: Studieren? Kinder kriegen? Karriere machen? Früh in Rente gehen? Beides wiederum, Alltagszeit und Lebenszeit, ist eingebettet in die übergreifende Zeit der Epoche, die uns prägt. Die Verknüpfung dieser drei Zeitebenen ist das, was wir unter unserem "In-der-Zeit-Sein" verstehen.

Und das Gefühl fürs "In-der-Zeit-Sein" ist in der Moderne gestört?

Früher, in der ständischen Gesellschaft, waren Alltag, Lebenszeit und historische Zeit, waren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft integriert. Man war Bäcker, weil der Vater Bäcker war, und wusste, wie man als Bäcker zu leben hat. Die Zeitstruktur war zyklisch. In der klassischen Moderne gibt es alternative Lebensentwürfe. Der Sohn wird nicht mehr Bäcker, weil der Vater Bäcker ist. Er ergreift einen anderen Beruf, er lebt nicht mehr da, wo der Vater lebt und er hat auch eine andere politische oder religiöse Orientierung. Er hat den Anspruch, es anders zu machen. Seine Zeitstruktur ist generationen-gebunden und linear: Auf seine persönliche Lebensstrecke hin entworfen. Er hat eine übergreifende Idee von seinem Leben, die Idee, sein Leben als Erzählung zu entwerfen.

Ideengeschichtlich findet das seine Entsprechung in der Aufklärung. Das individuelle Leben ist auf ein Ziel hin gerichtet, soll sich runden. Und der Menschheit fällt die Aufgabe zu, sich zu vervollkommnen. Daran glaubt heute keiner mehr …

Richtig, es kommt zu einem neuen Übergang, zu der Vorstellung, dass die Welt sich zwar ändert, aber nirgendwo mehr hin schreitet. Die Spätmoderne setzt ein, wenn die Vorstellung von der Perfektibilität der Welt zerbirst - und die Veränderungsgeschwindigkeit sich ändert. Das Bewusstsein erhält sich, dass die Zukunft anders sein wird. Aber sie geht nirgendwo mehr hin, sie wird ziellos. Der Mensch entwirft sich seither nicht mehr langfristig, über die ganze Strecke seines Lebens hin. Sondern er muss nun alle paar Jahre abschätzen, ob er noch richtig liegt mit der Art, wie er lebt, wohnt und arbeitet. So kommt es zu Unplanbarkeiten, Fragmentierungen, Desynchronisationen.

"Wir laufen vom Abgrund weg"

Wann schlägt die Klassische Moderne in die Spätmoderne um?

Die neue Veränderungsgeschwindigkeit lässt sich nicht an Jahreszahlen festmachen. Sondern nur in ihrer Logik verdeutlichen. In der Kunst, in der Musik und Wissenschaft erreicht sie uns früher als auf der Ebene der persönlichen Biografie.

Die Harmonie der Musik und die Linearität der Malerei zerbersten bereits 1910 - die Harmonie und Linearität unserer Biografien erst seit den 1990er Jahren?

Ein Student sagt heute jedenfalls nicht mehr: Ich studiere Soziologie, weil ich Soziologe werden will. Sondern er sagt: Ich studiere "jetzt halt mal" Soziologie. Was ich damit sagen will, ist: Die Welt ändert sich nicht mehr von einer Generation zur nächsten, sondern kann schon in 10 Jahren eine ganz andere sein. Entsprechend ist das Zeitbewusstsein der Jungen episodisch: Jetzt ist es so, bald ist es anders. Die Postmoderne hat das Phänomen - übertragen auf Kunst und Architektur - gut beschrieben: Wir haben es nicht mehr mit einer Abfolge von Stilepochen zu tun, sondern mit einem experimentellen Stile-Spiel, mit der Kollage von Fragmenten.

Und übertragen auf die Wirtschaft heißt das: Wir wachsen nur noch um des Wachstums willen, weil unser Fortschritt kein Ziel mehr kennt, nichts als leere Progression ist?

