Interview mit Henning Kagermann und Hubert Österle

Kagermann: "Nur mit SOA bleiben Firmen wettbewerbsfähig"

30.08.2006 von Robert Winter
Mit ihrem neuen Buch zu Geschäftsmodellinnovationen sorgen SAP-Vorstandssprecher Henning Kagermann und der Direktor des Instituts für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen, Hubert Österle für Furore. Im folgenden Interview beziehen die Autoren Stellung zu Themen wie IT-Alignment, Serviceorientierung der IT und Agilitätsprinzipien.

Robert Winter (WI): Die Abstimmung zwischen fachlichen Anforderungen und in Informationssystemen realisierten Funktionalitäten - das so genannte "IT-Business-Alignment" - gestaltet sich häufig schwierig, da Business und IT durch unterschiedliche Sprache, unterschiedliche Ziele und unterschiedliche Denkweisen geprägt sind. Welche fundamentalen Entwicklungen geben Anlass zur Hoffnung, dass sich die Situation nachhaltig verbessern lassen kann? Werden Ihrer Meinung nach im Jahr 2010 Business und IT "im Gleichschritt" gehen?

Österle: IT und Business sind dann aneinander angepasst, wenn die Technologie den Geschäftsablauf wirkungsvoll unterstützt. Die Anpassung ist jedoch zunächst weniger eine Frage der Informationstechnik als vielmehr eine Frage der Menschen, der Unternehmenskultur und der Ausbildung.

Wenn Unternehmen neue, wettbewerbsfähigere Geschäftsmodelle realisieren wollen, müssen die Geschäftsverantwortlichen die Potentiale der IT hierbei abschätzen. Die IT-Verantwortlichen müssen dann die Geschäftsmodelle ihres Unternehmens effizient umsetzen. Aufgrund der Enttäuschungen mit dem Internet-Hype machen manche Vorstände und Geschäftsführer jedoch immer noch gerne einen Bogen um das Thema IT. Sie werfen IT-Bereichen auch vor, zu wenig vom Geschäft zu verstehen und sich mehr an technischer Eleganz als an wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit auszurichten. Vielerorts hat die Informatik zudem an Glaubwürdigkeit verloren, weil sie wiederholt die geweckten Erwartungen nicht erfüllen konnte.

Kagermann: Business und IT werden wohl auch im Jahre 2010 nicht "im Gleichschritt" gehen, aber es ist ein positiver Trend erkennbar. Zwei Drittel der von uns interviewten CEOs haben ein so profundes IT- und Prozesswissen, dass sie selbst das Innovationspotential für das Geschäftsmodell erkennen und zusammen mit der Informatik umsetzen können.

Aber auch die IT trägt zur Annäherung bei. Standardisierung und Serviceorientierung erhöhen die Flexibilität des Informationssystems hinsichtlich Veränderungen des Geschäftsmodells. Wenn zwei Unternehmen die gleiche Semantik für ihre Geschäftsobjekte verwenden, erleichtert das die elektronische Zusammenarbeit. Dies versetzt IT in die Lage, Innovationspotentiale zu erkennen und diese den Geschäftsverantwortlichen anzubieten.

WI: Sowohl Business- als auch IT-Strukturen werden im Zeitverlauf normalerweise komplexer statt einfacher. Es entstehen neue Architekturschichten und es werden zusätzliche Gestaltungsaspekte einbezogen (z.B. Ziele, Individualisierung). Aus welchen Gründen glauben Sie, dass Unternehmen dennoch bis zum Jahr 2010 Agilität erhalten bzw. sogar wiedergewinnen können?

Kagermann: In der Tat kann man fast alle der Geschäftskonzepte wie Globalisierung, Regionalisierung,
Individualisierung, Kundenprozessabdeckung, Kooperationsprozesse und Ecosystem, auf die wir im Rahmen unserer Untersuchungen gestoßen sind, als Komplexitätstreiber bezeichnen.

Österle: Gleichzeitig zeigen praktisch alle Studien in die Richtung zunehmender Agilität oder zumindest zunehmender Anforderungen an die Agilität des Geschäftsmodells. Die logische Konsequenz kann nur die gezielte Komplexitätsreduktion sein. Diese wird durch Reduktion unnötiger Vielfalt jeglicher Art im Geschäftsmodell erreicht, z.B. durch Reduktion der Anzahl an Lieferanten, durch Standardisierung der Prozesse, durch Harmonisierung der Applikationen bis hin zu einer möglichst geringen Anzahl unterschiedlicher Laptop-Typen.

