Trotz reduzierter Budgets

Innovationen gezielt fördern

16.06.2006 von Patrick Goltzsch
CIOs der Chemiebranche sind eigentlich zum Sparen angehalten. Aber für die Erschließung neuer Märkte oder für das Testen neuer Techniken dürfen IT-Leiter auch mal mehr Geld in die Hand nehmen.

„Mit weniger Geld muss die IT heute mehr erreichen“, so fasst Claudia Bernard, Beraterin bei Detecon, die aktuelle Situation für CIOs in der chemischen Industrie zusammen. Durch die Kürzungen der letzten Jahre steht ihnen meist ein geringerer Etat zur Verfügung als früher. Trotzdem erwarten die Unternehmen deutliche Steigerungen der Produktivität durch ihre IT-Projekte.

Bei etwa zwei Prozent vom Umsatz hat sich der IT-Etat im Branchendurchschnitt eingependelt. Die Zahl ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Werner Zesch, der bei Capgemini die Abteilung Chemie leitet, verweist auf die uneinheitliche Situation in der Branche: „Die Weltmeister bei den mittelgroßen Firmen liegen unter einem Prozent und machen alles im Standard“, so Zesch. Doch viele Firmen leisteten sich auch ein Budget, das mehr als drei Prozent ihrer Einnahmen ausmacht. Dabei vergrößert sich die IT-Kasse normalerweise nur im Rahmen des allgemeinen Unternehmenswachstums.

Ausnahmen bei der Ausgabendisziplin bilden Engagements im Ausland. Vor allem bei den laufenden Investitionen in Asien wird weniger geknausert. Besonders die größeren Konzerne arbeiten an einer IT-Infrastruktur und einer Softwarelandschaft, die der in deutschen Zentrale gleicht, so die Einschätzung von Bernard.

Generell strebt das Gros der Chemiekonzerne eine globale Harmonisierung seiner IT an.Die Basis bilden in der Regel die Applikationen aus Walldorf. „Weit über 50 Prozent der größeren Firmen haben SAP installiert“, konstatiert Zesch. Viele sind außerdem damit beschäftigt, die durch Übernahmen und länderspezifische Gesetze entstandene Vielfalt ihrer Anwendungen in ein weltweites System zu überführen.

Nicht jeder harmonisiert global

Doch nicht alle Unternehmen folgen diesem Trend, der etwa bei Bayer oder Degussa anzutreffen ist. So arbeitet die Helm AG zwar ebenfalls an der Anbindung der weltweiten Dependancen an die Zentrale. Doch dabei gehen die Hamburger eigene Wege. Den rund 40 internationalen Niederlassungen wird weitgehende Autonomie zugestanden, damit sie ihren lokalen Bezug stärken können. So exportiert das Unternehmen auch nicht sein selbst entwickeltes Warenwirtschaftssystem, sondern unterstützt zurzeit die Einführung von Navision an zwei Standorten. Mit diesem Ansatz arbeitet die Helm AG, die vor allem Dienstleistungen im Bereich der Distribution und Logistik anbietet, überaus erfolgreich. Das Unternehmen mit seinen 1200 Mitarbeitern steigerte den Umsatz um knapp 16 Prozent auf 4,75 Milliarden Euro im zurückliegenden Geschäftsjahr.

Installation und Betrieb der Software lagern die Unternehmen der Chemieindustrie häufiger aus.Von einem Boom kann jedoch keine Rede sein.„Es handelt sich bei der Auslagerung des Application-Managements an externe Betreiber um einen verhaltenen Trend“, sagt Zesch. Insgesamt sei die Branche beim Thema Outsourcing sehr konservativ. Zurückhaltend formuliert denn auch Joachim Reichelt, IT-Leiter bei der Wacker Chemie AG, den Maßstab für das Outsourcing:„Wir werden innerhalb der IT nur Dinge outsourcen, die wir vollständig kontrollieren und klar einen Qualitäts-und Kostenvorteil belegen können.“ Detecon-Beraterin Bernard sieht allerdings die Vorbehalte gegenüber Outsourcing schwinden: „Alles was gegenüber den Mitbewerbern nicht differenziert, also alles außer Forschung und Entwicklung sowie Produktionssteuerung, steht auf dem Prüfstand.“ Ebenfalls auf dem Prüfstand stehen neue Techniken. „Zu den kommenden Themen in der Chemiebranche zählen Funketiketten“, meint Bernard.

