Der IT-Umbau der Börse Stuttgart

Mehr Suchanfragen als bei Google

15.03.2012 von Ursula Pelzl
Die Börse Stuttgart listet rund 800 000 Produkte. Und täglich kommen 6500 neue dazu. Folge: Die Börse bewältigt mehr Anfragen als die weltgrößte Suchmaschine. Mit den alten Systemen ließ sich das nicht mehr abarbeiten.
Sönke Björn Vetsch, CIO der Börse Stuttgart: "Das war eine Hardware-Schlacht."
Foto: Börse Stuttgart

Nicht schlecht für eine altehrwürdige Dame von 150 Jahren: Drei Milliarden Quotes verarbeitet die Börse Stuttgart binnen zwölf Stunden. Zum Vergleich: Google bringt es gerade einmal auf rund 1,5 Milliarden Suchanfragen pro Tag. Der Warenkatalog der Börse Stuttgart, des größten Börsenplatzes für Privatanleger in Deutschland, ist in den vergangenen zehn Jahren rasant gewachsen. Statt der ursprünglich rund 20 000 gelisteten Produkte bringt es Europas größte Börse für verbriefte Derivate heute auf rund 800 000 Instrumente. Und ein Ende des Wachstums ist nicht in Sicht. Täglich nehmen die Stuttgarter etwa 6500 neue Wertpapiere in den Börsenhandel auf. Auch dazu ein Vergleich: Das Sortiment des Möbelhauses Ikea umfasst gerade einmal 12 000 Artikel.

Mit der Zahl der Produkte wuchs jedoch auch die Zahl der IT-Systeme. "Das war eine Hardware-Schlacht", sagt Sönke Björn Vetsch, CIO der Börse Stuttgart. Die Stellflächen in den ehemals vier Rechenzentren konnte er schon nicht mehr erweitern. 1000 Server und 400 Workstations, gepaart mit 1000 Benutzerprofilen auf drei System- und zwei Mail-Umgebungen, beschreiben seine Ausgangslage. Der Handlungsbedarf war offensichtlich. Vetsch fasst ihn für sein Umbauprogramm in neun Punkten zusammen:

Umbau in elf Monaten

Die Meilensteine für das Umbauprojekt wurden eng gesetzt: Im Mittelpunkt der dreimonatigen Konzeptionsphase von September bis November 2010 stand der Aufbau der Rechenzentreninfrastruktur und der Netzwerke. Parallel dazu wurden von Oktober bis Dezember 2010 Prototypen der neuen Arbeitsplätze für einzelne Fachbereiche erstellt. Von Januar bis Juli 2011 schließlich folgten die Migrationsphase und die Einführung des neuen Desktops. Ein Großprojekt im Sauseschritt - und doch keinen Tag zu früh: Als der DAX am 19. August 2011 um 500 Punkte absackte, bestand die neue Technik ihre Nagelprobe: Binnen drei bis vier Minuten mussten anstelle der tagesdurchschnittlich 30 000 Quotes pro Sekunde 197 000 eingehende Updates verarbeitet werden. "Wir sind extrem stolz, dass unsere Systeme in diesen ganzen Börsenturbulenzen standgehalten haben", sagt Vetsch.

Samir Gärtner Abteilungsleiter System Technologie, Börse Stuttgart: "Eine Sekunde Verzögerung im Quote-System zieht einen Verlust von ungefähr vier Prozent Marktanteil nach sich."
Foto: Börse Stuttgart

Denn Systemausfälle - selbst kurze - sind für eine Börse existenzbedrohend. Samir Gärtner, Abteilungsleiter System Technologie, rechnet vor: "Eine Sekunde Verzögerung im Quote-System zieht einen Verlust von ungefähr vier Prozent Marktanteil nach sich. Wir würden rund vier Monate benötigen, um den entgangenen Umsatz aufzuholen."

Cisco, NetApp und VMware

Bewährt haben sich in der Zusammenarbeit die Dienstleister Cisco, NetApp und VMware. "Wir konnten Hardwarekomponenten konsolidieren und gleichzeitig Steuerung, Wartung und Support wesentlich vereinfachen", sagt Gärtner. Verantwortlich für die praktische Umsetzung des IT-Projektes ist die tradeIT, die technische Einheit der Börse Stuttgart. Sie betreibt und entwickelt die Handelssysteme des Börsenplatzes und schafft die technische Grundlage für den hochfrequenten Handel auf Basis prozessorientierter, durchgängiger und integrativer IT-Architekturen.

Die mit dem Projekt eingeleiteten Maßnahmen der tradeIT haben den Betriebsaufwand deutlich gesenkt. Zentrale Data Center ermöglichen heute eine übergreifende Verwaltung aller Komponenten wie Server, Netzwerk, Storage und Virtualisierung. Der 7x24-Stunden-Betrieb und unterbrechungsfreie Wartungsmöglichkeiten sind ebenso gelebte Realität wie die interne Skalierbarkeit und die Mandantenfähigkeit der Systeme. "Wir tun die richtigen Dinge richtig", erklärt Vetsch und verweist darauf, dass in nur elf Monaten Projektlaufzeit die tradeIT die Gesamtbetriebskosten (TCO) drastisch gesenkt und die Effizienz signifikant gesteigert hat.