Kagermann: Standardisierung, die Schaffung von Gleichteilen und die flexible Kombination dieser Gleichteile zu innovativen Lösungen sind die Grundlage einer service-orientierten Architektur (SOA). Und sie sind ebenso Grundlage für Individualisierung und neue, intelligente Geschäftskonzepte. Damit wird die Einführung einer SOA zu einer Grundvoraussetzung, um die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen in der näheren Zukunft sicherzustellen.

WI: Komponentenbildung und Kapselung sind klassische Ansätze zur Flexibilisierung komplexer Strukturen. Durch Software-Services soll eine Flexibilisierung auf Softwareebene erreicht werden, durch fachliche bzw. Enterprise-Services auf der Integrationsebene. Der Nutzen solcher Strukturierungen ist unbestritten. Gleichwohl werden Granularität und Zuschnitt von Services kontrovers diskutiert. Unterscheidet sich das Vorgehen auf Ebene der Software-Services von dem auf Ebene der Enterprise-Services?

Österle: Serviceorientierung bzw. Mehrfachverwendung von Services ist unter Namen wie Modularisierung, Objektorientierung usw. in der Tat schon lange bekannt. Die heutige Netztechnologie und neue Standards haben aber eine nächste Stufe in der Entwicklung gebracht.

Serviceorientierung ist - das zeigen alle von uns untersuchten Fälle - nicht nur oder nicht primär eine Frage der Software-Entwicklung, sondern eine Frage des Geschäfts und der Organisation. Auf der Ebene der Wertschöpfungskette bedeutet Serviceorientierung Spezialisierung, Schaffung neuer Unternehmen, Intermediation oder auch Disintermediation. Auf Prozessebene kennen wir die Bildung von Shared Services in Konzernen, Outsourcing von Prozessen oder Outtasking als Auslagerung einzelner, kleiner Funktionen. Auf der Ebene der Software dagegen heißt Serviceorientierung Schaffung von mehrfach verwendbaren
Diensten, die ohne Kenntnis ihrer speziellen Implementierung genutzt werden können

WI: Dürfen wir hier Referenzlösungen erwarten, wie sie seinerzeit in Form von R/3-Prozessen verbreitet wurden? Oder werden geeignete Methoden publiziert, nach denen Anwenderunternehmen individuelle Service-Zuschnitte vornehmen?

Kagermann: Serviceorientierung allein reicht nicht; erst Services auf Basis einer gemeinsam akzeptierten
geschäftlichen Semantik werden wirklich interoperabel. Das bedeutet letztlich ein gemeinsames Modell der betrieblichen Wirklichkeit, in dem für jeden beteiligten Service beispielsweise ein Order Split das Gleiche bedeutet. Das ist entweder über intensive Standardisierungsbemühungen oder aber über eine gemeinsame Software-Basis möglich. SAP nutzt wo immer möglich breit akzeptierte Standards wie beispielsweise Rosetta, kann aber darüber hinaus mit ihren Services die ganze Semantik ihrer Systeme nutzen und damit mit ihren Enterprise-Services zu einer Standardisierung über Länder und Branchen hinweg beitragen. Die SAP rechnet auf Basis der bisherigen Arbeiten an der Enterprise Service-
Oriented Architecture mit mehreren Tausend Web-Services, um den Großteil der Geschäftsprozesse abbilden zu können.

WI: Eine im Buch vertretene Position ist das Primat fachlicher Fragestellungen, deren Lösungen die Gestaltung technischer Lösungen determinieren. In der Realität jedoch nimmt die Fachseite die IT-Infrastruktur häufig als Disabler wahr, weil fachliche Änderungen nur zögerlich und / oder unvollständig umgesetzt werden können. Auch erfolgen sinnvolle fachliche Veränderungen oft erst dann, wenn es aufgrund der Einführung neuer Software nicht mehr anders geht. Müssten deshalb nicht zusätzliche Szenarien neben dem klassischen "IT follows Business" ausgearbeitet werden?

