Flexibilisierung von Anwendungen und Ressourcen

IT on demand

03.11.2003 von Christoph Lixenfeld
Legosteine lassen sich so lange miteinander kombinieren, bis das Ergebnis stimmt. Bleiben welche übrig, kann man sie für andere Bauten verwerten. Ähnlich sieht die Vision für die IT der Zukunft aus. Der Unterschied: Lego funktioniert bereits.

Kinder in der ganzen Welt bauen aus genoppten Plastikklötzen Weltraumgleiter, Spionageroboter, Entenfamilien oder Harry Potters Zauberschloss, ganz nach Bedarf. Hal Yarbrough, CIO des viertgrößten Spielzeugherstellers der Welt mit Sitz im dänischen Billund, könnte so eine Flexibilität ebenfalls gut brauchen. Jedes Jahr vor Weihnachten brummen bei Lego die Logistik- und Warenwirtschaftsysteme, wenn sich die Lieferanten bevorraten. Den Rest des Jahres dagegen verwaltete Yarbrough bislang Überkapazitäten: Damit die Website und die SAP-R/3-Anwendungen zu Spitzenlastzeiten reibungslos funktionieren, stützten 220 Server die Lego-IT.

Der Zwang, IT-Ressourcen auf Vorrat zu halten, ist allgegenwärtig, vor allem in Branchen, die saisonalen Schwankungen ausgesetzt sind: Nach Schätzungen des Marktforschungsinstituts Forrester Research nutzen Unternehmen im Jahresmittel nur 60 Prozent ihrer Rechenkapazitäten. Bei Lego hat der IT-Chef nun die Zahl der Rechner radikal reduziert: 30 IBM-Server decken die Grundlast ab. Sind sie überlastet, werden Speicher- und die Prozessorleistung - die physikalisch bereits vorhanden ist - dazugeschaltet. Bezahlt wird nur das, was tatsächlich genutzt wird.

Yarbrough ist einer der ersten Anwender in Europa, die Teile jenes Konzepts umgesetzt haben, das IBM "On Demand Computing" nennt. "Dass es die Lösung erlaubt, die Anzahl der Server und Storage-Einheiten im Unternehmen drastisch zu reduzieren, ist natürlich ein Vorteil", sagt Yarbrough. Die Server kosten den CIO ein Drittel weniger. Den Spielraum will er nutzen, um in anderen IT-Bereichen zu investieren, etwa in das CRM-System.

Doch es geht bei der IT auf Abruf - auch bekannt unter den Labels "Organic IT und "Utiliy Computing" - um mehr als Zentralisierung und Konsolidierung: Statische IT-Landschaften sollen der Vergangenheit angehören und durch dynamische Strukturen ersetzt werden. Dadurch gewinnen Unternehmen an Flexibilität und können die IT schneller umbauen. "Im saisonabhängigen Spielzeughandel ist eine IT-Infrastruktur, die sich an die Geschäftsprozesse anpasst, wettbewerbsentscheidend", konstatiert der Lego-CIO.

Paul Schwefer, CIO, Continental„On-Demand-Computing lohnt sich immer dann, wenn der Bedarf an IT-Ressourcen nicht planbar und ein hohes Maß an Flexibilität erforderlich ist."

Derzeit ist es teuer und vor allen Dingen zeitaufwändig, IT-Systeme an veränderte Anforderungen anzupassen. Auf Ereignisse wie die Attentate des 11. September 2001, Nachfrageschübe oder Moden können Unternehmen nur langsam reagieren. Das soll sich in Zukunft ändern: Unternehmen greifen im eigenen Haus auf flexible Lösungen zu und werden bei Bedarf zusätzlich über die Datenleitung mit dem versorgt, was sie für die informationstechnische Unterstützung ihrer Geschäftsprozesse benötigen. Prozessorleistung, Bandbreite, Speicherplatz, sogar komplette Anwendungen sollen auf Abruf bereitstehen. Die gesamte IT soll, ähnlich der Strom- und Wasserversorgung, immer exakt in der benötigten - und keiner größeren - Menge verfügbar sein.

