Supply Chain Management

Noch Luft in der Lieferkette

02.02.2004 von Holger Eriksdotter
Im Dotcom-Hype galt die unternehmensübergreifende Vernetzung der Lieferkette als Königsweg. Gescheiterte Großprojekte und gewaltige Umsatzeinbußen der Ex-Marktführer haben die Euphorie jedoch gedämpft. Trotzdem wird jetzt klar: Ein modularer Ausbau der Supply Chain in kleinen Projektschritten kann zu erheblichen Einsparungen und Wettbewerbsvorteilen führen.

Einst galten die Anbieter von SCM-Software als Gewinner, denen auch das Platzen der Dotcom-Blase nichts anhaben konnte. Jährliche Wachstumsraten von mehr als 20 Prozent machten sie jahrelang zu den ungekrönten Königen der Softwareentwickler und zu Wachstumsträgern der gebeutelten IT-Branche. Der Einbruch traf sie erst im vergangenen Jahr - dafür aber mit voller Härte: Nach Schätzungen von Marktforscher Pierre Audoin Consultants (PAC) musste zum Beispiel der ehemalige Branchenprimus I2 in Deutschland voriges Jahr Umsatzeinbußen von rund 60 Prozent hinnehmen. Die ehemalige Nummer zwei Manugistics schafft es nach einer Gartner-Analyse in Europa nicht einmal mehr unter die ersten fünf Anbieter (siehe "SCM - Anbieter und Marktanteile").

Die Gründe sind vielfältig: Neben schmaleren Budgets der Kunden ist den SCM-Spezialisten vor allem Konkurrenz aus dem ERP-Lager erwachsen. Gartner sieht inzwischen SAP mit 140 des 659 Millionen Dollar schweren europäischen Markts im Jahre 2002 auf Platz eins der SCM-Anbieter. Nach Angaben des Walldorfer ERP-Spezialisten gehen dort mit weltweit 464 Millionen Euro rund 20 Prozent der Softwareeinnahmen auf das Konto der R/3-Erweiterung APO (Advanced Planning and Optimization) und des My-SAP-Moduls SCM. Christian Glas, Analyst bei Pierre Audoin, warnt allerdings: "Hier werden häufig Äpfel mit Birnen verglichen. SAP fasst den Begriff sehr weit und subsumiert darunter auch klassische Materialbedarfsplanungs-Funktionen (MRP).

Es sind nicht nur die knappen IT-Budgets, die Unternehmen von Investitionen in SCM-Projekte abhalten: Groß angelegte SCM-Projekte zeichnen sich durch hohe Komplexität, aufwendige Installation und lange Amortisationszeiten aus. "Häufig lassen sich bei kurzfristiger Betrachtung andere Projekte im Vergleich zu SCM meist mit geringerem Aufwand und schnellerem RoI durchführen. Das lässt Investitionen in SCM für CIOs unter Erfolgsdruck weniger attraktiv erscheinen, sagt Lufthansa-Systems-Berater und Logistikexperte Michael Schüller.

SCM wird wieder ein wichtiges Thema

Erstaunlicherweise genießt SCM auf der CIO-Agenda dennoch steigende Priorität: "Nach Umfragen unter europäischen IT-Entscheidern der Pharma- und Automotive-Branche gehört SCM wieder zu den wichtigsten Themen", sagt Andrew Ball, Analyst bei Frost & Sullivan. Das bestätigt auch PAC-Analyst Glas: "Unsere Umfragen zeigen, dass SCM seit Anfang des Jahres wieder zu einem wichtigen Thema wird.

Allerdings profitieren davon inzwischen nicht mehr allein die ausgewiesenen SCM-Spezialisten unter den Anbietern. Immer mehr Unternehmen vertrauen auf die SCM-Erweiterungen ihrer ERP-Lieferanten: "Die klassischen ERP-Anbieter, allen voran SAP, haben erheblich in den Ausbau ihrer SCM-Module investiert; mit ihrer breiten Installationsbasis und einfacherer Integration haben sie erhebliche Vorteile, analysiert Ball von Frost & Sullivan. Zudem sei Software aus einer Hand durchgängiger programmiert als die von I2 oder Manugistics. "Die SCM-Spezialisten standen vor dem Problem, dass sie komplette Suiten nur durch Zukauf oder Firmenübernahmen anbieten konnten, sodass die Software nicht immer bruchlos ist, urteilt Ball.

Von der Funktionstiefe allerdings erreichen die ERP-Anbieter meist nicht das Niveau der Spezialisten. "Aber das spielt in den meisten Fällen kaum eine Rolle, weil rund 80 Prozent der Anwender problemlos mit den Funktionen auskommen, die auch die SCM-Erweiterungen von ERP-Systemen bieten, sagt Ulrich Thonemann, Professor für Supply Chain Management an der Universität Münster. Viel wichtiger als die Software sei ohnehin, dass die internen Prozesse sauber strukturiert und auf die unternehmensübergreifende Vernetzung ausgerichtet sind, bevor ein SCM-Projekt in Angriff genommen wird.