Kagermann: Im Idealfall versteht das Management einer Organisation so viel von IT, dass die Chancen
daraus im Geschäftsmodell zur Differenzierung im Wettbewerb genutzt werden. Und der IT-Bereich sollte die geschäftlichen Aspekte so gut nachvollziehen, dass er die angemessene Informationsarchitektur bereitstellt.

Österle: In der Realität übernimmt einmal das Business, einmal die Informatik die Rolle des Innovationstreibers. Wie lange hätte es beispielsweise gedauert, bis die Unternehmen den heutigen Stand ihrer Internet-Portale erreicht hätten, wenn die Informatik nicht mit Piloten vorgeprescht wäre? Umgekehrt haben oftmals auch Fachabteilungen Neuerungen vorbei an ihren Informatikabteilungen eingeführt. Ein Unternehmen lebt vom Geschäft, nicht von der IT. Die Priorität ist damit klar, nicht aber immer der Innovationstreiber.

WI: Falls IS-Funktionalitäten zunehmend zu Commodities werden, wird die Besetzung des Integrationsbusses immer wichtiger. Die SAP und auch andere große Software-Hersteller haben diese Tendenz erkannt und versuchen jeweils, eine proprietäre Lösung durchzusetzen. Sind konkurrierende proprietäre Ansätze für den Integrationsbus aber nicht gerade das, was große Unternehmen vom Weg in diese Architektur abhält? Und ist das Risiko nicht zu groß, dass sich eine offenere Lösung durchsetzt?

Kagermann: Nicht alle Funktionen eines Informationssystems werden über die Zeit zu Commodities
werden. So kann beispielsweise eine Warenkorbanalyse eines Handelsunternehmens auf die bisher bekannte Art und Weise erfolgen, aber auch durch neuartige Analysefunktionalität, wie sie beispielsweise der Business Intelligence Accelerator der SAP zur Verfügung stellt.

Die SAP bietet mit ihrer Enterprise Service-Orientierten Architektur (E-SOA) eine Architektur an, die hinreichend offen ist. Eine Komposition neuer kreativer Geschäftskonzepte ist über Services möglich, die von verschiedenen Anbietern zur Verfügung gestellt werden. Dazu müssen die Services vorab über das Enterprise Service Repository bekannt gemacht werden. SAP bietet damit eine service-orientierte Integrationsarchitektur an, die offen für Composites verschiedener Anbieter ist. Der Kern dieser Architektur wird von SAP selbst verwaltet, sodass trotz Offenheit Integrität und Einhaltung regulatorischer Richtlinien (sog. Compliance) jederzeit sichergestellt sind.

WI: In Ihrem Buch postulieren Sie, dass es auf den Ebenen der Strategie, der Prozesse und auch der Informationssysteme einen starken Trend zu Vernetzungen gibt. Das daraus resultierende Entstehen von Schnittstellen muss durch Standardisierung, durch Auslagerung von Services und durch Konzepte zur m:n-Vernetzung wie Integrationsbusse und Data Warehouses begleitet werden.

Die Realität zeigt jedoch, dass die Etablierung offener Standards umso schwieriger ist, je fachnäher die Gestaltungsebene ist. Das behindert Vernetzung und damit Fortschritt. Wie kann dieses Problem überwunden werden?

Österle: Wenn beispielsweise ein Automobilzulieferer wie ZF Friedrichshafen für BMW, Audi, Mercedes, Ford oder Hyundai unterschiedliche Entwicklungs- und Logistikprozesse beherrschen soll, wird das nicht nur sehr teuer, sondern auch sehr komplex.

Der Begriff "Vernetzungsfalle“ charakterisiert die Problematik recht gut. Was für die schnelle Vernetzung von zwei Unternehmen gut ist, kann die weitere Vernetzung behindern. Notwendig ist deshalb eine m:n-Fähigkeit, welche das Etablieren von Standards für Daten, ISFunktionen (typischerweise als Web-Services), Prozessen und Geschäftsregeln beinhaltet, die in der ganzen Wertschöpfungskette akzeptiert werden.
Im Idealfall einigen sich alle Software-Hersteller auf diese Standards. In vielen Fällen scheitert das weniger am guten Willen als an der Komplexität der Abstimmung der vielen Teilnehmer der Wertschöpfungskette. Dann können Fachverbände wie etwa in Deutschland der VDA oder Exchanges wie SupplyOn wenigstens partiell die Vereinheitlichung schaffen.