Doch anders als im Einzelhandel, wo RFID-Chips Warenein- und -ausgänge automatisch erfassen,wird das Einsatzgebiet in der Chemieindustrie zunächst eher die Werkslogistik sein. So könnten etwa die nötigen Schritte für Wartungsarbeiten auf einem Handcomputer erscheinen, wenn dieser das Funksignal der Etikette an einem Wartungspunkt empfängt. Gleichzeitig protokolliert das Gerät dann, dass dieser Punkt abgearbeitet wurde. Darüber hinaus können RFID-Chips helfen, das Fahrzeug- und Behälter-Management zu vereinfachen. Über das Werksgelände verteilte Empfangspunkte registrierten in diesem Fall die Signale der Chips, sodass sich der Weg eines Behälters nachvollziehen und sein aktueller Standort ausmachen lassen.

Claudia Bernard, Beraterin bei Detecon:
„Alles was gegenüber den Mitbewerbern nicht differenziert, also alles außer F & E und Produktionssteuerung, steht auf dem Prüfstand für das Outsourcing.“

In Pilotprojekten sammeln viele IT-Abteilungen auch erste Erfahrungen mit Service-orientierter Architektur (SOA). Die Ergebnisse sind teilweise noch recht ernüchternd. So beurteilt Reichelt seine Erfahrungen mit der SAP-Variante Enterprise Service Architecture (ESA) eher zurückhaltend: „Die ESA-Architektur ist für eine Firma wie Wacker, die in der Vergangenheit sehr stark auf eine stringente und harmonische SAP-Architektur gesetzt hat, sicherlich noch nicht transparent.“

Für ein weiteres Thema, dem die Unternehmen verstärkt ihre Aufmerksamkeit widmen werden, hat die Europäische Union gesorgt: 2003 ergriff sie die Initiative, um den rechtlichen Rahmen für chemische Stoffe zu modernisieren. Damit ist auch ein System zur Registrierung, Bewertung und Zulassung chemischer Stoffe – REACH – verbunden. Durch REACH werden Hersteller und Importeure verpflichtet, die mit der Verwendung ihrer Chemikalien verbundenen Risiken zu bewerten. Die endgültige Verabschiedung der rechtlichen Grundlagen steht für die zweite Jahreshälfte auf der Agenda der EU. Damit träte REACH 2007 in Kraft.

Daten sammeln für die EU

Obwohl die EU-Agentur für chemische Stoffe, die REACH betreuen soll, erst zwölf Monate nach dem In-Kraft-Treten des rechtlichen Rahmens ihre Arbeit aufnehmen wird, bereitet sich die chemische Industrie
schon jetzt auf die Regelung vor. „Denn die Registrierung ist aufwändig“, sagt Bernard.

In einer zentralen Datenbank sollen die Unternehmen dann alle Chemikalien registrieren, von denen sie mehr als eine Tonne pro Jahr herstellen oder importieren. Erst damit schaffen sie die Voraussetzung dafür, dass der Stoff überhaupt zugelassen wird. Dabei sollen auch Daten zu den Eigenschaften, zur Verwendung der Stoffe und zu den geeigneten Vorsichtsmaßnahmen erhoben werden. Hinzu kommt, dass die Informationen entlang der gesamten Lieferkette zur Verfügung stehen müssen, um die sichere Handhabung der Chemikalien zu ermöglichen.

Für viele IT-Leiter dürfte die Erhebung der Daten noch einen Kraftakt darstellen. Oliver Bösch, Leiter der Abteilung Informatik bei der Helm AG, nimmt es gelassen: „Wir kennen das Thema der Zulassung aus der
Arbeit im Bereich des Pflanzenschutzes und der generischen Arzneimittel.“ Zu den Dienstleistungen der Helm AG gehört insbesondere das Marketing chemischer Produkte, daher kümmert sich der Konzern, wenn erforderlich, auch um die Zulassung auf den Märkten, in denen er tätig ist.

Ob es der Verbesserung der Infrastruktur oder der Einhaltung von Regularien wie REACH dient – in der Chemieindustrie hat sich der Maßstab für den Erfolg von IT-Projekten gewandelt. Die Forderung, Projekte hätten sich kurzfristig auszuzahlen, hat an Schärfe verloren. Bei der Bewertung ist der „ROI in der Tat ein wichtiges, aber nicht das alleinige Kriterium“, so Reichelt. Dadurch erhalten nicht nur bei Wacker Chemie andere Überlegungen wieder ein stärkeres Gewicht, etwa die Risikobewertung oder strategische Erwägungen.