Kamyar Niroumand, Computing und Desktop Services, T-Systems: „Bis zu geschäftstauglichen Supernetzen, bei denen Rechenleistung nach Bedarf Anwendungen zugeordnet wird, dürfte es noch ein weiter Weg sein."

Die Idee besticht. Das ist den Anbietern bewusst, allen voran IBM. Der IT-Riese, der sich zum Versorger wandeln möchte, apostrophiert das Lego-Projekt keck als "Full-Scale European E-Business on Demand Infrastructure, obwohl bislang nur skalierbare Rechenleistung verkauft wird. Auch einen Auftrag des französischen AXA-Konzerns preist IBM als "On Demand"-Geschäft; tatsächlich konsolidiert Big Blue derzeit nur die verteilte Rechner- und Speicherinfrastruktur der Pariser Versicherung. Erst in einem zweiten, noch nicht terminierten Schritt soll eine Betriebsumgebung auf Basis von On-Demand-Services entstehen. Ein 2,2 Milliarden Euro schwerer Deal mit der skandinavischen Großbank Nordea ist ebenfalls eigentlich ein Konsolidierungsprojekt mit neuem Abrechnungsmodell: In Zukunft wird Nordea nur noch für die tatsächliche Nutzung von IBM-Systemen bezahlen. Gänzlich neue Verfahren der Bereitstellung von Anwendungen sind jedoch nicht vorgesehen.

Bis die ganze Palette von On-Demand-Leistungen abrufbar ist, dürften noch bis zu fünf Jahre vergehen, schätzen Technologie-Analysten. "Vieles, was wir heute diskutieren, ist im Kontext einer Entwicklung zu verstehen", räumt Jürgen Lurz aus dem Bereich Strategie-Marketing von IBM Global Services ein. "Es geht um Evolution, weniger um Revolution.

Zu den Pionieren der IT nach dem Lego-Prinzip gehört ebenfalls die BMW Group, wenn auch nur im Speicherbereich. Im Münchener Rechenzentrum stehen 1200 Unix- und Windows-NT-Server, auf denen CAD-Programme, SAP sowie Internet, Intranet und E-Mail laufen. Früher war jedem Server ein Speichersubsystem zugewiesen. Von 1997 bis 2003 stieg der Speicherbedarf allein der offenen Systeme am Standort München von gut 10 auf weit über 100 Terabyte. Die starre Kopplung verhinderte die effiziente Nutzung der Kapazitäten. "Nicht nur der steigende Speicherbedarf machte uns Sorgen, sondern auch, dass Speicher künftig den größten Teil der Infrastrukturkosten ausmachen", erklärt Ulrich Kleinau, Leiter Betrieb Speichersysteme der BMW Group in München. Vor allem das Systemmanagement ging ins Geld. Mit Speicherplatz auf Abruf, so Kleinau, ließen sich die Ressourcen nun besser nutzen, der Managementaufwand sinke. Die Betreuung der Struktur erledigt HP,bezahlt wird nach Nutzung - zum Festpreis.

Ziel beim Projektstart im Juni 2001 war es, binnen drei Jahren die Speicherkosten um 20 Prozent zu senken. Schon im Herbst 2002 wurde diese Marke übertroffen. Im Konzern denkt man nun über weitere On-Demand-Szenarien nach, etwa bei der Rechenleistung. BMW entwickelt dafür zurzeit ein Modell unter dem Projektnamen "Computing Power Utility".

Noch kann sich aber niemand auf den ganzen Legokasten des On-Demand-Computing verlassen. Utility-Computing-Kunden greifen sich nur wenige Bausteine aus der flexiblen Systemwelt heraus. "Die flexible Nutzung von System- und Netzwerkleistung ist heute tatsächlich vielerorts realisiert", urteilt Charles Homs, Analyst bei Forrester Research. "Bei Anwendungen sind die technischen Hürden dagegen sehr hoch.