Es gibt selbstverständlich auch auf diesem Gebiet eine de-facto Standardisierung. Wenn die gleiche Software oder künftig die gleichen Web-Services in vielen Unternehmen eingesetzt werden, erleichtert das die Kommunikation zwischen Kooperationskandidaten. Wenn offene Standards proprietäre Lösungen nach und nach ersetzen würden, könnte dies einer breiten Vernetzung zwischen Unternehmen zum Durchbruch verhelfen. Auch aus Sicht eines Software-Hauses wie SAP wäre dies sehr zu begrüßen, weil damit ein viel größeres Marktvolumen geschaffen würde.

Kagermann: Standard-Software für Geschäftsprozesse hat das Gewicht unwiderruflich von der IT-Entwicklungskompetenz hin zur Geschäfts- und Prozesskompetenz verschoben. Die Zerlegung der IS-Funktionalität in Services und die freiere Kombinierbarkeit dieser Bausteine ermöglichen es in den nächsten Jahren, unternehmensspezifische Geschäftsprozesse schneller und sicherer zu entwickeln. Das Geschäft kann sich mehr und mehr auf seine Kernkompetenz, die Weiterentwicklung seines Geschäftsmodells konzentrieren.

Modellierungswerkzeuge für Prozesse und UIs, wie sie SAP in seiner Geschäftsprozessplattform SAP NetWeaver ausliefern wird, werden deutlich weniger IT-Know-how und entschieden mehr Geschäftswissen erfordern, als dies bis heute der Fall ist.

WI: Welche Innovationen wünschen Sie sich von SAP bis 2010, Herr Österle?

Österle: Die SAP und nicht zuletzt ihre Kunden haben in den letzten zwei Jahrzehnten die Betriebswirtschaftslehre der operativen Prozesse, also des Kerns des Geschäftes, neu geschrieben, leider trotz Parametrisierung ziemlich fest "verdrahtet". Wenn SAP es schafft, dieses Wissen in einer entsprechenden Anzahl von Web-Services zusammenzufassen und über eine Business Process Platform den Unternehmen zur Verfügung zu stellen, kann sie einen gewaltigen Schub an Geschäftsmodell- und Prozessinnovationen auslösen, von dem man als Vertreter der Betriebswirtschaftslehre nur träumen kann. Wir hätten dann eine sehr mächtige Sprache (der 6. Generation), mit der wir Betriebe direkt modellieren könnten. Selbst wenn SAP (oder ein Konkurrent) das Ziel nur in kleinen Schritten erreichen sollte, könnte
dies eine Innovationswelle auslösen.

WI: Zu welchen Problemen sollte aus Ihrer Sicht die Wirtschaftsinformatik-Forschung bis 2010 substanzielle neue Beiträge erarbeitet haben, Herr Kagermann?

Kagermann: Die Wirtschaftsinformatik hat aus meiner Sicht zwei große Herausforderungen: Der Lehre obliegt die praxisorientierte Ausbildung all jener Studenten, insbesondere der Business Engineers, die in den nächsten 20 bis 30 Jahren mithelfen sollen, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft durch überlegene Geschäftsmodelle und effiziente Prozesse zu sichern.

Die zweite Herausforderung ist die universitäre Forschung. Diese arbeitet heute oftmals mit Prototypen, die nicht annähernd die Komplexität und das Ausmaß echter Großsysteme widerspiegeln. Es muss daher das Ziel sein, eine Plattform zu verwenden, die die Basis für den Bau entsprechender Prototypen unter Bedingungen der realen Welt bereitstellt. Auf einer derartigen Plattform können neue Entwicklungen dann unmittelbar unter Echtbedingungen verifiziert und im Erfolgsfall schnell in die Praxis umgesetzt werden. Dies könnte einen Beitrag dazu leisten, die Kopplung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zu verbessern und damit die Entwicklung innovativer Prozesse und Produkte in Europa im internationalen Umfeld wettbewerbsfähiger zu machen.

WI: Herr Kagermann, Herr Österle, besten Dank für dieses Interview.

Das Interview führte Robert Winter, Direktor des Instituts für Wirtschaftsinformatik und Direktor des Executive MBA in Business Engineering an der Universität St. Gallen.