So ist es. Wirtschaftliches Wachstum hat uns die Überwindung von ökonomischer Knappheit, also Wohlstand und Reichtum verheißen - und die Eroberung von Freiräumen zur schönen Gestaltung unseres Lebens. Kurzum, an Wachstum und Beschleunigung war das Versprechen eines qualitativen Fortschritts gebunden. Entsprechend hatten fast alle Generationen die Hoffnung, dass es "ihren Kindern mal besser gehen wird". Seit den 1990er Jahren hegen wir diese Hoffnung nicht mehr. Seither hoffen wir, dass es unseren "Kindern mal nicht schlechter gehen wird".

Und Schuld daran soll die Beschleunigung sein?

Jedenfalls haben Finanzmarktderegulierung, Globalisierung und Digitalisierung den Kapitalismus ins Leere beschleunigt. Keiner erwartet mehr, dass durch ökonomische Effizienz Knappheit überwunden und unser Leben besser wird. Im Gegenteil: Wahrscheinlich wird der Kampf um Ressourcen härter werden. Und wahrscheinlich müssen wir in Zukunft noch härter arbeiten - und zwar nicht, damit wir endlich ruhiger und üppiger leben können, sondern damit wir nicht in den Abgrund rutschen. Das ist meine zentrale These: Wir laufen in Zeiten der beschleunigten Beschleunigung nicht mehr auf eine Verheißung zu, sondern vom Abgrund weg. Die Idee des Wachstums ist nicht mehr: Wir müssen uns steigern, die Ressourcen besser nutzen oder fleißiger sein, um was Neues realisieren zu können. Sondern die Idee ist: Wir müssen jedes Jahr einen Zahn zulegen, damit alles bleiben kann, wie es ist.

Wir gehen doch längst nicht mehr arbeiten, um Güter und Wohlstand zu produzieren. Sondern wir produzieren Güter und Wohlstand, um Arbeit zu haben.

Aber das ist doch pervers. Sich unentwegt steigern zu müssen, damit uns die Arbeit erhalten bleibt, wenn recht eigentlich der materielle Mangel überwunden ist - das ist doch pervers.

Naja, wo kein Wachstum ist, fehlt auch der Wohlstand. Fragen Sie mal die Griechen oder die Jugendlichen in Spanien.

Wenn ich von Postwachstum rede, meine ich nicht eine Gesellschaft, die nicht wächst. Im Gegenteil, es gibt wichtige Bereiche, in denen wir wachsen, beschleunigen und innovativ sein müssen - etwa im Falle grüner Technologien. Aber zu wachsen und zu beschleunigen, um zu bleiben, wie wir sind, das ist ein Systemfehler.

Sicher, wir wachsen längst nicht mehr. Sondern erkaufen uns mit billigem Geld die Illusion, weiter zu wachsen. Aber was schlagen Sie vor? Wachsen ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht kein Systemfehler. Sondern primäre Voraussetzung für unternehmerisches Handeln.

Richtig. Ökonomisch tätig wird nur der, der Aussicht hat, mehr heraus zu bekommen, als er investiert hat. Das ist die Wurzel des Wachstumszwangs.

Und die wollen Sie jetzt rausreißen?

Ich will auf unsere verzweifelte Lage aufmerksam machen. Es gibt keine Fortschrittsidee mehr, aber wir müssen die Illusion von Fortschritt aufrechterhalten. Sonst bricht alles zusammen. Woher kommen denn Burnout und Depressionen? Aus dem Gefühl heraus, dass man immer schneller laufen muss, ohne irgendwo hinzukommen. Dass wir uns steigern müssen, ohne uns verbessern zu können.

Der Kampf gegen den systemischen Druck

Möglich. Aber warum dämonisieren Sie den Kapitalismus als ein System, dessen Logik größer ist als die Menschen, die ihm angeblich unterworfen sind? Sie können doch nicht allen Ernstes meinen, dass die Wachstums-, Leistungs- und Beschleunigungsimperative, die sie beschreiben, alle unsere Lebensbereiche auf totalitäre Weise durchdringen?