Georg Lauer, Leiter Technology Services, CA: „Der CIO verliert durch On-Demand an Macht, weil seine Fachabteilung natürlich kleiner wird. Dafür gewinnt er finanzielle Verantwortung hinzu."

Der Grund: Die Abruf-Architektur erzwingt die Abtrennung der Business-Anwendungen von fest zugewiesenen Komponenten - Speicher, Prozessoren, Bandbreite; und es ist zweifelhaft, ob sie tatsächlich genau genug den verteilten Ressourcen zugeordnet werden können. Für Anbieter wie Computer Associates (CA) eine Chance, beim Geschäft mit der Bedarfs-IT mitzuverdienen; Georg Lauer, Leiter Technology Services bei CA: "Es wird immer wichtiger, IT-Kosten den Geschäftsprozessen zuzuordnen." Er räumt jedoch ein, dass das bei Anwendungen noch auf große Skepsis der potenziellen Kunden stoße.

Welche Drucker, Router oder Leitungen für einen Vorgang in der Kreditorenbuchhaltung oder bei der Materialbedarfsplanung belegt werden, ist nicht nur für die Rechnungen entscheidend, die IBM, HP und Co. stellen wollen. Informationen über das Gesamtnetz und seine Auslastung ermöglichen eine selbstverwaltende Infrastruktur, die Ressourcen dynamisch nach Aufgaben verteilt und bei Bedarf Systembausteine hinzuschaltet.

Während die Selbstheilung von Netzwerken auf dieser Grundlage - das Autonomic-Computing - bereits erste Praxistests bestanden hat, sind die Hürden für kommerzielle Anwendungen noch groß. Zwar gibt es bereitsNetze nach dem Grid-Konzept, in denen Anwendungen bei Bedarf brachliegende Rechenleistung zugewiesen werden kann (siehe auch S. 48ff). Über solche Grids lagern Forschungseinrichtungen beispielsweise Simulationen rund um den Globus an andere freie Universitätsserver aus; Unternehmen wie Novartis nutzen interne Grids für Simulationen der Entwicklungsabteilung.

Hilko Heuer, CIO, Rheinmetall Defence Electronics: „Wenn es hart auf hart kommt, haben wir bei den großen Lieferanten keine Chance. Deren Rechtsabteilungen sind größer als unsere ganze Firma."

"Ich habe das Gefühl, dass sich das nicht durchsetzen wird", kommentiert Hilko Heuer, CIO der Rheinmetall Defence Electronics GmbH, die On-Demand-Idee. Durch diese Form der Auslagerung von IT-Leistungen könnten sich Nachteile ergeben, warnt er: "Die Abhängigkeiten, die entstehen, wenn man von einem zentralen Anbieter alles liefern lässt, sind zu groß. Ich muss ganz genau wissen, was die Brüder mir liefern. Ein Pfund Butter ist so ziemlich das Gleiche wie ein anderes Pfund Butter, aber so ist es ja mit Software nicht." Zu oft habe er erlebt, dass bei Problemen die Verantwortung hin und her geschoben wird. "Wenn etwas nicht klappt, dann versuchen Sie mal, jemanden an den Hammelbeinen zu ziehen. Es heißt dann immer: Das lag an der und der Anwendung, die nicht von uns war, sondern von jemand anderem. Und wenn es hart auf hart kommt, haben wir bei den großen Lieferanten keine Chance. Deren Rechtsabteilungen sind größer als unsere ganze Firma."

Michael Neff, CIO, Heidelberger Druckmaschinen: „Was die Auswahl von Systemen und Providern angeht, verringert On-Demand die Flexibilität eher, anstatt sie zu erhöhen.

