Analysten-Kolumne

Eine Frage der Zeit - Auswahl eines ECM-Systems

14.05.2008 von Martin Böhn
Viele Unternehmen haben erkannt, dass ein gutes Dokumenten-Management für den Unternehmenserfolg zwingende Voraussetzung ist. Deshalb steht Dokumenten-Management oder - in der moderneren Bezeichnung - Enterprise Content Management(ECM) weit oben auf den Wunschlisten vieler Manager und IT-Verantwortlicher.
Barc-Analyst Martin Böhn: "Der Erfolg des ECM-Systems ergibt sich aus seiner Nutzung, die Mitarbeiter müssen das System anwenden können und wollen."

Es ist nur eine Frage der Zeit wann alle Unternehmen entsprechend ausgerüstet sind. Für die jeweils betroffenen Firmen ist es eine Frage der Zeit bis so ein Projekt umgesetzt ist. Denn auf dem Weg zum funktionierenden ECM-System gibt es einige Hürden.

Projektplanung

Bereits bei der Projektplanung zur Auswahl eines ECM-Systems beginnen oft die Probleme. Durch schwer wartbare proprietäre Altsysteme, meist auf Access-Basis, oder teilweise völlig fehlende Möglichkeiten zur Steuerung der Dokumentenverwendung entsteht akuter Handlungsbedarf. Leider führt die Eile zu schlecht geplanten Schnellschüssen, die den Erfolg des Projekts und damit die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Unternehmens gefährden.

Schon bei der Projektdefinition gilt es, die richtige Philosophie für alle technischen und organisatorischen Maßnahmen zu definieren. Von Anfang an muss man sich bewusst machen, dass der Wert eines Dokuments durch seine Verwendung in Geschäftsprozessen bestimmt wird. Es geht also nicht um die reine Ablage oder Verteilung, sondern um die Unterstützung von Zugriffsmöglichkeiten und die Bereitstellung von Bearbeitungsfunktionen für die Erzeugung, Verwendung und gesicherte Ablage von Inhalten im Zuge der Leistungserstellung des Unternehmens. Dabei darf man sich weder von den Schlagworten der Anbieter aus Broschüren und Messeauftritten noch von den eingefahrenen eigenen Aufgaben und Prozessen einengen lassen.

Bei der Definition der prozessbezogenen Anforderungen müssen die Möglichkeiten der Systemunterstützung bei der Aufgabendurchführung berücksichtigt werden. Dokumenten-Management- Systeme erlauben eine Loslösung von Papier durch die digitale Vorgangsbearbeitung, was durch (Teil-)Automation von Routineaufgaben und Parallelisierungen die Durchlaufzeiten entscheidend verkürzen kann. Hierzu sind zumeist auch organisatorische Änderungen notwendig.

Die neuen Formen der Aufgabendurchführung verlangen häufig eine Verlagerung von Verantwortlichkeiten. Diese Umstrukturierung von Zuständigkeiten kann aber auch als Chance genutzt werden, von einer unflexiblen Aufbauorganisation in eine flexible Ablauf- oder Matrixorganisation zu wechseln. Bei der Einführung gilt es, die Komplexität für die späteren Anwender und das Projekt-Team gering zu halten. Eine Empfehlung für das Change-Management ist, die Projekte in einer der IT-Unterstützung aufgeschlossenen Abteilung zu starten, in der es "richtig brennt", die also eine Software-Lösung für das Dokumenten-Management herbeisehnt.

Die nach der Einführung erzielten Vorteile können offiziell oder über den "Flurfunk" kommuniziert werden, bis schließlich die anderen Fachabteilungen bei der Projektleitung nach der Lösung fragen. Die teilweise sehr aufwendige Aufgabe der Verantwortlichen, die späteren Anwender vom System zu überzeugen, wird so auf ein Minimum reduziert. Damit muss die Zielstellung sein, schnell eine funktionierende Lösung zu suchen, schon bei der ersten Planung aber das spätere Gesamtbild und die sich mit der Systemeinführung ergebenden Möglichkeiten im Auge zu behalten. Warten ist keine Option, Schnellschüsse führen aber zu unrentablen Investitionen und noch schlimmer zu einer nachhaltigen Ablehnung des Themas durch die Mitarbeiter.

Anforderungsanalyse und SW-Auswahl

Deshalb sollten bei der Software-Auswahl zuerst die Anforderungen erfasst werden. Dabei sind die Grundlage der Analyse die aktuellen und geplanten Aufgabenstellungen, bei denen Dokumente erzeugt, bearbeitet, weitergeleitet oder abgelegt werden. Hierbei darf nicht der Fehler gemacht werden, die bestehenden Abläufe direkt im System abzubilden. Die wesentlichen Vorteile der digitalen Vorgangsbearbeitung können nur ausgeschöpft werden, wenn die notwendigen organisatorischen und prozessbezogenen Änderungen durchgeführt werden. Nicht die bisherige Arbeitsweise, sondern die Ziele der Tätigkeiten sind entscheidend.