Es geht hier nicht um ein totalitäres politisches System, sondern um eine Art systemischen Druck. Er ergreift alle Bevölkerungsschichten, vom Banker bis zum Arbeitslosen - und er ergreift alle Lebensbereiche, bis hin zum Liebesleben. Das meine ich mit totalitär: Man kann sich gegen diesen systemischen Druck kaum zur Wehr setzen. Bei den Zeitnormen der Moderne handelt es sich eben nicht um ethische oder politische Normen, über die man streiten könnte. Sie wirken hinter dem Rücken der Akteure. Sie gelten ungefragt. Eine Norm aber, die alle Bevölkerungsgruppen und alle Lebensbereiche durchdringt, ohne dass sie kritisiert werden kann, ist totalitär.

Du liebe Güte. Sie erklären uns zu willenlosen Werkzeugen, zu Sklaven eines anonymen Beschleunigungsregimes. Marxismus, ick hör dir trapsen …

Ich bin kein Marxist. Aber ich finde Marx‘ These hochinteressant, dass die Kapitalbewegung zum Subjekt der Geschichte wird, die uns Menschen zu ihren Objekten macht.

Familie, Religion, Kunst, Sport, Reisen, ein Besuch im Kloster, der Sportverein - die Kapitalbewegung hat unser Leben bunt gemacht, uns ungeheure Optionen eröffnet, uns überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet, den Zwängen des täglichen Lebens zu entkommen.

Ein Manager mag für drei Wochen ins Kloster gehen. Aber das hat doch nichts mit dem richtigen Leben im falschen zu tun. Das ist doch nur eine neue Technik, um noch effizienter zu sein. Das nenne ich funktionale Entschleunigung.

Mit diesem Funktionsargument halten Sie Ihre Theorie wasserdicht. Sie können, funktional gesehen, alles zum Derivat der großen Beschleunigungsbewegung erklären.

Ich gebe zu, es gibt Alternativen. Zum Beispiel den hochbegabten Doktoranden, der gesagt hat: In diesem verhetzten Wissenschaftsbetrieb mache ich nicht mit, ihr könnt mich mal, ich gehe nach Indien, um dort zu meditieren. Der ist tatsächlich ausgestiegen. Aber der zahlt auch einen hohen Preis: Ein Zurück gibt es nicht. Auch aus Wirtschaftskreisen höre ich, dass gerade der hochbegabte Nachwuchs sich zuweilen totalverweigert. Offenbar gibt es ernstzunehmende Widerstandsressourcen.

Widerstand ist das Eine. Alltagsbeobachtungen sind das andere. Bei Klassentreffen stellt man häufig fest, dass die Menschen ortsfester und undynamischer sind als Sie annehmen. Überschätzen Sie nicht die innere und äußere Mobilmachung des modernen Menschen?

Vielleicht. Jedenfalls wechseln die Menschen nicht so häufig den Beruf und den Wohnort, wie es die Beschleunigungsthese nahelegt. Aber was bei Dableibenden wie Wegziehenden ins Unterbewusstsein einzieht, ist ein entschiedenes Kontingenzbewusstsein: Das Wissen darum, dass es die Möglichkeit und womöglich auch die Erwartung gibt, dass nicht alles so bleibt, wie es ist. In meiner Generation galt noch, dass man sich einmal im Leben positioniert. Es gab feste Karrierewege. Wer bei BMW oder Siemens anfing, ging davon aus, sein Leben lang dort zu bleiben. Wer heute ins Berufsleben einsteigt, verfährt nach der Regel: Mal sehen, was kommt.

Und ob etwas kommt oder nicht …

… ist ganz egal. Denn fest steht: Es kann etwas kommen. Weil es mich irgendwann privat oder beruflich wegzieht. Weil die Firma restrukturiert wird oder dicht macht. Das Bewusstsein dafür, dass der Wohnort, der Arbeitsplatz und die Familienverhältnisse sich ändern könnten, ist entschieden gestiegen.

Gestiegen ist in den westlichen Wohlstandsgesellschaften aber auch das Quantum an Freizeit. Acht-Stunden-Tage, Wochenenden, 30 Tage Urlaub im Jahr - wie verträgt sich Ihre These der zunehmenden Zeitknappheit mit dem Zuwachs an Freizeit?