Michael Neff, CIO beim Druckmaschinenhersteller Heidelberg, äußert ebenfalls Misstrauen - obwohl sein Unternehmen mit fast 24000 Mitarbeitern und mehr als vier Milliarden Euro Jahresumsatz wahrlich kein kleiner Fisch ist. "On-Demand-Konzepte sind ein Marketingkonzept der Anbieter", argwöhnt er und analysiert, es werde Rechenzentrumsbedarf on demand geweckt, um schnell und ohne große Investitionen, "die uns ja zurzeit nicht möglich sind", Anwendungen implementieren zu können. Das Risiko der Einmalinvestition trage der Anbieter, räumt Neff ein. Sein Einwand: Später, bei Erfolg, wenn die Last steige, fielen dann doch wieder Investitionen in Hard- und Software an - zumindest aber Kosten für weitere Ressourcen-on-Demand. Der Heidelberg-CIO: "Und diese Produkte und Dienstleistungen müssen dann von dem Hersteller kommen, der von Anfang an im Boot war. Was die Auswahl von Systemen und Providern angeht, verringert On-Demand die Flexibilität eher, anstatt sie zu erhöhen." Neffs Fazit: "Werden aufgrund des Anwendungsdrucks so Systeme realisiert, wird das Rechenzentrum schleichend, mit ganz neuen Anwendungen, outgesourct. Interner Kompetenzaufbau findet nicht statt."

Heuer und Neff stehen nicht allein mit ihrer Skepsis: Laut einer Studie von Forrester Research zeigen viele Anwender kaum Interesse an der neuen Legobaustein-Rechnerwelt. Von 88 befragten IT-Managern will kaum einer auf Utility-Computing-Services zugreifen. Lediglich 16 Prozent der an der Forrester-Studie beteiligten Unternehmen gaben an, hier investieren zu wollen.

Charles Homs, Analyst, Forrester Research: „Die flexible Nutzung von System- und Netzwerkleistung ist vielerorts realisiert. Bei Anwendungen sind die technischen Hürden dagegen sehr hoch.

Die Analysten raten CIOs dennoch ab, die IT nach dem Lego-Prinzip als simples Infrastrukturthema zu behandeln oder sie gar zu ignorieren. Um sich richtig aufzustellen, sollten sie keine langjährigen Netzwerkverträge mehr abschließen. Sinnvoller sei eine Inventur von Servern, Netzwerkbausteinen und Speichern - der gesamten Infrastruktur also. Strategisch empfiehlt Forrester den Übergang zu einer flexiblen, auf billigen Standardkomponenten beruhenden und dezentralen Netzwerk- und Speicherinfrastruktur.

Für CIOs stellt sich aber nicht nur die Frage nach den technischen Grundlagen für Utility-Computing. Sollte die IT tatsächlich irgendwann aus dem Zapfhahn kommen, würden sich auch der Aufgabenbereich und damit das Selbstbild von IT-Führungskräften wandeln. Vielköpfige Abteilungen zur Verwaltung der Legostein-IT wird es nicht geben, weil für deren gesamtes Management idealerweise sowieso der Lieferant zuständig sein soll. Die Outsourcing-Frage stellt sich beim On-Demand-Computing noch drängender: Wird der CIO überflüssig? Strategisch Verantwortliche für die Strom- oder Wasserversorgung gibt es ja auch nicht.

Arbeitslos werde der CIO nicht, beruhigt Homs: "Ich brauche nach wie vor eine Person zum Management der IT-Fragen. Um nicht alle Karten aus der Hand zu geben, muss man in der Lage sein, auf Augenhöhe mit den Dienstleistern zu verhandeln." Seiner Einschätzung nach wird der CIO zu einer Art Partner-Manager, der in Kenntnis der eigenen Geschäftsprozesse Kooperationenanbahnt und überprüft. CA-Manager Lauer erwartet Ähnliches: "Technologie wird immer weniger im Vordergrund stehen. Der CIO verliert durch On-Demand an Macht, weil seine Fachabteilung natürlich kleiner wird. Dafür gewinnt er finanzielle Verantwortung hinzu."