Zudem muss die Dimensionierung des ECM-Systems geprüft werden. Weder kleine Insellösungen noch allumfassende Mammutprojekte führen zum Erfolg. Hier heißt es, Einführungsphasen zu planen sowie auch bestimmte Funktionen in bestehenden (auch proprietären) Systemen zu belassen und lediglich über Schnittstellen anzubinden. Zuviel wollen bedeutet meistens, wenig zu erreichen.

Nun gilt es eine auf die Anforderungen passende Lösung zu finden. Der Markt ist von fehlenden Definitionen hinsichtlich der verwendeten Begriffe geprägt. Weder werden für gleiche Funktionalität gleiche Namen vergeben noch bezeichnen gleiche Namen immer den identischen Funktionsumfang. Basis muss auch hier ein an den Einsatzszenarien ausgerichteter Kriterienkatalog sein. Grundlage jeder Systementscheidung und Software-Einführung muss eine klare Anforderungsanalyse sein. Hierfür sind im Unternehmen anhand bestehender Aufgabenstellungen und der damit verbundenen Probleme konkrete Einsatzszenarien zu identifizieren, aus welchen die einzelnen Entscheidungskriterien abgeleitet werden können. Neutrale Verbände und Experten können helfen, das Lösungsspektrum zu erkennen und die Wahl der wirklich benötigten Eigenschaften aus der Masse der bereitgestellten Funktionen zu unterstützen.

Projektbetreiber im ECM.

Referenzen helfen, die Lösungskompetenz und Leistungsbereitschaft des Anbieters zu beurteilen, sind aber nur ein Aspekt der Untersuchung; auf ein explizites Lastenheft mit anbieterbezogenen, technischen und funktionalen Kriterien sowie auf detaillierte Kosten- und Umsetzungszeitpläne darf nicht verzichtet werden. Von Anfang an müssen eine klare Zieldefinition und ein strukturiertes Projekt-Management vorhanden sein, da sonst die Komplexität des Themas eine Erfolg versprechende Umsetzung zum Glücksspiel macht. Nur der hat eine Chance zu bekommen, was er haben will, der seine Wünsche auch klar formulieren kann.

Die Frage der Technik

Ohne Klärung der technischen Grundlagen ist kein Erfolg versprechender Einsatz möglich. Es muss eine Einbindung des ECM-Systems in die bestehende sowie die geplante Infrastruktur der Informationstechnologie möglich sein, hierzu zählen neben den Schnittstellen zu Fachanwendungen auch die im System verwendeten Komponenten wie Datenbank oder Web Application Server. Des Weiteren sollte das System über eine skalierbare Mehrschichtenarchitektur verfügen, um zukünftige Erweiterungen flexibel realisieren zu können.

Die Frage der Administration

Um die Komplexität bei Einrichtung und Betrieb des Systems zu reduzieren, sollte die Administration in verschiedene Teilbereiche getrennt werden können. Zum einen muss eine inhaltliche Trennung nach Administration der Anwendung selbst, Benutzer und Rollen, Dokumententypen, Rechtestrukturen und Workflows möglich sein. Zum anderen sollte eine Aufgabenverteilung in zentrale und dezentrale Aspekte vorgenommen werden. Durch das dezentrale Fachadministrationskonzept können entsprechend berechtige Mitarbeiter der Abteilungen selbst Ablagestrukturen oder Eingabemasken in einem zentral vorgegebenen Rahmen abändern, was die IT-Abteilung entlastet und gleichzeitig die schnellere Anpassung des Systems an die Anforderungen der Benutzer ermöglicht. Bei der Art der Administration sollte darauf geachtet werden, dass ein Großteil der Anpassungen ohne Programmierung vorgenommen werden kann, beispielsweise über grafische Editoren.

Die Frage der Steuerung

Zur Analyse und Überwachung des Systems stellen viele Anbieter bereits umfangreiche Reporting-Werkzeuge zur Verfügung, welche sowohl eine grafische Definition der Abfragen als auch verschiedene Möglichkeiten der grafischen Visualisierung der Ergebnisse ermöglichen. Neben technischen Aspekten (beispielsweise aktive Verbindungen zur Datenbank) können Aspekte der Nutzung (beispielsweise aktive Prozessinstanzen und aktueller Bearbeitungstand) untersucht werden, wobei die Verbesserung der Abläufe, nicht die Überwachung der Anwender das erklärte Ziel ist. Moderne ECM-Systeme erlauben hier neben vergangenheitsbezogenen Auswertungen (Reporting) auch eine Echtzeitbetrachtung, das so genannte Business Activity Monitoring.