Beschleunigung heißt nicht, dass wir weniger Freizeit haben, sondern dass wir unsere Zeit verdichten. Die meisten Menschen haben heute To-do-Listen im Kopf. Und diese Listen werden nicht nur, wie die Zeitbudgetforschung zeigt, immer länger. Auch wächst das Gefühl, die Listen nicht mehr abarbeiten zu können – und zwar unabhängig davon, wie viel Freizeit wir haben. Dass der Aufgabenberg immer größer wird und Zeit deshalb knapper, hat also gar nichts mit unserem Arbeits- oder Freizeitvolumen zu tun. Wir geraten trotz zunehmender Freizeit unter massivem Optimierungsdruck. Und ermahnen uns immer, wenn wir gerade etwas tun oder lassen, wir könnten eigentlich auch gerade etwas anderes tun oder lassen.

Das Problem der Coolness

Sie meinen, wir verinnerlichen die Beschleunigung der Zeit?

Ja, unser Verständnis von Muße hat sich geändert. Ursprünglich ist Muße ein anderes Wort für die klassische Idee des Feierabends. Ein Zustand der Ruhe, den man genießt, weil das Tagwerk vollbracht ist. Man sitzt am Kamin und liest ein Buch oder spielt Schach. Dieses Mußegefühl tritt heute kaum noch ein, weil man ständig glaubt, man müsste eigentlich noch dies oder das tun, wollte doch endlich wieder mal Joggen gehen, einen Kollegen anrufen oder mit der Mutter im Altersheim telefonieren. Selbst beim Kindergeburtstag wissen Sie, dass Sie zwischendurch noch mal schnell in Ihre Mails schauen könnten.

Trotzdem gibt es Zeiten und Zonen, in denen wir das Gesetz der Beschleunigung explizit außen vor lassen. Ein Unternehmen nimmt mich zeitlich doch ganz anders in Anspruch als etwa die Familie.

Sicher, man könnte auch das Ehrenamt nennen, den Sportverein, die Kirche …

… oder Weihnachten.

Unbedingt. Weihnachten ist ein Anachronismus, der rücksichtslos in das moderne Zeitregime hinein kracht. Und besonders innovativ ist es auch nicht: Seit 2000 Jahren dieselbe Geschichte. Ist das nicht großartig? Da sieht man endlich mal die Differenz zu allem, was wir sonst so treiben. Keine Beschleunigung, nichts …

… wenn da nicht der Stau vor Heilig Abend wäre, wenn alle nochmal schnell einkaufen, was essen, ins Theater gehen …

… und ihre To-do-Listen abarbeiten. Diese Listen verfolgen uns jederzeit, überall - und das bedeutet: Keine Sache hat mehr "seine" Zeit. Die festen Zeitfenster - Arbeit von sieben bis fünf, Dienstag Chor, Samstag Fußball, Sonntag Kirche - lösen sich auf - und unsere Lebenssphären verschränken sich, nicht zuletzt durch Smartphone, Handy, E-Mail. Nicht nur, dass der Beruf überall eindringt. Es ist auch umgekehrt: Während sie arbeiten, kann die Frau oder Tochter anrufen: Hast Du an die Milch gedacht? Kurzum, früher war für mich immer nur die Sphäre relevant, in der ich gerade unterwegs war. Heute geht alles durcheinander. Heute müssen wir Orte der reinen Sphäre regelrecht aufsuchen - und das, was früher depraviert war, ein rückständiges, armseliges Gebiet, ein Dorf ohne Zuganschluss, ohne Handy-Empfang, ist plötzlich der pure Luxus.

Und dann komme ich aus diesem Refugium zurück, fühle mich heroisch, noch drei Wochen auf Mails verzichten zu können - und habe spätestens dann das Gefühl, etwas verpasst zu haben und alles aufholen zu müssen …

So ist es. Denn die Welt hält ja nicht an - bis auf die Zeit rund um Weihnachten vielleicht, wenn die Gesellschaft als Ganzes das große Loslassen übt. Aber sonst? Die Informations- und Kapitalströme kennen kein Wochenende, die fließen weiter und immer weiter. Da kann ich mich allenfalls mal ausklinken. Am E-Mail-Account sehen Sie es am besten: Wenn Sie eine Woche weg sind, müssen Sie plötzlich viel schneller laufen.

