Bertram Hilgen

Neue Kraft unter Herkules

06.06.2005 von Heinrich Seeger
Ab 22. Juli ist Bertram Hilgen neuer Oberbürgermeister von Kassel. Die sechs Jahre davor hat er ein Rechenzentrum geleitet. Der Sozialdemokrat ahnt: Nicht nur im IT-Management, auch als Stadtvater wird er sich von RoI-Erwägungen leiten lassen müssen.

Bertram Hilgen liebt Technik, vor allem mechanische Uhren. Sein Traum ist eine Pendeluhr aus der Münchener Manufaktur Sattler, die es als Bausatz zu kaufen gibt. "Wenn es mir mal besonders gut oder besonders schlecht geht, werde ich mir so eine Uhr gönnen. Dann nehme ich mir anderthalb Wochen Urlaub und baue sie zusammen", sagt der Geschäftsführer des kommunalen IT-Dienstleisters Ekom 21 in Kassel.

Man darf annehmen, dass es dem 51-Jährigen am 27. Februar dieses Jahres ziemlich gut ging. An dem Tag setzte sich der Sozialdemokrat bei der Wahl zum Oberbürgermeister der Stadt Kassel gegen den Amtsinhaber Georg Lewandowski durch und folgt dem CDU-Mann am 22. Juli im Amt nach. Bertram Hilgen hofft auf zwei oder drei Amtsperioden in der Nachfolge so prominenter Namen wie Philipp Scheidemann (1919 bis 1925) und Hans Eichel (1975 bis 1991). Die Pendeluhr muss warten.

Hilgen ist Jurist; den Großteil seiner Karriere hat er in der öffentlichen Verwaltung und der Politik verbracht. 1980 begann er als Referent des damaligen Oberbürgermeisters von Kassel, Hans Eichel. 1986 übernahm er die Leitung des Rechtsamtes und folgte 1991 dem neuen Ministerpräsidenten Eichel nach Wiesbaden. Als Regierungspräsident kehrte er 1996 nach Kassel zurück.

ZUR PERSON, Bertram Hilgen (51)
Foto: cio.de

1999 wurde er Leiter des Kommunalen Gebietsrechenzentrums (KGRZ) in Kassel. In die Technik der Datenverarbeitung wird der Noch-IT-Manager jedoch nie so tief einsteigen wie vielleicht mal in die Uhrentechnik. "Programmieren kann ich nicht", sagt er. Das wäre auch unproduktiv gewesen, zudem hätte er dafür in den letzten Jahren kaum Zeit gehabt. Das KGRZ befand sich nämlich bei seinem Amtsantritt auf halbem Weg von einer subventionierten öffentlich-rechtlichen Körperschaft zu einem Unternehmen, das sich dem Wettbewerb im Public Sector stellen muss. Daher entschied sich der Vorstand für einen Direktor, der die Kunden kennt.

Hilgen musste für seinen ersten Management-Job nicht nur aus dem Regierungspräsidium am Fulda-Ufer in ein unscheinbares Rechenzentrumsgebäude zwischen TÜV und Kleingartenkolonie umziehen. Er sah er sich zudem der Aufgabe gegenüber, das KGRZ, zusammen mit dem Geschäftsführer der in Gießen und Darmstadt ansässigen Kommunalen Informationsverarbeitung (KIV), in ein privatwirtschaftliches Unternehmen zu überführen und von der Subventionsspritze zu entwöhnen. Etwa 65 Millionen Mark jährlich waren bis zum Beginn der Umstrukturierung 1996 aus Steuermitteln in die öffentlich-rechtliche Datenverarbeitung Hessens geflossen. In fünf Stufen wurde die Dosis reduziert, seit 2001 gibt es nichts mehr.

Das neue Unternehmen heißt Ekom 21 GmbH. Noch existiert es im Verbund mit KGRZ und KIV; diese erbringen nämlich "hoheitliche Beistandsleistungen" - etwa Berechnung, Druck und Versand von Gebühren- und Bußgeldbescheiden, die nicht der Mehrwertsteuer unterliegen. Das gilt jedoch nur dann, wenn sie von einer öffentlichen Körperschaft in Rechnung gestellt werden. "Ekom müsste dafür Mehrwertsteuer nehmen, aber die Gemeinden könnten diese nicht als Vorsteuer geltend machen", sagt Hilgen. "Im Rahmen der EU-Harmonisierung werden möglicherweise alle Leistungen mehrwertsteuerpflichtig werden. Erst dann gehen auch hoheitliche Leistungen an die Ekom."