Von 1000 Servern blieben 400

In der Tat hat er strategisch und operativ etwas erreicht: Im Vorher-Nachher-Vergleich schlagen mehr als 50 Prozent Energieeinsparung zu Buche. Aus vier Rechenzentren wurden zwei. Von 1000 Servern blieben noch 400. Physische und logische Netzwerke konnten verkleinert werden - von 262 auf 60 Segmente. 262 WLANs wurden auf ein modernes Zonenkonzept umgestellt. Die Netzwerksicherheit wurde gesteigert, die Netzadministration vereinfacht.

Sehr zufrieden sind nach Aussagen von Vetsch auch die Mitarbeiter mit ihren ergonomisch besser ausgestatteten Handels- und Office-Arbeitsplätzen. Zum neuen Feeling am Arbeitsplatz tragen auch die einfachere Zusammenarbeit mit einem leichteren Zugriff auf Dokumente und deren Handling bei. "Die Teamarbeit klappt besser", so Gärtner. Über die virtuelle Plattform können Mitarbeiter auch wesentlich leichter mobil auf Daten zugreifen.

Auch ein Lieblingsthema vieler CIOs - das Druckmanagement - stand auf der To-Do-Liste der Projektmanager in Stuttgart. Es passt sich nahtlos in die Neukonzeption der Arbeitsplätze und -abläufe ein. Von 148 unternehmensweit aufgestellten Druckern blieben 28 Multifunktionsdrucker übrig.

Wie lässt sich ein Projekt dieses Umfangs in einem knappen Jahr realisieren? "Klarheit in der Strategie sowie Geschwindigkeit und Perfektion in der Umsetzung und Konzentration auf das Wesentliche", lautet das Erfolgsrezept von Vetsch. "Das gelingt nur mit einem strukturierten Vorgehen, kurzen Entscheidungswegen, klaren Verantwortlichkeiten und einem Paradigmenwechsel in der Unternehmenskultur entlang der IT-Lebenszyklus-Kurve. Kurzfristiges Denken verunsichert, Langfristigkeit ist nachhaltig, hilft, die IT transparent zu gestalten, und schafft Vertrauen."

Unternehmensdaten der Börse Stuttgart

Unternehmen - Börse Stuttgart

Hauptsitz

Stuttgart

Umsatz

108 Milliarden Euro (2011)

Mitarbeiter

300, davon ein Drittel in der tradeIT

IT-Kennzahlen

IT-Mitarbeiter

circa 100

IT-Budget

30 Millionen

CIO

Sönke Björn Vetsch

"Nicht nur ein bisschen IT hingestellt"

"Kein Mensch allein versteht heute mehr die Technik insgesamt", ergänzt Gärtner. "Solch ein Prozess kann nur gemeinsam gelingen. Wir haben hier nicht nur ein bisschen IT hingestellt. Die Menschen haben sich verändert. Die Art und Weise, wie sie arbeiten, hat sich geändert." Das in den Köpfen verankerte Silo-Denken - hier die Hardware-, dort die Netzwerkspezialisten - stand im Projektverlauf unter dem Begriff "Change-Management" in großen Lettern auf der Agenda der Verantwortlichen. "Man muss bei solchen tief greifenden Veränderungen auch mit den Risiken klarkommen. Nicht nur eine neue Architektur wird gebaut, sondern auch die Organisation angepasst. Wir haben die Mitarbeiter mitgenommen und zusammengeführt", so Vetsch.

Dazu zählten Persönlichkeits- und Präsentationstrainings. Abteilungs- und Bereichsleiter wurden parallel zum Projektverlauf fortgebildet und auf neue Prozesse vorbereitet. "Mission possible!" - unter diesem Motto hat Vetsch selbst den Mitarbeitern seine Vorstellungen von offener Zusammenarbeit und Führungskompetenz vorgestellt. "Knapp 60 Prozent der Mitarbeiter in meinem Ressort haben über eineinhalb Jahre vorbereitend auf das Projekt und die Zukunft der tradeIT eine neue Rolle und Stelle erhalten", so Vetsch und ergänzt, dass die Fluktuation bei unter einem Prozent lag. Man habe eine sehr offene Kommunikations- und Fehlerkultur. Das trage nachhaltig dazu bei, dass die Börse nicht nur in Schönwetterphasen, sondern auch in schnelllebigen, volatilen Zeiten einen reibungslos funktionierenden Handel sicherstellen könne.

Webcast - Cloud Computing und Recht

Samir Gärtner spricht mit Kay Oelschlägel von der Anwaltskanzlei Luther und Alexander Wallner von NetApp über rechtliche Fallstricke in der Cloud. www.cio.de/cloud-recht