Ich kann doch auch mal ein paar Mails ignorieren - und eine Woche Nachrichten löschen.

Aber dann habe ich vielleicht übersehen, dass die WirtschaftsWoche mich um ein Interview bittet.

Oder ich wappne mich durch Coolness.

Das hatte Georg Simmel auch schon im Sinn. Die Nervosität nimmt zu - und ich reagiere darauf mit Blasiertheit, lasse mich nicht an- und nicht aufregen. Der Nachteil ist, dass man dadurch möglicherweise die Fähigkeit verliert, sich berühren zu lassen. Nun wünschen sich die meisten Menschen aber eher mehr Empathie als weniger. Es gibt eine große Sehnsucht nach Resonanz - danach, berührt und bewegt zu werden: von anderen Menschen, von einer Landschaft, von einer Erfahrung. Das aber setzt voraus, dass man sich auf Anderes einlässt. Meine These ist: Wir können verstandesmäßig schnell in unterschiedlichen Lebenssphären agieren, aber nicht emotional.

Erfahrungen jenseits des Steigerungszwangs

Und deshalb, meinen Sie, geht uns das Gefühl des "In-der-Welt-Seins" verloren?

Jeder kennt das. Da kommt eine Mail: Bitte lass uns den Termin verschieben. Da kommt ein Anruf: Kannst Du noch ein bisschen Obst einkaufen? Da kommt eine SMS: Bis drei Uhr muss der Text fertig sein. Da erreicht dich ein Tweet: Wusstest Du schon, dass unser Schulfreund gestorben ist? Verschiedene Sphären, die ganz unterschiedliche psychische Anforderungen an uns stellen. Aber mal eben von Beruf auf Privat, von Denkarbeit auf Trauer umstellen - so etwas geht nicht innerhalb von 20 Minuten. Dann entsteht so etwas wie Blasiertheit, wie Entfremdung. Denn eigentlich hat das alles nichts mehr mit mir zu tun. Ich schaffe es nicht mehr, mir die Dinge anzuverwandeln.

Wie schafft man Abhilfe? Etwa dadurch, sich für bestimmte Dinge explizit nicht zu interessieren?

Das behaupten viele Zeitmanager, Lothar Seiwert etwa. Man müsse Prioritäten setzen. Es sei eine Charakterschwäche, nicht "Nein" sagen zu können. Aber was heißt das? Wenn mein neues Buch mir das Wichtigste ist - soll ich dann die Anfrage des Rektors ignorieren, der uns für die nächste Exzellenzinitiative in Stellung bringen will? Oder dem Studenten, der ein Empfehlungsschreiben braucht, bescheiden, sein beruflicher Werdegang stehe auf meiner Prioritätenliste leider ganz unten? Ich finde, es wäre eine Charakterschwäche zu sagen: Ihr könnt mich alle mal.

Was also bleibt uns übrig: Mit der Beschleunigung leben lernen?

Wir sollten darüber nachdenken, was wir eigentlich wollen, was ein "gutes Leben" ist. In den einschlägigen Ratgebern ist immer nur von Ressourcensteigerung die Rede: Wie werden Sie glücklicher? Wie werden Sie reicher? Wie finden Sie bessere Freunde? Ich behaupte: Wer diesen Ratgebern folgt, verfehlt das gute Leben. Stattdessen geht es um musikalische, körperliche, auch soziale Erfahrungen - Erfahrungen, die jenseits des Steigerungszwangs liegen …

... religiöse Erfahrungen ...

... unbedingt. Die Bibel ist ein einziges Dokument des Flehens, des Hoffens und Schreiens nach irgendeinem, der da ist und antwortet. Sie gibt ein Resonanzversprechen: Da ist jemand, der hört dich. Deshalb ist Religion für viele - entgegen allen soziologischen Prognosen - auch weiterhin ein attraktiver Erfahrungsbereich.

(Quelle: Wirtschaftswoche)