Gern verweist der künftige Kasseler Stadtvater auf die finanziellen Eckdaten nach der Neuausrichtung: "Wir haben schon in den ersten drei Jahren keine roten Zahlen geschrieben." 2004 erwirtschaftete man 1,3 Millionen Euro Überschuss, nach 1,9 Millionen im Vorjahr. 2001 mit 500000 Euro Stammkapital gestartet, verfügt Ekom nun über Eigenkapital in Höhe von 5,5 Millionen Euro - das ist eine Quote von 42 Prozent. "Obwohl ein Kontrahierungszwang, also die Verpflichtung der kommunalen Kunden, der Ekom Leistungen abzunehmen, nicht existiert", betont Hilgen. Hans Eichel wäre stolz auf seinen Ex-Mitarbeiter.

Bertram Hilgen, Ex-IT-Manager und neuer Oberbürgermeister von Kassel
Foto: cio.de

Zudem führte der IT-Manager in etwa 400 der 421 hessischen Gemeinden das plattformunabhängige Einwohnermeldewesen "Ewo Pamela" ein - eine Kooperation mit der Stadt München. Damit schuf Hilgen eine wichtige Basis für künftige öffentliche Einnahmen: "Wenn das neue Melderechtsrahmengesetz in Hessen umgesetzt ist, wird es in Hessen und Bayern eine zentrale Online-Melderegisterauskunft samt landesübergreifender Nachverfolgung geben, die auch 'Power-Usern' wie Banken und Versandunternehmen gegen Entgelt zur Verfügung steht." Hessenweit führten die Körperschaften im Ekom-Verbund zudem ein Personalabrechnungssystem für 120 000 öffentlich Beschäftigte ein, des Weiteren ein neues Ordnungswidrigkeitsverfahren. "Wer in Hessen zu schnell fährt, kriegt sein Knöllchen von uns", freut sich Hilgen.

Als "ganz große Aufgabe" sieht der Ekom-Chef ein laufendes Projekt für das Finanzwesen der Städte und Gemeinden an, dessen Abschluss der Gesetzgeber bis 2009 vorgeschrieben hat: den Umstieg von der Kameralistik, also der öffentlichen Haushaltswirtschaft, auf die "Doppelte Buchführung in Konten" (Doppik). Hier werde der Unternehmensverbund nicht nur entwickeln, sondern auch viel beraten müssen, so Hilgen, um "Verständnis für die betriebswirtschaftlichen Elemente in öffentlichen Haushalten" zu schaffen.

Ekom setzt auf langfristige Geschäftsbeziehungen. Es gehe im Public Sector nicht um die schnelle Mark, betont Hilgen. "Wenn Sie einen Bürgermeister einmal hinters Licht geführt haben, dann ist die Messe gelesen." Außerdem sehe er seine Kunden zweimal im Jahr auf der Verbandsversammlung - dann als Eigentümer.

Wird sich Kassel unter einem ehemaligen IT-Manager als Oberbürgermeister zu einer E-Government-Musterkommune entwickeln? Hilgen winkt ab: "Was in der Verwaltung noch durch E-Government rationalisiert werden kann, betrifft kaum mehr das unmittelbare Verhältnis zum Bürger." Die erzielbaren Spareffekte seien vielfach ausgereizt; jetzt gehe es um die Optimierung des Workflows in der Verwaltung. Hilgen: "Als Oberbürgermeister mit knapper Kasse muss ich fragen, wann sich der RoI von E-Government-Projekten einstellt." Es gehe nicht darum, technische Showcases zu produzieren. "Öffentlicher Dienst kommt von Dienen, und die Technik hat dienende Funktion."

Ob das in Kassel künftig spürbar ist, muss sich erst erweisen. Eine Ankündigung dürfte ihm viel Wählergunst eingebracht haben: Er will als Stadtvater ein Bürgeramt installieren, in dem alles, was mit einem Umzug zu tun hat - von der Ummeldung eines Kfz bis zur Mülltonne -, binnen einer Stunde erledigt werden kann. Zwar kein E-Government im strengen Internet-Sinn, aber Systeme und Anwendungen müssen darauf vorbereitet sein - von frischer Servicebereitschaft der kommunalen Angestellten ganz zu schweigen.

Für Hilgen ist der Wandel des öffentlichen Sektors längst nicht abgeschlossen. Strategische Planung sei vonnöten, um Synergien zu entdecken, wie in der Wirtschaft. Er selbst hält es mit dem Verwaltungsreformer Freiherr vom Stein, der Anfang des 19. Jahrhunderts forderte, Führungskräfte müssten "das Allgemeine umfassen, im Einzelnen sich nicht verlieren, reisen, sprechen, anhören und nicht im Tintenfass ersaufen."

Die künftige Ekom-Geschäftsführung hat also noch reichlich Change Management zu erledigen, um den Anforderungen der immer kritischeren Kunden zu genügen. Der neue Kasseler OB träumt derweil in seiner knappen Freizeit von der Ruhe, die eine Pendeluhr verbreiten kann.