Und Analyst Glas von PAC konstatiert: "Die Lücke zwischen den ERP-Anbietern und SCM-Spezialisten wird immer kleiner. Früher hat I2 zu Recht gesagt, SAP könne eigentlich gar kein SCM. Das stimmt heute längst nicht mehr - auch wenn I2 das immer noch gern so sähe. Im Gegenteil: Die Vorreiter I2 und Manugistics seien zwar nach wie vor bei der Funktionstiefe führend beim Supply Chain Planning (SCP), so der westfälische Wissenschaftler. Bei Supply Chain Execution (SCE) und Event Handling aber lägen die ERP-Anbieter deutlich vorn.

Verknüpfen von Supply Chains

Das gewaltige Einsparpotenzial, das die optimierten und digitalisierten Lieferketten erschließen sollen, entfaltet sich vor allem jenseits der eigenen Unternehmensgrenzen. Und genau hier beginnen die Probleme. Firmenintern lassen sie sich zwar noch vergleichsweise einfach regeln. Dort geht es meist um Einfluss und Pfründe von Abteilungen, Divisionen oder Regionalorganisationen, wobei alle letztendlich an einem Strang ziehen und die Firmenleitung die administrative Macht besitzt, notwendige Strukturen und Prozesse zu etablieren. Diese Macht endet allerdings außerhalb der Firma: Bei unternehmensübergreifender Vernetzung stehen sich Partner mit divergierenden Interessen gegenüber. "Deswegen ist das Verknüpfen von Supply Chains immer auch eine Frage von Macht und Vertrauen, bei der schon in der Konzeptionsphase geklärt werden sollte, in welcher Weise die Beteiligten von den Gewinnen profitieren, sagt Schüller.

Aus eigener Erfahrung kennt der Mann von Lufthansa Systems ein technisch erfolgreiches Projekt, das zu erheblichen Einsparungen der Prozesskosten geführt hat und trotzdem zu scheitern drohte. Einer der Partner, ein Logistikdienstleister, wollte sich aus der unter großen Anstrengungen erreichten Lösung zurückzuziehen. Grund: Bei der in der Transportwirtschaft üblichen Abrechnung der Leistung nach der Anzahl von Lagerabrufen und Lagermenge sowie transportierter Tonnage fiel der Gewinn fast ausschließlich beim Kunden an. Mit der effektiveren Lagerhaltung hatte sich der Spediteur um einen erheblichen Teil seines Umsatzes gebracht.

Vertrauen entscheidet über Erfolg von SCM

Häufig sind SCM-Initiativen von Großunternehmen getrieben, die ihre - meist erheblich kleineren - Zulieferer in ihre Zulieferkette integrieren wollen. Im Idealfall profitieren beide Seiten davon. Nicht selten wird jedoch der kleiner Partner gegen seinen Willen in die digitale Lieferkette hineingezwungen. Spätestens dann stößt die firmenübergreifende Systemintegration auf weitere Hindernisse: Fehlt das Vertrauen, gibt es Vorbehalte gegen eine tiefgreifende Vernetzung, denn sie eröffnet zwangsweise Einsichten in Unternehmensbereiche, die bisher vor den Augen der Öffentlichkeit und Geschäftspartner verborgen waren. "Vertrauen und gerechte Verteilung von Lasten und Gewinnen sind eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von Supply Chains, betont deshalb Schüller.

Zudem haben Unternehmen meist mehr als einen Kunden und sind deshalb an vielen Supply-Chains beteiligt. "Auf jeder Stufe der Lieferkette gibt eine 1:n-Beziehung; das führt schnell zu einer Komplexität, die verhindert, dass das theoretische Potenzial von SCM voll ausgeschöpft werden kann, sagt Schüller, der über Supply-Chains promoviert hat. Projekte, die auf vollkommene Vernetzung aller Beteiligten der Wertschöpfungskette zielen - vom Rohstofflieferanten bis zum Kunden -, sind nach Ansicht aller Experten zum Scheitern verurteilt.

Gerade die ehrgeizigsten Vorhaben, die auf komplette Vernetzung über mehrere Stufen zielten, sind reihenweise gescheitert oder wurden auf ein realistisches Maß zurückgestutzt. Denn die SCM-Vorreiter konnten die selbst geweckten Erwartungen und allzu hochgesteckten Ziele oft auch in jahrelangen Projektlaufzeiten nicht erfüllen. Inzwischen ist das Dogma der totalen Lieferkettenvernetzung einem realistischeren Szenario gewichen: Einhellig raten alle Experten zu einem modularen Auf- und Ausbau der Lieferkette. Der richtige Ansatz seien kleine Schritte, die Schlüsselprodukte oder -lieferanten nacheinander in die Supply-Chain integrieren. Solche Projekte versprächen einen nachweisbaren RoI in absehbaren Zeiträumen.

Marktbeobachter sehen SCM denn auch wieder im Aufwind. Zwar werde es keine Steigerungsraten von mehr als 20 Prozent mehr geben, aber "nach dem Einbruch und der Ernüchterung konstatieren wir jetzt eine realistischere Herangehensweise und rechnen über die nächsten Jahre mit einem soliden einstelligen bis niedrigen zweistelligen Wachstum, sagt Analyst Glas. In SCM-Projekten steckt noch erhebliches Einsparpotenzial, da sind sich alle Experten einig. Mit Augenmaß und realistischen Zielen lässt es sich nach und nach erschließen.