Die Frage der Funktionalität

Das ECM-System muss die als Anforderungen gestellten Aufgaben erfüllen können. Dies klingt einfach, erfordert in der Praxis aber eine differenzierte Betrachtung der Arbeitsweisen. Ein wesentlicher Vorteil ist, dass unterschiedliche Arten des Zugriffs und der Nutzung von Informationen auf einem einheitlichen Datenbestand abgebildet werden können. Zudem werden die Grenzen zwischen den bisherigen Informationsinseln (beispielsweise Aktenschrank, File-Server und E-Mail-System) aufgehoben, da verschiedene Dokumentenquellen nach einheitlichen Standards integriert werden.

Es ist darauf zu achten, dass weder zu wenig noch zu viel Funktionalität implementiert wird. Angeregt durch das Marketing der Anbieter oder Beschreibungen erfolgreicher Projekte kann es zur unreflektierten Aufnahme von Anforderungen kommen, welche nicht nur das Projektbudget belasten, sondern auch die Gesamtkomplexität des Systems unnötig steigern. Daher sollte anhand konkreter Einsatzszenarien eine Ableitung der einzelnen, zur Umsetzung notwendigen Kriterien erfolgen. Des Weiteren sollte es das ECM-System ermöglichen, anhand der Rolle des Anwenders bestimmte Funktionen auszublenden, um eine auf den echten Bedarf angepasste Arbeitsumgebung bereitzustellen.

Die Frage der Ergonomie

Die zentralen Fragestellungen der Ergonomie sind die Benutzung der Funktionen und deren Einbettung in einen Kontext. Der erste Aspekt muss durch gewohnte Arbeitsweisen wie Drag & Drop, Tastatur-Shortcuts oder die Nutzung des Kontextmenüs möglich sein. Der zweite Aspekt bezieht sich auf die Wahl des Clients: Hier bieten viele Systeme neben Desktop- bzw. Fat-Client oder Web-Clients eine Integration in verschiedene Fachanwendungen an, insbesondere Office- und Enterprise-Resource-Planning(ERP)-Systeme, sowie das Betriebssystem selbst. Der Vorteil für den Anwender ist, dass er seine gewohnte Arbeitsumgebung nicht verlassen muss.

Bei der Verschlagwortung ist darauf zu achten, dass der Anwender nicht überfordert wird. Wesentliche Maßnahmen sind die starke Begrenzung der manuell auszufüllenden Pflichtfelder, die Bereitstellung von Auswahllisten an Stelle von Freitextfeldern sowie Nutzung von automatischer Indexierung (beispielsweise Übername des Betreffs einer E-Mail) soweit dies möglich ist.

Die Frage der Zusammenarbeit mit dem Anbieter

Analog zur Ergonomie der Software muss der Hersteller selbst "ein gutes Gefühl" vermitteln können, was eine fachliche Kompetenz voraussetzt, aber deutlich darüber hinausgeht. Ein wesentlicher Aspekt ist ein Verständnis für die Problembereiche, Restriktionen, Befürchtungen und Erwartungen der Anwendergruppen. Dies ist Grundlage für eine effiziente und angenehme Kommunikation während Auswahl, Einführung und Betrieb.

Bei auftretenden Problemen sind klar definierte und eingehaltene Service Level mit unterschiedlichen Kontaktkanälen und schnellen Reaktionszeiten entscheidend. Für die Administration und das Projekt-Management sollte auf einer klar kommunizierten Release-Politik bestanden werden, um den Aufwand für das Einspielen von Updates oder den Versionswechsel abschätzen zu können sowie eine weit reichende Investitionssicherheit für eigene Anpassungen und Ergänzungen zu erhalten.

Die Frage nach der Akzeptanz der Anwender

Der Erfolg des ECM-Systems ergibt sich aus seiner Nutzung, die Mitarbeiter müssen das System anwenden können und wollen. Daher ist auf ein gutes Change-Management zu achten. Die entstehenden Widerstände müssen frühzeitig durch eine offene Kommunikationspolitik, eine ehrliche Einschätzung des Aufwands und eine klare Verdeutlichung der (individuellen) Vorteile abgebaut werden. Zielstellungen sollten klar kommuniziert und dazu notwendige Änderungen in Prozess- und Organisationsstruktur erläutert werden.

Wenn alle diese Punkte bei der Auswahl beachtet werden, sollte es nur noch eine Frage der Zeit sein bis sich ein ECM-System im Unternehmen etabliert, amortisiert und rentiert.

Martin Böhn ist Senior Analyst des Business Application Research Center (BARC) in den Bereichen Enterprise Content Management (ECM), Dokumenten-, Prozess- und Wissensmanagement.